17 Januar 2018

Gerhart Hauptmann: Der Biberpelz



Ein Jahr nach dem »Collegen Crampton«, im November 1892, brachte Gerhart Hauptmann ebenfalls unerwartet eine zweite Komödie aus Schreiberhau nach Berlin und las sie den Freunden vor. Es war eine »Diebskomödie« und wurde nach dem Gegenstand des Diebstahls » Der Biberpelz« genannt. Schon uns ersten Hörern fiel eine technische Ähnlichkeit mit dem Meisterlustspiele Heinrichs v. Kleist, dem »Zerbrochnen Krug«, auf. Hier wie dort ist nächtlicher Weile in einem Dorf eine lichtscheue Missetat begangen. Die Frage nach dem Täter gelangt an die Dorfjustiz. Wer zerbrach den Krug? Wer stahl den Pelz? Dort eilt die Besitzerin des zerbrochnen Kruges zum Dorfrichter, hier eilt der Besitzer des gestohlnen Pelzes zum Amtsvorsteher. [...]
Beide Kläger, ansässig und angesehen im Dorf, finden an der Seite des Untersuchungsrichters eine dürftige, unterwürfige Schreiberseele, die mit ihrem subalternen Strebersinn bei Kleist deutlicher hervortritt als bei Hauptmann, und einen Büttel, der wiederum von Hauptmann als dienstunfähiger, sanfter Süffel genauer charakterisiert wird. Wichtiger aber als Schreiber und Büttel ist in beiden Fällen jener Adamssohn selbst, der von Amtswegen die Untersuchung einzuleiten und den Verbrecher zu entdecken hat. Daß diese Untersuchung und diese Entdeckung hier wie dort mit den größten Schwierigkeiten verbunden ist, daß immer wieder, hart vor dem Ertappen, in die Kreuz und Quer abgeirrt wird, und über jeden klarern Einblick in das kriminelle Rätsel gleich wieder Nebel fallen, daß sich die Sache ins Dunkel und in die Länge zieht, ist hier wie dort Schuld des Untersuchungsrichters.
Weder der altholländische Dorfrichter Adam noch der neupreußische Amtsvorsteher v. Wehrhahn haben Neigung, diesen Prozeß aufzuhellen. Beiden ist gerade dieser Prozeß fatal. Der Amtsvorsteher ist ein persönlicher und politischer Gegner des Bestohlenen; der Dorfrichter ist noch interessierter an der nächtlichen Missetat; denn der, der den Krug zerbrach, ist er selbst. Die Hauptperson der Komödie ist bei Kleist enger und bänger mit dem Vorgang verknüpft als bei Hauptmann. Für den Dorfrichter hängt am zerbrochnen Krug Existenz und Ehre. Dem Amtsvorsteher hingegen kann der Biberpelz des Rentiers Krüger ruhig gestohlen bleiben; sein persönliches Gewissen wird nicht betroffen, seine Ehre steht nicht auf dem Spiel. Und nur darin ist er dem Dorfrichter Adam ähnlich, daß sich beide als unfähig erweisen, die Prozeßverhandlung zu führen. Sie richten, der Dorfrichter wissentlich, der Amtsvorsteher unwissentlich, in kürzester Zeit eine solche Verwirrung an, daß es in der Amtsstube einen Heidenlärm gibt, bei dem Beamte und Zeugen hart aneinander geraten. Hier wie dort sind Zeugen aufgetreten. Und wenn der Dorfrichter aus triftigem Grunde diese Zeugen durch Anschnauzen und Dreinreden ins Bockshorn jagt, so verfährt auch der Amtsvorsteher nicht viel anders, als hätte er selbst den Pelz gestohlen. Ohne Nebenabsichten, ohne Ansehen der Person sitzt auch er nicht zu Gericht. Der Dorfrichter Adam hatte seine eigene Nichtswürdigkeit zu vertuschen; denn statt des Krugs war er ausgegangen, eine Mädchenehre zu zerbrechen, und aus dem Lustspiel hätte leicht eine Tragödie werden können. Harmloser an Gemüt, ist der Amtsvorsteher von der Oberspree in seinem Treiben nicht viel ungefährlicher als der Dorfrichter. Er will den Herrn spielen und Karriere machen. Dazu mißbraucht er sein Amt. Wer den Pelz gestohlen hat, kümmert ihn nicht; aber wer in seinem Amtsbezirk freigeistige Bücher kauft und demokratische Schriften liest oder gar verbreitet, wer bei Kaisers Geburtstag nicht illuminiert, welcher Gastwirt seinen Saal den fortschrittlichen Gesinnungsgenossen des bestohlenen Rentiers Krüger vermietet [...]
Dieser moderne Strebertypus ist an sich weder tragisch noch komisch, sondern gemeinschädlich; eine Dichtung, die ihn rein als Typus hinstellen wollte, unterschiede sich nicht von guten polemischen Leitartikeln oder Flugschriften. Zu seiner künstlerischen Bewertung muß der Typus in eine Individualität gesteckt werden. Wie Kleist sinnreich andeutet, daß nicht nur in Huisum, sondern auch in Holla und Hussahe »lüderliche Hunde« sitzen, die »Recht so jetzt, jetzo so erteilen«, so wird das von Hauptmann aufs Korn genommene Strebertum der Beamten außer an der Oberspree auch sonst im Lande gefunden. Aber es gibt je nach individueller Veranlagung Schlauköpfe und Dummköpfe unter den Strebern. Hauptmann hat sich den Spaß gemacht, einen Dummkopf aufzuzeichnen.
Er hat die Komödie der streberhaften Dummheit gedichtet. Ihr Held entwickelt eine wahrhaft bezaubernde Borniertheit. Wenn sich der Charakter des Amtsvorstehers langsamer auswickelte, würde es klarer, daß der Held der Komödie weniger der Pelzdieb ist, als der, der dieses Pelzdiebes habhaft werden soll. Die Diebsgeschichte vertritt das, was bei Molière, Holberg und andern Komikern der Tradition die Intrige war. Wie dort die Intrige dazu diente, den Heuchler als Heuchler, den Geizhals als Geizhals ad absurdum zu führen, so dient hier die Diebsgeschichte dazu, den streberhaften Dummkopf als blitzdummen Streber zu blamieren. Und wie könnte seine Blamage größer sein als da, wo ihn der Dichter entläßt, wo Wehrhahn, im traulichen Beisammen zwischen Hehler und Stehlerin stehend, beide miteinander in aller gesellschaftlichen Form bekannt macht, und wo er die Diebin nicht nur für eine fleißige Waschfrau, was sie ist, sondern auch für eine »ehrliche Haut« erklärt.

