Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig, 2017
Rezensionen:
Perlentaucher
ZEIT
Deutschlandfunk
"Langeweile ist die zurückeroberte Zeit. Du schaust um neun auf die Uhr, nach drei Stunden noch einmal - und es ist erst zehn nach neun." (S.58)
Gysi berichtet darüber, dass er im Arbeitszimmer von Schabowski gleichsam am "Katzentisch" ein neues Reisegesetz erarbeitet habe. Dies habe er Schabowski übergeben:
ZEIT
Deutschlandfunk
"Langeweile ist die zurückeroberte Zeit. Du schaust um neun auf die Uhr, nach drei Stunden noch einmal - und es ist erst zehn nach neun." (S.58)
Gysi berichtet darüber, dass er im Arbeitszimmer von Schabowski gleichsam am "Katzentisch" ein neues Reisegesetz erarbeitet habe. Dies habe er Schabowski übergeben:
"An jenem Sonntag kündigte er an, meinen Entwurf abends in Wandlitz Egon Krenz zu übergeben. Telefonisch würde er mich über die weitere Verwendung meines Textes informieren. Tatsächlich, der Anruf kam, spät abends, Schabowski teilte mir mit, Egon Krenz habe sich für meine Arbeit nicht interessiert, veröffentlicht würde also der ursprüngliche Entwurf. Da waren sie wieder, die langsam mahlenden Mühlen, zwischen deren Steinen man sich selber zerreiben kann. Die DDR hatte gewiss viele Gegner, aber einer der kräftigsten, der im Wege stand, war das System selber.
Schade, dass es meinen Entwurf nicht mehr gibt, zumindest mich würde interessieren, was ich damals so geschrieben habe.
Von jenem Sommer und Herbst 1989 kann ich mit Fug und Recht sagen: im Grunde geschah beinahe jeden Tag etwas Neues in meinem Leben. Mein Bewegungsraum war bisher hauptsächlich der Gerichtssaal, war das vertraute Gespräch im Kollegen- und Mandantenkreis, nun aber wurde aus einer begrenzten eine ziemlich große Öffentlichkeit." (S. 263) [Hervorhebungen von Fontanefan]
"Die Öffentlichkeit wurde nun mein unmittelbares Arbeitsfeld. Öffentlichkeit inspiriert mich, sie fordert mich, sie hat meine Tätigkeit als Anwalt im Laufe der Jahre um weitere drei Berufsleben erweitert: Politiker, Autor, Moderator. Ich genieße diese Vielfalt, sie bewahrt mich vor langweiliger Einseitigkeit, sie entspricht meinem Naturell. Aber wie gesagt, was mir alles bevorstehen würde, ahnte ich anfangs keineswegs." (S. 280)
Zur Rede von Rudolf Bahro vor dem SED Parteitag:
Er sagte zum Beispiel, auch die Sozialisten seien einer "welthistorischen Korruption" verfallen, einem "ökonomischen Materialismus und prinzipiellen Ökonomismus", den die SED offenbar weiter betreiben wollen. Er nannte das ein "Hase-und-Igel-Spiel, dieses Autorennen Trabi-Wirtschaft gegen Mercedes-Wirtschaft, bei dem unsere Wirtschaft auf der Strecke bleiben muss." Das war der Aufruf zur umfassenden Umkehr zu Abkehr vom kapitalistischen Wachstumswahn, und dann entwarf er das Bild einer wahrhaft grünen Landwirtschaft, sie sei zu "entindustrialisierten, entbetonieren, entspezialisieren. Das Dorf wird das Zusammengehörige wieder vereinen. Die Riesenflächen werden verschwinden, die schweren Maschinen auch. Es wird wieder Platz für Raine, Hecken, Büsche, Bäume, Teiche usw. sein." [...]
