28 Juni 2022

Thomas Mann: Doktor Faustus - Adrian Leverkühn

 Zeitblom bedauert, dass der Abschied von Adrian recht formlos war, weil es für ihn ein ganz wesentlicher Abschnitt war 

Zitat: 

"[...] erst jetzt, so schien es mir, lösten sich unsere Existenzen voneinander ab, begann für jeden von uns das Leben auf den eigenen zwei Beinen, und ein Ende sollte es haben mit dem, was mir doch so notwendig (wenn auch zwecklos) erschien, und was ich wieder nur mit denselben Worten, wie weiter oben, bezeichnen kann: nicht mehr sollte ich wissen, was er tat und erfuhr, nicht mehr mich neben ihm halten können, auf ihn acht-, ein unverwandtes Auge ihm auf ihn zu haben, sondern musste ihm von der Seite gehen gerade in dem Augenblick, wo mir die Beobachtung seines Lebens, obgleich sie gewiss an diesen nichts ändern konnte, am allerwünschenswertesten schien, nämlich wo er die gelehrte Laufbahn verließ, 'die Heilige Schrift unter die Bank legte', um mich seines Ausdrucks zu bedienen, und sich ganz der Musik in die Arme warf. [...] / 

Hier lasse ich einen Brief folgen, den ich zwei Monate nach meinem Dienstantritt in Naumburg von ihm erhielt, und den ich mit Empfindungen las, wie sie wohl eine Mutter bei solchen Mitteilungen eines Kindes bewegen mögen, – nur dass man freilich einer Mutter dergleichen schicklich vorenthält. [...] Seiner Antwort schicke ich nur noch voraus, dass ihre altertümliche Ausdrucksweise natürlich parodisch gemeint und Anspielung auf skurrile Hallenser Erfahrungen, das sprachliche Gebaren Ehrenfried Kumpfs ["Theologie-Professor Kumpf in Halle, der überdies zur Lutherparodie wird, als er mit der Semmel nach dem Teufel wirft, den er in der Zimmerecke zu sehen meint" (Wikipedia: Inkarnationen des Teufels)] ist, – zugleich aber auch Persönlichkeitsausdruck und Selbststilisierung, Kundgebung eigener innerer Form und Neigung, die auf eine höchst kennzeichnende Weise das Parodische* verwendet, sich dahinter verbirgt und verhüllt. *[das die Parodie mit ihren Mitteln umwandelnd - mit diesem ungebräuchlichen Ausdruck macht Zeitblom darauf aufmerksam, dass es dabei nicht um einfache Satire handelt, sondern, dass Adrian dabei - unabsichtlich -die Sprache einer Inkarnation des Teufels als 'Persönlichkeitsausdruck und Selbststilisierung' verwendet - vgl. H.-P.HaackZweideutigkeit als System]

Er schrieb: [...] /

Hier nun heißt es: 'Gott vertrauen, landt und leut beschauen, thut niemand gerauen.' [...] geht ein anderer Puls an als an der Saala, weil nämlich ein ziemlich Volk hier versammelt ist, mehr als siebenhunderttausend, was von vornherein zu einer gewissen Sympathie und Duldung stimmt, wie der Prophet schon für Ninive Sünde ein wissend und humorhaft verstehend Herz hat, wenn er entschuldigend sagt: 'Solche große Stadt, darinnen mehr als hunderttausend Menschen.' Da magstu denken, wie es erst bei siebenhunderttausend Nachsicht erheischend zugeht, wo sie in den Messe-Zeiten, von deren herbstlicher ich als Neu-Kömmling eben noch eine Probe hatte, aus allen Teilen Europas, dazu aus Persien, Armenien und anderen asiatischen Ländern noch erklecklichen Zustrom haben.
Nicht als ob mir dies Ninive sonderlich gefiele, [...]" (16. Kapitel, S.148-150)

