Ein Fest auf Haderslevhuus (1885)
Im vierzehnten Jahrhundert in Nordschleswig war es, als dort im tiefen Buchenwalde der Ritter Claus Lembeck auf seiner Höhenfeste Dorning saß. Sie war ihm nach dem Tode seines jütischen Weibes zugefallen; er hatte sein Wappen, einen Geierkopf in rotem Felde, über die Einfahrt des Außentores nageln lassen und zog Wall und Gräben doppelt stark um sich herum. Denn Waldemar Atterdag, der Dänenkönig, trug heimlichen Groll gegen den gewaltigen Mann, der einst aus seinem grimmigsten Feinde sein dienstbeflissener Kanzler geworden war, dann aber wiederum ihm abgesagt und sich zu den Grafen von Holstein, den Schauenburgern, und zum Herzog Waldemar von Schleswig gestellt hatte [...]
er Schwarze Tod war gekommen, der die Welt leerfraß und gegen den nichts half als sterben.
In selbiger Nacht noch blies er den jüngsten Knaben an, und sein Eingeweide brannte, seine Lippen wurden wie Ruß, und am dritten Tage war statt des schönen Knaben ein schreckhafter blauschwarzer Leichnam auf dem in Todesqual zerwühlten Bette; dann griff er nach der schönen ältesten Tochter, dann nach den beiden andern Söhnen; und sie starben alle, alle. Hallen und Gemächer dufteten Tag für Tag nach frischem Gras und Thymian, das gegen die böse Pestluft überall gestreut wurde; aber die Mutter Erde und ihre Kräuter hatten keine Heilkraft mehr; es war, als ob selbst Gott der Herr die Macht verloren habe auf seiner Erde.
Ein paar Monde schien dann das Sterben im Schlosse aufzuhalten; da eines Tages trat die Schloßfrau zu ihrem Eheherrn in sein Gemach, gekrümmten Leibes, mit entstelltem Antlitz. »Benedikte!« schrie er.
»Ja, Hans, ich muß nun auch von dir!«
»Du nicht! Du nicht, Benedikte!« Und er streckte seine Arme nach ihr aus. »Herr Gott, wo bist du? Herr, schütze deine Menschen!«
Aber bevor er sie berührte, war sie mit ihrer letzten Kraft entflohen. »Ade, du mein Herzenstrauter! O süße Dagmar!« So rief sie noch zurück.
Er hatte ihr folgen wollen, aber ein bewußtloser Schrecken hatte ihn festgehalten; dann ging er taumelnd nach ihrem Ehegemach; aber es war leer, und seiner Sinne unmächtig, sank er auf das große Bett.
Die Schaffnerin, die noch lebte, fand ihn am andern Tage; aber sie erkannte, daß das große Sterben ihn nicht ergriffen habe.
Während sie ihn pflegte, war sein Weib verschwunden, und Dagmar, um die sich niemand kümmerte, das blauschwarze Haar wirr um ihr blaß Gesichtchen, lief, nach der Mutter weinend, durch Hall' und Gänge. Da wollte eine der Dirnen ein Gewandstück aus einer entlegenen Kammer holen; aber schreiend stürzte sie zurück, denn auf einem alten dort stehenden Bette lag ein schwarzer Leichnam, dem die Abendsonne das Gesicht beschien. Da die andern Dirnen hinzukamen, sahen sie, es sei die Schloßfrau, die einsam hier gestorben war.
Als der Ritter aus seinem Wirrsal aufwachte, war sein Weib nicht mehr im Hause. Die Kinder lagen drunten auf dem nahen Kirchhof; der aber hatte lang schon keine Erde mehr für neue Tote; seitwärts vom Walde war eine Niederung, dort hatte man mit Pfählen ein Viereck ausgeschlagen, wohin nun alle gebracht wurden, die der Tod erschlug. Draußen auf dem »Pestacker« war auch des Ritters Weib vergraben worden; so erzählte man ihm jetzt.