Nach der Größe dieses innerlichen Schlußeffekts, was schiert uns da noch der Biberpelz und sein Geschick? Wer ihn stahl, wissen wir. Daß man dem Dieb auf der Spur ist, wissen wir auch, und ganz wohl in der eigenen »ehrlichen« Haut wird sich weder der Hehler noch die Stehlerin fühlen, trotz der Menschenkenntnis des tiefblickenden Herrn v. Wehrhahn. Alles Psychologische ist mithin klar. Was übrigbleibt, ist Sache des Gerichtsreporters, nicht des Dichters. Wenn aber das gesamte Publikum der ersten Berliner Aufführung über das unerwartete Ende verblüfft war und die Gescheiten erst beim Warten auf die Garderobe über den Schlußwitz lachten, so ist der Dichter nicht ganz schuldlos. Schuld daran ist ein Vorzug und ein Mangel seiner Arbeit. Der Vorzug liegt in der Charakteristik, der Mangel in der Komposition. Der Vorzug liegt in der prachtvollen Gestalt der Diebin, der fleißigen Waschfrau Mutter Wolff, einer Person, mit der man gern zusammen ist, einer dichterischen Saft- und Kraftschöpfung, die den schematischen Rahmen der Traditionskomödie fast ebenso sprengt wie Shakespeares Shylock. Der Mangel liegt darin, daß man durch diese prachtvolle Gestalt in seinen verschiedenen Interessen geteilt wird und zuletzt noch hinter der Blamage des Amtsvorstehers sie, die besagte Wolffin mit ihren Schicksalen, sehen will. Hinter der boshaften Ironie, mit der der Dummkopf im Amte belassen wird, verlangt man noch vom Dichter ein moralisches Endurteil über Mama Wolff. Sie war von je ein Bösewicht, drum treff sie, wenn schon nicht Wehrhahns, so doch Gottes Strafgericht! 
(Paul Schlenther: Gerhart Hauptmann, 1912)

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