"darauf sitzen dir Nymphen und Töchter der Wüste, sechs oder sieben, wie soll ich sagen, Morphos, Glasflügler, Esmeralden, wenig gekleidet, durchsichtig gekleidet, in Tüll, Gaze und Glitzerwerk, das Haar lang offen, kurzlockig das Haar, gepuderte Halbkugeln, Arme mit Spangen, und sehen dich mit erwartungsvollen, vom Lüster gleißenden Augen an.
Mich sehen Sie an, nicht dich. Hat mich der Kerl, der Gose-Schleppfuß ["mit seinen Vorlesungen, in denen er das Geschlechtliche verteufelt" (Wikipedia: Inkarnationen des Teufels)] in eine Schlupfbude geführt! Ich stand und verbarg meine Affecten, sehe mir gegenüber ein offen Klavier, einen Freund, geh über den Teppich drauf los und schlage im Stehen zwei, drei Akkorde an, weiß noch, was es war, weil mir das Klangphänomen gerade im Sinne lag, Modulation von H- nach C-Dur, aufhellender Halbton-Abstand wie im Gebet des Eremiten im Freischütz-Finale, bei dem Eintritt von Pauke, Trompeten und Oboen auf dem Quartsextakkord von C. Weiß es im Nachher, wusste es aber damals nicht, sondern schlug eben nur an. Neben mich stellt sich dabei eine Bräunliche, in spanischem Jäckchen, mit großem Mund, Stumpfnase und Mandelaugen, Esmeralda, die streicht mir mit dem Arm die Wange. Kehre ich mich um, stoße mit dem Knie die Sitzbank beiseite und schlage mich über den Teppich zurück durch die Lusthöhle, an der schwadronierenden Zatzenmutter vorbei, durch den Flur und die Stufen hinab auf die Straße, ohne das Messinggeländer nur anzufassen." (16. Kapitel, S.153)

"Neben dieser äußeren geistig-künstlerischen Entwicklung durchläuft Leverkühn während des Leipzig-Aufenthalts auch eine innere seelische Entwicklung. Insbesondere der Kontakt zu einer Prostituierten („Esmeralda“), die der Komponist scheinbar zufällig kennenlernt, bewirkt – wie später die geheimen Aufzeichnungen Leverkühns offenbaren –, dass dieser sich immer mehr zum Teufel hingezogen fühlt. Der Ruf „hetaera esmeralda“, den Leverkühn als Tonfolge „h-e-a-e-es“ motivisch wiederkehrend in seine Werke einbaut, wird zum Ausdruck jener Verlockung. Um musikalische Genialität zu erlangen und neuartige, die alte klassische Harmonie sprengende Musikwerke schreiben zu können, lässt sich Adrian von Esmeralda bewusst und trotz deren Warnung mit Syphilis infizieren und zahlt so seinen Tribut an den Teufel." (Wikipedia)

17. Kapitel

Zeitblom: "Der kategorischen Weisung, diesen Brief zu vernichten, bin ich nicht gefolgt - wer will es einer Freundschaft verargen, welche das darin auf Delacroix' Freundschaft für Chopin gemünzte Beiwort 'tief aufmerksam' für sich in Anspruch nehmen darf? [...]  ich lernte, es als ein Dokument zu betrachten, von dem der Vernichtungsbefehl ein Bestandteil war, so dass er eben durch seinen dokumentarischen Charakter sozusagen sich selber aufhob." (S.155) (Zweideutigkeit als System)

H.-P. HaackZweideutigkeit als System (zu Doktor Faustus)

"Als letzter großer Roman gedacht, ist in Doktor Faustus die Vielschichtigkeit der Bedeutungsebenen in bis dahin unerreichte Höhe getrieben. Vordergründig ein Künstlerroman, ordnet ihn Thomas Mann weiteren Romangattungen zu ist. In seinen Selbstkommentaren spricht er von einem "religiöse[n] Buch"[1] "einer Lebensbeichte"[2] einem "Epochen-Roman"[3], einem "Roman der Musik"[4] einem "Gesellschaftsroman"[5] einem "verkappten Nietzsche-Roman" [6] und dem Versuch, Musik mit Sprache wiederzugeben . [7] Seine "essayistischen Teile" [8] – eine weitere Bezugsebene - enthalten Begriffsbestimmungen zur Kunst.

Thomas Manns pointierte Formel "Zweideutigkeit als System" [9] wurde zu seiner bekanntesten Forderung an die Kunst. Adrian Leverkühn äußert sie, bezogen auf die Musik und am Beispiel der enharmonischen Verwechslung. Musik ist hier eine Chiffre für Kunst. [10]"

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