Die Rede ist für mich heute mehr denn je ein Beispiel für das schwierige Verhältnis von Pragmatismus und Utopie. Wann ist Zeit für den weit ausgreifenden Traum? Denn ein konsequenter Träumer war Rudolf Bahro. Er sprach auf jedem Parteitag das aus, was heute vielfach antikapitalistische Denken und Fühlen prägt. Er entwarf Zukunft, und das mit offener, radikaler Romantik, ohne Rücksicht auf die Zwänge der Realität, ohne Rücksicht darauf, was die Menschen gegenwärtig bewegte. (S. 285/86)
"Es waren Worte im Sinne dessen, was der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, einer der prägenden deutschen Publizisten, 2009 in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" fragte: Wieso bei der Mauereröffnung im Grenzgebiet nicht geschossen wurde. "Wenn die Antwort auch einkalkulieren muss, dass die Fußtruppen des Systems von der totalen Sinnlosigkeit staatlicher Gewalt durchdrungen waren, so bleibt als Faktum: weil Kranz es verboten hatte." Es sei noch immer nicht leicht die Geschichte so zu erzählen, dass dem letzten, wochenbefristeten SED-Chef Gerechtigkeit schon heute wiederführe. Aber, so Schirrmacher, solange diese Geschichte nicht erzählt sei, "haben wir die wundersamen, beglückend and Ereignisse vom 9. November 1989 nicht verstanden". (S.334/35)
"Tolerierung darf im Kräftemessen der politischen Kräfte nur eine Ausnahme sein, sie schwächt den eigenen Charakter, sie schleift das eigene Profil. Entweder man übernimmt Verantwortung in der Regierung oder man übernimmt Verantwortung in der Opposition. Der Mittelweg jedoch das Dazwischen, das Bindeglied gewissermaßen zwischen Macht und Widerpart – das ist keine wirkliche Option außerhalb vorübergehender Lösungsnöte.
In all den Jahren meiner politischen Tätigkeit habe ich es nie mit der reinen Lehre gehalten. Demokratie ist Beteiligung. Sich unter keinen Bedingungen mit den politischen Gegner gemein zu machen, das mag sehr stolz gelingen, es kann aber auch verhängnisvolle, unfruchtbare Abkehr von der Realität bedeuten.
Wer nicht kompromissfähig ist, ist nicht demokratiefähig – wer allerdings zu viele Kompromisse schließt, gibt seinen Charakter auf. Den richtigen Weg dazwischen zu finden, dies macht den schwierigen Weg politischer Kunst aus. "(S. 439)
"Demokratie baut darauf, dass sich Unanfechtbarkeiten auflösen: Den Weg der Grünen ins Kompatible muss man heftig kritisieren, aber man darf ihn auch sehen als eine Erfahrung mit dem Gesetz des Demokratischen: Man wird verführt, eigene Positionen anderen Kräften auszusetzen – und verändert sich so auch selber. Nie einzig zum Guten, aber auch nie nur zum Schlechten
Frieden machen bedeutet nicht, keine demokratisch–sozialistische Gesellschaft anzustreben. Es schließt aber ein, was gerade uns oft schwer fällt: Frieden zu machen mit dem Menschen, wie er ist. Es geht nicht darum, diesen ewig alten Menschen zu ändern, sondern die Welt so in Balance zu halten, dass der Mensch althergebracht sein darf. Und dies friedlich und frei, gerecht, demokratisch und solidarisch." (S.453/54)
"Ende des Jahres 1997 entschloss ich mich, in der Justizvollzugsanstalt Saarbrücken den früheren Spion der DDR Rainer Rupp aufzusuchen. Warum? Diejenigen, die in der Bundesrepublik Deutschland für die DDR spioniert hatten, besaßen überhaupt keine Ansprechpartner mehr. Der Staat, dem sie gedient hatten, war untergegangen. Verurteilt wurden sie in dem Staat, gegen den sie gehandelt hatten. [...]
Diese Frage traf den Anwalt in mir, und so fuhr ich nach Saarbrücken. Bei Rainer Rupp kam noch hinzu: Er war Spion bei der NATO, das Gericht musste ihm im Urteil zugutehalten, die Sorgen der Sowjetunion vor einem Atomangriff der NATO real abgebaut zu haben. Denn er überzeugte seine Auftraggeber davon, dass die NATO keinen solchen Plan verfolge. Ihm glaubten sie, den offiziellen Beteuerungen der NATO nicht. Er arbeitete also nachgewiesenermaßen friedensfördernd.