Er erwiderte kein Wort auf diese Kunde; aber er erhob sich bald von seiner Bettstatt. Den Gürtel lose um den grauen Leibrock geschlungen, die Otterkappe in die Augen gedrückt, schritt er langsam durch alle Hallen und sich kreuzenden Gänge des ganzen Baues, treppauf und -ab; mitunter riß er eine Tür in ihren schweren Angeln auf, er stand wie hintersinnig auf der Schwelle und blickte in das düstere Gemach; aber die Zellen waren alle leer und totenstill; wo die Älteste geschlafen hatte, lag in der Fensterbrüstung noch das verhungerte Rotkehlchen, das der kleine Axel ihr einst gefangen und jubelnd heimgebracht hatte; niemand hatte die Zellen öffnen dürfen, seitdem die jugendliche Gestalten als furchtbare Leichen dort herausgehoben waren.
Das Leben und die Arbeit lag danieder, alle Ordnung und Geschäft war aufgelöst; aber jeden Tag, morgens und wenn die Sonne niedersank, machte der Ritter seine düsteren Gänge durch die Burg; er rechnete nicht mit sich, weshalb; es war auch Sonstiges nicht für ihn zu tun. Ein paarmal war Dagmar ihm leise nachgeschritten, aber er sah nicht rückwärts; auch als sie in Angst und Sehnsucht stärker auftrat, schlossen nur seine Hände auf dem Rücken sich fester ineinander, und ohne sonstige Bewegung schritt er weiter. Da blieb sie stehen, legte die Finger auf ihre zitternden Lippen und verschluckte ein paar Tränen, die ihr aus den Augen fielen; dann kehrte sie um und suchte bei der alten Schaffnerin ihren stillen Unterschlupf.
Nur einmal, da bei seinem Vorübergehen das blasse Gesichtlein ihn so stumm und flehend angesehen hatte, ging er auf seinem Totengang nicht weiter. Er gedachte plötzlich einer Base seines toten Weibes, die einst in ihrer Jugend am Thüringer Hofe auf kurze Zeit zu den gelehrten Frauen gezählt worden sei; denn sie verstand zu lesen und zu schreiben, hatte sogar den Virgilium studiert; auch Paramentenstickerei und derlei Künste hatte sie verstanden. Sie war nun alt und lebte in einer kleinen Stadt von einem Rentlein, welches ihr die Sippe gab. [...]
Diese Frau vertritt dann Mutters Statt an Dagmar.
Dagmar [...] als sie auf den Platz hinaustrat, wo die Würzebeete waren und wo das volle Mondlicht ihr entgegenquoll, da hörte sie nur noch die Nachtigall, die drüben am Waldesrande schlug. Der Atem ging heftig durch ihre offenen Lippen; sie setzte sich auf die Bank und blickte vor sich auf den Wipfel der hohen Pappel, deren Blätter im Nachthauch sich bewegten. Doch aus den beklommenen Atemzügen wurden Worte: »Was wolltest du hier, Dagmar?« sprach sie leise. »Die Nachtigall?« – Sie horchte eine Weile, und der Vogel sang, als müsse er einen Preis ersingen – aber Dagmar schüttelte das Köpfchen, und ihre Lippen flüsterten, indem sie die Hände vor die Augen schlug: »O heilige Jungfrau, wenn du mir hold sein wolltest!«
Da rauschten neben ihr die dichten Pappelzweige; und ehe sie es fassen konnte, schwang ein Mann sich auf die Mauer und hinab in den Garten. Ein Schrei rang sich aus ihrem Munde, aber sie erstickte ihn; denn schon lag er ihr zu Füßen, jung und schön, und sah mit flehenden Augen zu ihr auf: »Seid milde, Fräulein! Oh, wie hold seid Ihr! Ich sah noch nimmer Euresgleichen!«
Sie sagte nichts; mit kindisch weit geöffneten Augen blickte sie ihn an, erschreckt und doch entzückt, als wollte sie die Worte ihm von den Lippen lesen. Doch das Winseln der Dogge scholl vom Hof herüber durch die Büsche, und des Ritters Hand fuhr jäh nach einem Jagdstahl, der an seinem Gürtel hing.
