"[...] Noch immer ist das deutsche Theater ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ein Tummelplatz der verwegensten Experimente, von dem völlig banausischen Streben beherrscht, durch Neues und Unerhörtes dem Sensationsverlangen einer urteilslosen Menge entgegenzukommen, die statt dichterischer Genüsse im Theater nur sinnliche Aufregung, Befriedigung einer rohen Schaulust und Zerstreuung nach den Geschäften des Tages sucht. So ist es gekommen, daß es auf das Wort des Dichters im Theater immer weniger ankommt, daß reich und bunt ausgestattete Pantomimen und Schattenspiele großen Zulauf haben und in neuester Zeit die Kinematographentheater immer massenhafter die eigentlichen Bühnen verdrängen, deren Repertoire sogar sie sich aneignen, ohne daß bei dieser stummen Aktion das aus den niedersten Schichten bestehende Publikum so wie die sogenannten Gebildeten nur den geringsten Mangel empfänden. Was aber die noch bestehenden rezitierenden Theater betrifft, so ist es bei der ungeheuer wachsenden Konkurrenz zumal in der Reichshauptstadt, deren Vorherrschaft in der Bühnenwelt des Deutschen Reichs immer unbestrittener und unheilvoller wird, kein Wunder, daß die Bühnenleiter mit allen Mitteln in der Befriedigung dieser Bedürfnisse des Publikums sich zu überbieten suchen, worin diejenigen, die für neue Stücke sorgen, sie bereitwillig unterstützen. Im Gebiet des Sittlichen ist eine so schrankenlose Freiheit eingerissen, daß sogar der in der Jugend erwachende Geschlechtstrieb als »Frühlings Erwachen« in einzelnen Szenen, die durch keinerlei dramatische Handlung verbunden sind, auf die Bühne gebracht werden konnte – ein Äußerstes an Spekulation auf die niederen Triebe der Menge, zu dem selbst die zügellosesten Dramatiker unserer romanischen Nachbarn sich nie verirrt haben. Und dies unter dem Beifall eines Publikums, das sich aus sogenannten Gebildeten zusammensetzt und für »Kulturträger« gehalten sein will. Auch in anderer Weise geschieht manches Bedenkliche. Gewiß ist die Wiederbelebung langbegrabener wertvoller Dramen in hohem Grade verdienstlich. Doch bleibt es gefährlich, das vollständige Lebenswerk eines Dramatikers in großen Zyklen vorzuführen, da auch völlig verfehlte, niemals lebendig gewordene Sachen darunter zu sein pflegen, die man ruhig ihrer Verschollenheit überlassen sollte, dies alles nur, um auch dem Bildungsphilister Gelegenheit zu geben, mitsprechen zu können, wenn von gewissen sonst nur den Eingeweihten bekannten Werken die Rede ist. Damit es aber der bildungseifrigen Menge nicht zu beschwerlich werde, an dem völlig Fremden Interesse zu gewinnen, wird die Darstellung mit der ausgesuchtesten szenischen Kunst verblüffender Effekte zu einer Wirkung gebracht, die freilich mit dem, was der Phantasie des alten Dichters vorschwebte, nicht das mindeste mehr zu tun hat. Statt der tragischen Erschütterung durch die Macht echter Dichterkraft wird der Zuschauer mit sinnlichem Gaukelwerk überrumpelt und die Masse durch Massenwirkungen darüber getäuscht, daß sie unter dem Namen einer alten Kunst nur ein modernes Regiekunststück kennen gelernt hat. Das Äußerste hierin ist in den Aufführungen der großen griechischen Tragödien in Zirkustheatern geschehen, die man unter dem Namen von »Volksschauspielen« (sic) dem heutigen Publikum zum besten gegeben hat. Difficile est satiram non scribere.
Hin und wieder freilich erscheint auch, zumal in der letzten Zeit, ein Stück, das von einem feinen, echt dichterischen Geist beseelt ist und im Gedränge der lauten und lärmenden Konkurrenz bescheiden seinen Platz zu gewinnen sucht. Daß es ihn findet und zu behaupten vermag, ist ein erfreuliches Zeichen für den unverlöschbaren Trieb des deutschen Volkes nach dem, was man früher »Poesie« zu nennen pflegte, ein Wort, das heutzutage nicht mehr im Kurs ist, ein Trieb, der noch immer bei den Ausführungen klassischer Stücke zu seinem Rechte kommt, wie die ausverkauften Häuser bei solchen unvergänglichen Werken beweisen.
Und auch an Bühnenleitern fehlt es nicht, die die Verantwortlichkeit und Verwilderung unserer Theaterzustände beklagen und nach Mitteln ausspähen, ihr ein Ende zu machen. Dies zeigt sich unter anderem in mancherlei Bestrebungen, eine sogenannte Volksbühne zu schaffen, auf der unsere klassischen Dramen und unter den neueren nur sittlich gesunde Werke der Menge dargeboten werden sollen. Auch die Freilichttheater, die allerdings nur auf einen beschränkten Spielplan angewiesen waren, sollen dem gleichen Zwecke dienen. Ob es gelingen möchte, durch solche Bestrebungen unserem deutschen Volk das einzuflößen, was ihm bitter not tut: ein starkes nationales Gemeinbewußtsein, ein stolzes Selbstgefühl gegenüber den nachbarlichen Kulturvölkern, die es nicht bloß im politischen Leben, sondern auch auf ihrem Theater nicht daran fehlen lassen, wird hoffentlich nicht allzulange ein frommer Wunsch bleiben. [...]"
(Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, 10. Bühnenschriftsteller und Theater)
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