Die zurecht viel diskutierte und auch kritisierte Friedenspreisrede 1996 in der Frankfurter Paulskirche hatte Martin Walser mit einem unvermittelten – von vielen Medien geflissentlich unterschlagenen – Gesuch geschlossen: "Jetzt sage ich nur noch: Ach, verehrter Herr Bundespräsident, lassen Sie doch Herrn Rainer Rupp gehen. Um des lieben Friedens willen." " (S.468/69)
Gysi schlug dem Präsidenten von Serbien vor, sich "an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu wenden; er könne den Sicherheitsrat erklären, die Situation in diesem Krisen- und Kriegsgebiet nicht mehr zu beherrschen und deshalb für Kosovo um eine Ordnungsmacht der UNO zu bitten. Eine Bitte ohne Vorgabe von Soldatenzahl, Bewaffnung und der Befugnisse. Nur eines müsse gewährleistet sein: keine Soldaten aus jenen Ländern die gerade Krieg gegen sein Land führten. [...]"
Er "hörte sich meinen Vorschlag an, auch meine kritische Einschätzung der Menschenrechtslage im Kosovo. Das Gespräch dauerte lange, aber er wirkte unzugänglich. Er war leider davon überzeugt, dass die NATO scheitere, wenn sie gegen seinen Willen im Kosovo einmarschierte. [...]" (S.478/79)
Die Medien schossen sich auf Gysi ein: "Obwohl nicht wirklich zu bestreiten war, dass dieser Krieg auf dem Balkan völkerrechtswidrig geschah. Es hatte keinen Angriff von Jugoslawien gegen andere Staaten gegeben. Es existierte kein Beschluss des Sicherheitsrates der Organisation der Vereinten Nationen. Ein solcher Entscheid wäre am Veto Russlands geschaltet. Jelzin erklärte sogar, wenn das Völker recht bei Jugoslawien verletzt werde, gelte es auch nicht mehr für Russland. Auch der spätere russische Präsident Dmitri Medwedew wies auf die Konsequenzen hin, die Russland ziehen werde, wenn einige EU-Staaten den Kosovo als unabhängigen Staat an erkannten. Eine dieser Konsequenzen war die spätere völkerrechtswidrige Vereinnahmung der Krim durch Russland.
Der Westen hatte so eindeutig über den Staatssozialismus gesiegt, dass er sich zu der gefährlichen Arroganz verstieg, das Völkerrecht, diesen wichtigen, friedensfördernden Ost-West-Ausgleich seit 1945, nicht mehr zu benötigen. Es gab den Osten nicht mehr. Man ignorierte das Völker recht – indem man es ungerührt selber verletzte. Immerhin war zu merken, wie wirkungslos rechtliche Regeln sind, wenn Starke kein Gegengewicht spüren. Um den Völkerrechtsbruch zu rechtfertigen, griff man mehr und mehr zu moralischen Anschuldigungen. (Seite 478-480)
"Ich habe beim Schreiben dieses Buchs versucht, möglichst persönlich zu werden, ohne privat zu sein." (S.573)
Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig. Aufbau Verlag, Berlin 2017(Rezension in der ZEIT vom 7.12.17)
"Die Öffentlichkeit wurde nun mein unmittelbares Arbeitsfeld. Öffentlichkeit inspiriert mich, sie fordert mich, sie hat meine Tätigkeit als Anwalt im Laufe der Jahre um weitere drei Berufsleben erweitert: Politiker, Autor, Moderator. Ich genieße diese Vielfalt, sie bewahrt mich vor langweiliger Einseitigkeit, sie entspricht meinem Naturell. Aber wie gesagt, was mir alles bevorstehen würde, ahnte ich anfangs keineswegs." (S. 280)
Zur Rede von Rudolf Bahro vor dem SED Parteitag:
Er sagte zum Beispiel, auch die Sozialisten seien einer "welthistorischen Korruption" verfallen, einem "ökonomischen Materialismus und prinzipiellen Ökonomismus", den die SED offenbar weiter betreiben wollen. Er nannte das ein "Hase-und-Igel-Spiel, dieses Autorennen Trabi-Wirtschaft gegen Mercedes-Wirtschaft, bei dem unsere Wirtschaft auf der Strecke bleiben muss." Das war der Aufruf zur umfassenden Umkehr zu Abkehr vom kapitalistischen Wachstumswahn, und dann entwarf er das Bild einer wahrhaft grünen Landwirtschaft, sie sei zu "entindustrialisierten, entbetonieren, entspezialisieren. Das Dorf wird das Zusammengehörige wieder vereinen. Die Riesenflächen werden verschwinden, die schweren Maschinen auch. Es wird wieder Platz für Raine, Hecken, Büsche, Bäume, Teiche usw. sein." [...]