Aber sie schüttelte nur leise mit dem Köpfchen, da ließ er die halb gezogene Waffe wieder fallen. »Wer seid Ihr?« frug er. »Wollet Ihr mir's sagen?«
Und sie antwortete: »Ich bin Dagmar, des Hauses Tochter; und wer seid Ihr?«
Er erschrak und wollte schon eine Mär erzählen, wie er zu andern Zeiten wohl getan; doch da er in dieses Kinderantlitz blickte, so konnte er es nicht; er sagte nur: »Ich, süße Fraue, bin ein selig unseliger Mann, seitdem ich Euch gesehen habe!«
»Aber, Herre, das ist nicht rechte Antwort!«
Da hob er die Hände bittend zu ihr auf: »Verlanget nicht Weiteres; es wäre auf Nimmerwiederkehr!«
»So redet nicht!« rief sie hastig; aber ein Zug der Angst flog dennoch über das zarte Antlitz, und sie setzte bei: »Nur, um der Gottesmutter Leiden, schweigt nicht zu lang; es täte mir weg!« Und wie durch körperlichen Schmerz getrieben, drückte sie die Hand auf ihre linke Brust. Da er sorgenvoll mit den Augen folgte, sprach sie: »Ihr wisset, das große Sterben, als das ins Land kam... aber« – unterbrach sie sich – »wo waret Ihr denn damals?«
»In Paris«, sagte er leise, als wolle er den Laut ihrer Stimme nicht verlieren; »in Prag dann später, auch dort am Königshof.«
Sie sah ihm in sein schönes Antlitz, auf den gestickten Samtrock und wie die goldenen Knöpfe im Mondlicht blitzten. »So wisset Ihr nichts von uns – o herzliebe Mutter! Süße Schwester Heilwig!« rief sie; »o meine Brüder – alle sind gestorben!« Plötzlich ergriff sie seine Hand: »Kommt!« rief sie und zog ihn mit sich auf eine kleine Höhe, von wo man seitwärts bei dem Walde in das flache Land hinaussehen konnte. Er glaubte eine Niederung zu gewahren und einzelne Pfähle, durch dunstigen Nebel schimmernd, der dort umzog. »Dort!« sprach sie kaum hörbar und zeigte mit ausgestreckter Hand dahin. [...]
Da flog ein selig Lächeln über das blasse Antlitz: »Rolf!« hauchte sie; und noch einmal wieder: »Rolf!«
»Weiter!« rief er hastig. »Wie weiter? Der Name läuft auf allen Gassen!«
Aber sie vermochte nur leis den Kopf zu wiegen, als sei das alles, was sie wisse.
»Rolf? Wer ist Rolf?« frug sich der Ritter. Zorn gegen den, der seinem Kinde das angetan hatte, brauste betäubend in ihm auf; aber er durfte jetzt nicht schelten, was sie liebte: ihr Leben hing daran. Des Schreibers Gaspard Nachricht tauchte in ihm auf: ein Junker, ein ritterlicher Mann doch mußte es gewesen sein! Da schlug ein furchtbarer Gedanke ihm durchs Hirn: »Dagmar«, sprach er bebend, »besinne dich! Nicht wahr, er trug einen Rock, einen Gürtel mit Stickereien? War kein Wappentier, zahm oder Gewild, darauf gestickt?«
Er starrte lange vergebens auf ihr Antlitz; dann bewegten sich ihre Augen unter den geschlossenen Lidern: »Ein Geier!« sprach sie leise.
Wie von jähem Stoß getroffen, fuhr der Ritter auf: »Rolf Lembeck!« schrie er. »Verfluchter! Das gilt dir deinen Tod!«
Das Kind aber schlang die Arme fest um seinen Hals: »Vater! Mein Vater!« schrie sie. »Oh, ich sterbe!«
Der Augenblick, den des Königs Arzt vorgesehen hatte, schien gekommen. Zwiefach gespitzt hatte der Pfeil ihr Herz getroffen; sie sprach nicht mehr; erbarmungslose Gichter warfen den jungen Körper in ihres Vaters Armen hin und wider. [...]
So ritten sie über die Brücke durch die Torfahrt in den innern Hof, wo der gewaltige Bau vor ihnen aufstieg; aus seinen vielen kleinen Fensterhöhlen schoß eine Flut von Kerzenstrahlen auf sie zu; nur links am Flügel ragte der stumpfe Turm lichtlos in die Sternennacht. Ihren geblendeten Augen war der Hof bis an die Mauern voll von Menschen; aber ein hochzeitliches Treiben schien es nicht; es war, als ob sie nur die Köpfe wandten und leise zueinander raunten.