Die Rede ist für mich heute mehr denn je ein Beispiel für das schwierige Verhältnis von Pragmatismus und Utopie. Wann ist Zeit für den weit ausgreifenden Traum? Denn ein konsequenter Träumer war Rudolf Bahro. Er sprach auf jedem Parteitag das aus, was heute vielfach antikapitalistische Denken und Fühlen prägt. Er entwarf Zukunft, und das mit offener, radikaler Romantik, ohne Rücksicht auf die Zwänge der Realität, ohne Rücksicht darauf, was die Menschen gegenwärtig bewegte. (S. 285/86)
"Es waren Worte im Sinne dessen, was der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, einer der prägenden deutschen Publizisten, 2009 in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" fragte: Wieso bei der Mauereröffnung im Grenzgebiet nicht geschossen wurde. "Wenn die Antwort auch einkalkulieren muss, dass die Fußtruppen des Systems von der totalen Sinnlosigkeit staatlicher Gewalt durchdrungen waren, so bleibt als Faktum: weil Kranz es verboten hatte." Es sei noch immer nicht leicht die Geschichte so zu erzählen, dass dem letzten, wochenbefristeten SED-Chef Gerechtigkeit schon heute wiederführe. Aber, so Schirrmacher, solange diese Geschichte nicht erzählt sei, "haben wir die wundersamen, beglückend and Ereignisse vom 9. November 1989 nicht verstanden". (S.334/35)
"Tolerierung darf im Kräftemessen der politischen Kräfte nur eine Ausnahme sein, sie schwächt den eigenen Charakter, sie schleift das eigene Profil. Entweder man übernimmt Verantwortung in der Regierung oder man übernimmt Verantwortung in der Opposition. Der Mittelweg jedoch das Dazwischen, das Bindeglied gewissermaßen zwischen Macht und Widerpart – das ist keine wirkliche Option außerhalb vorübergehender Lösungsnöte.
In all den Jahren meiner politischen Tätigkeit habe ich es nie mit der reinen Lehre gehalten. Demokratie ist Beteiligung. Sich unter keinen Bedingungen mit den politischen Gegner gemein zu machen, das mag sehr stolz gelingen, es kann aber auch verhängnisvolle, unfruchtbare Abkehr von der Realität bedeuten.
Wer nicht kompromissfähig ist, ist nicht demokratiefähig – wer allerdings zu viele Kompromisse schließt, gibt seinen Charakter auf. Den richtigen Weg dazwischen zu finden, dies macht den schwierigen Weg politischer Kunst aus. "(S. 439)
"Demokratie baut darauf, dass sich Unanfechtbarkeiten auflösen: Den Weg der Grünen ins Kompatible muss man heftig kritisieren, aber man darf ihn auch sehen als eine Erfahrung mit dem Gesetz des Demokratischen: Man wird verführt, eigene Positionen anderen Kräften auszusetzen – und verändert sich so auch selber. Nie einzig zum Guten, aber auch nie nur zum Schlechten
Frieden machen bedeutet nicht, keine demokratisch–sozialistische Gesellschaft anzustreben. Es schließt aber ein, was gerade uns oft schwer fällt: Frieden zu machen mit dem Menschen, wie er ist. Es geht nicht darum, diesen ewig alten Menschen zu ändern, sondern die Welt so in Balance zu halten, dass der Mensch althergebracht sein darf. Und dies friedlich und frei, gerecht, demokratisch und solidarisch." (S.453/54)
"Ende des Jahres 1997 entschloss ich mich, in der Justizvollzugsanstalt Saarbrücken den früheren Spion der DDR Rainer Rupp aufzusuchen. Warum? Diejenigen, die in der Bundesrepublik Deutschland für die DDR spioniert hatten, besaßen überhaupt keine Ansprechpartner mehr. Der Staat, dem sie gedient hatten, war untergegangen. Verurteilt wurden sie in dem Staat, gegen den sie gehandelt hatten. [...]
Diese Frage traf den Anwalt in mir, und so fuhr ich nach Saarbrücken. Bei Rainer Rupp kam noch hinzu: Er war Spion bei der NATO, das Gericht musste ihm im Urteil zugutehalten, die Sorgen der Sowjetunion vor einem Atomangriff der NATO real abgebaut zu haben. Denn er überzeugte seine Auftraggeber davon, dass die NATO keinen solchen Plan verfolge. Ihm glaubten sie, den offiziellen Beteuerungen der NATO nicht. Er arbeitete also nachgewiesenermaßen friedensfördernd.
Die zurecht viel diskutierte und auch kritisierte Friedenspreisrede 1996 in der Frankfurter Paulskirche hatte Martin Walser mit einem unvermittelten – von vielen Medien geflissentlich unterschlagenen – Gesuch geschlossen: "Jetzt sage ich nur noch: Ach, verehrter Herr Bundespräsident, lassen Sie doch Herrn Rainer Rupp gehen. Um des lieben Friedens willen." " (S.468/69)
Gysi schlug dem Präsidenten von Serbien vor, sich "an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu wenden; er könne den Sicherheitsrat erklären, die Situation in diesem Krisen- und Kriegsgebiet nicht mehr zu beherrschen und deshalb für Kosovo um eine Ordnungsmacht der UNO zu bitten. Eine Bitte ohne Vorgabe von Soldatenzahl, Bewaffnung und der Befugnisse. Nur eines müsse gewährleistet sein: keine Soldaten aus jenen Ländern die gerade Krieg gegen sein Land führten. [...]"
Er "hörte sich meinen Vorschlag an, auch meine kritische Einschätzung der Menschenrechtslage im Kosovo. Das Gespräch dauerte lange, aber er wirkte unzugänglich. Er war leider davon überzeugt, dass die NATO scheitere, wenn sie gegen seinen Willen im Kosovo einmarschierte. [...]" (S.478/79)
Die Medien schossen sich auf Gysi ein: "Obwohl nicht wirklich zu bestreiten war, dass dieser Krieg auf dem Balkan völkerrechtswidrig geschah. Es hatte keinen Angriff von Jugoslawien gegen andere Staaten gegeben. Es existierte kein Beschluss des Sicherheitsrates der Organisation der Vereinten Nationen. Ein solcher Entscheid wäre am Veto Russlands geschaltet. Jelzin erklärte sogar, wenn das Völker recht bei Jugoslawien verletzt werde, gelte es auch nicht mehr für Russland. Auch der spätere russische Präsident Dmitri Medwedew wies auf die Konsequenzen hin, die Russland ziehen werde, wenn einige EU-Staaten den Kosovo als unabhängigen Staat an erkannten. Eine dieser Konsequenzen war die spätere völkerrechtswidrige Vereinnahmung der Krim durch Russland.
Der Westen hatte so eindeutig über den Staatssozialismus gesiegt, dass er sich zu der gefährlichen Arroganz verstieg, das Völkerrecht, diesen wichtigen, friedensfördernden Ost-West-Ausgleich seit 1945, nicht mehr zu benötigen. Es gab den Osten nicht mehr. Man ignorierte das Völker recht – indem man es ungerührt selber verletzte. Immerhin war zu merken, wie wirkungslos rechtliche Regeln sind, wenn Starke kein Gegengewicht spüren. Um den Völkerrechtsbruch zu rechtfertigen, griff man mehr und mehr zu moralischen Anschuldigungen. (Seite 478-480)
"Ich habe beim Schreiben dieses Buchs versucht, möglichst persönlich zu werden, ohne privat zu sein." (S.573)
Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig. Aufbau Verlag, Berlin 2017(Rezension in der ZEIT vom 7.12.17)
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