Als die Reiter von ihren Rossen gesprungen und Diener vorgetreten waren, die ihnen die Tiere fortführten, stand ein großer Mann mit todblassem Antlitz unter grauem Haupthaar vor dem Ritter; zwei Diener mit Windlichtern, deren Flammen im Nachtwind wehten, waren ihm zur Seite. Da die Herren sich im Fackelscheine sahen, stutzten sie einen Augenblick, ein jeder über des andern schwarze Tracht; dann sprach der graue Mann: »Nehmt Dank, Herr Ritter, von mir und für mein Kind! Ihr durftet hier heut nicht fehlen!«
»So dacht ich auch« erwiderte der andre beklommen. »Doch wollet mich nun führen, Herr Schloßhauptmann, auf daß ich Wunsch und Ehrerbietung der Braut zu Füßen lege!«
Der alte Ritter, der seinen Gast mit starrem Aug gemustert hatte, neigte das Haupt und faßte dessen Hand; die Diener mit den Lichtern schritten ihnen voran, durch die schweigenden Menschen dem Treppenturm im Hochbau zu. Als sie hineintraten, blickte Gaspard, der mit dem Junker folgte, durch eine offene Tür, die seitwärts in die untre Halle ging; es brannten viele Kerzen dort, sonst war es leer; nur mitten auf den Fliesen schlief ein großer Hund.
Aber der Hausherr führte sie die Wendelstiege zum oberen Stock hinan. Da sprach Rolf Lembeck im Emporsteigen: »Der Hof ist voll Menschen, Herr; was ist es so totenstille hier?«
Der Schloßhauptmann aber warf das Haupt zurück: »Mein Kind hat viel Leid gelitten«, sprach er; »es bedarf der Ruhe.«
Sie waren in eine große Halle eingetreten, an deren einer Seite sich viele Türen, im Grunde ein geschlossenes Doppeltor befand; vor diesem war ein niedriger Aufbau, mit weißem Samttuch behangen; an beiden Seiten der Halle standen Männer und Frauen, alle in feierlicher Ruhe und in schwarzen Gewändern; nur an dem Doppeltor stand ein Priester in weißem Maßkleid.
Dem jungen Ritter, da er sich umsah, ward der Atem schwer. »Herr Schloßhauptmann«, sprach er wieder, »wollet mir sagen: ich sah noch nimmer eine Hochzeit mit so dunklen Gästen!«
Der aber erwiderte: »Seit drei Tagen hat mein Kind sich Schwarz zur Leibfarbe angenommen; es ist wohl seltsam, doch es ist mein letztes – so muß ich ihr den Willen tun. Geduldet Euch, die Braut wird bald erscheinen!«
Rolf Lembeck schwieg, und unter all den Menschen war es wieder lautlos still.
Da nahte sich ein Rauschen hinter den geschlossenen Toren, ein Zug von langsamen Schritten wurde hörbar, und indem die Tore sich öffneten, scholl, von jungen Frauenstimmen gesungen, ein De profundis wie von den Sternen nieder.
Ein Schauer schlug Rolf Lembeck durch die Glieder; aber schon hatte der Zug der Jungfrauen die Schwelle überschritten. Er streckte sich und hob den Kopf; so stand er wie erstarrt, und nur sein Auge wurde wie das eines Raubvogels. Er sah die singenden Jungfrauen eine Totenlade von den Schultern heben und sie auf die Samtbühne niederlassen; er sah in weißen Sterbgewändern ein Weib – nein, nicht ein Weib; aus weißen Binden sah ein totes Kinderantlitz –, da ließ der Bann von ihm: ein furchtbarer Schrei scholl durch die Halle. Der Gesang riß ab, und mit erhobenen Armen brach Rolf Lembeck durch die Menschen; er stürzte sich über den Sarg und preßte seine Lippen auf das tote Antlitz seiner Liebe: »O Dagmar, das ist unsre Hochzeit!« [...]"
(Theodor Storm: Ein Fest auf Haderslevhuus)
(Ich sehe Parallelen zu Fontanes Grete Minde von 1880. - In beiden Fällen handelt es sich um ein Werk, das den Verfasser nicht auf dem Feld zeigt, wo er sein Bestes bieten konnte.)
Text zum Film von 1921, er bietet den Inhalt des Films, eine vergröberte Version der Handlung der Novelle.
(Ich sehe Parallelen zu Fontanes Grete Minde von 1880. - In beiden Fällen handelt es sich um ein Werk, das den Verfasser nicht auf dem Feld zeigt, wo er sein Bestes bieten konnte.)
Text zum Film von 1921, er bietet den Inhalt des Films, eine vergröberte Version der Handlung der Novelle.
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