16 August 2023

Orhan Pamuk: Rot ist mein Name

 O. Pamuk: Rot ist mein Name 

Vor 15 Jahren erstmals gelesen. Gestern fand ich das Buch im öffentlichen Austauschbücherregal.

Wikipedia:

"Der Roman spielt im osmanischen Istanbul im Jahre 1591. Der Miniaturmaler Fein Efendi, ein begabter Ornamentierer in der Malerwerkstatt des Sultanshofes, wird tot am Grund eines trockenen Brunnens aufgefunden. Fein arbeitete mit seinen drei Kollegen Velican („Olive“), Hasan Celibi („Schmetterling“) und Musavvir Mustafa („Storch“) an einem geheimen illuminierten Buch für den Sultan (Murad III.). Das Buch soll bis zur Jahrtausendwende der Hidschra fertiggestellt werden und der Welt zeigen, dass die Hofwerkstatt des Sultans auch die westlichen Methoden der Malerei beherrsche. Dieses Projekt, das vom „Oheim“ geleitet wird, ist äußerst umstritten, da es die „fränkischen“, also westlichen, Renaissancemethoden der Perspektive und Porträtzeichnung übernimmt. Es gilt als Zeichen mangelnder künstlerischer Meisterschaft und Respektlosigkeit gegenüber seinen Lehrern, von der traditionellen Malerei abzuweichen und einen persönlichen Malstil zu entwickeln, oder seine Werke zu signieren. Die Buchmaler fürchten zudem die Angriffe des Predigers Nusret Hodscha, genannt Erzurumi, und seiner Gefolgsleute, da die Verwendung der Perspektive als gotteslästerlich gilt, und die geplante Art der Darstellung dem Bilderverbot im Islam widerspricht.

Währenddessen kehrt Kara Efendi, ein Sekretär im Staatsdienst, nach 12-jährigem Aufenthalt in verschiedenen Städten der Ostprovinzen nach Istanbul zurück, wo seine Jugendliebe Şeküre mit ihren zwei Kindern und der Sklavin Hayriye bei ihrem Vater, dem Oheim Efendi, lebt. Ihr Mann hatte im Osmanisch-Safawidischen Krieg gekämpft und ist seit vier Jahren verschollen. 

[...]

„Olive“ rechtfertigt sich: Mit dem Mord an Fein Efendi wollte er verhindern, dass dieser zum Hassprediger Hodscha geht und so die Buchillustratoren in Gefahr bringt. Nachdem er dem Oheim seine Tat gebeichtet hatte, tötete er den alten Mann wegen „seiner Überheblichkeit“ und seines Geheimspiels mit den Malern. Um sich zu befreien, fällt „Olive“ Kara mit einem Messer an, verletzt diesen schwer und kann fliehen. Er gibt sich dem Traum einer erfolgreichen Zukunft in Indien hin und macht sich auf den Weg zum Hafen. Doch bevor er das Land verlässt, will er zum letzten Mal die Buchmalerwerkstatt sehen. Dort lauert ihm der eifersüchtige Hasan auf, hält ihn für einen der Gefährten seines Rivalen Kara und rächt sich für die entgangene Chance, seine Schwägerin für sich zu gewinnen, indem er „Olive“ mit einem Schwerthieb köpft.

Kara kehrt verwundet nach Hause zurück und wird von Şeküre gepflegt. Er erholt sich und arbeitet bis zu seinem Tod 26 Jahre als Beamter des Sultans. Das Buch des Oheims wird nicht fertiggestellt, denn ein neuer Sultan (Mehmed III.) kommt an die Macht und die Buchmalerwerkstätte verliert an Bedeutung. Die Maler verlassen die Stadt und die Ära der Istanbuler Buchillustration kommt zu einem vorläufigen Ende."

"In 59 Kapiteln erzählen zwei Protagonisten, verschiedene Nebencharaktere und sogar vom Meddah gemalte Figuren und Gegenstände die Geschichte. Immer wieder spricht der Roman aus ungewöhnlichen Perspektiven: aus der Sicht Satans, des Todes, der Farbe Rot. Sowohl der Täter als auch die Mordopfer kommen im Roman zu Wort.

Diesem Aufbau fügt der Autor eine vermeintlich triviale Liebes- und Kriminalgeschichte hinzu. Zudem lässt er den Leser in das Istanbul des 16. Jahrhunderts eintauchen: im Stile eines Künstlerromans schreibt er detailliert über die Atmosphäre der Werkstätten, die Wirkung der Miniaturbilder und die Geschichte der osmanischen Buchillustration. Pamuks Roman erzählt vom Geschäfts-, Familien- und Hofleben und zeichnet ein Bild der Gesellschaftsstruktur und des Alltagslebens jener Zeit. Es fügen sich Fabeln und Allegorien ein, die meist aus der Welt der Buchillustration stammen. Häufig handeln die Fabeln von Behzat, dem großen Vorbild der Buchmaler.

„Rot ist mein Name“ erinnert deswegen an eine Collage."

"Der Roman spielt zwar im 16. Jahrhundert, bezieht sich aber auf die Moderne und kommentiert das Zeitgeschehen in der Türkei. Mit dem Konflikt der Malerschule, die sich zwischen der traditionellen und modernen Malweise entwickelt, wird ein Abbild der modernen türkischen Gesellschaft gezeichnet. Es ist ein Glaubenskonflikt zwischen östlicher Tradition und westlicher Moderne. Der Oheim bewundert die Kunst der Renaissance, die in dieser Epoche ihre Blüte erlebt: auf den Bildern der italienischen Meister seien die Augen nicht „einfach runde Löcher“, sondern würden das „Licht wie ein Spiegel zurückwerfen“. Die Lippen seien „kein Spalt auf der papiernen Fläche des Gesichts, sondern ein jeweils anders rotgetönter Knoten der Bedeutungen, der im Straffen und Entspannen all unsere Freude und Trauer, unserer Seelensprache Ausdruck verleiht“ (Kap. 26, S. 187). Er bewundert die individuelle Gestaltung der Figuren, weil jeder Betrachter sich selbst als einzigartige Persönlichkeit gemalt sehen möchte. Aber der Oheim weiß auch, dass strenggläubige Muslime in einer naturgetreuen und perspektivischen Darstellung eine Vergötterung des Menschen und damit einen Verstoß gegen die Religion sehen: da es allein Allah sei, „der das Nichtseiende ins Sein ruft, der das Leblose belebt“ (Kap. 28, S. 216)"

(Der Wikipediaartikel wurde im Dezember 2007 begonnen.)

Zitate:

vorerst nur diktiert und  wenig korrigiert:

Rot ist mein Name:

"[...] Ich bin in dem Kleid der schönen Besucherin des Sassaniden-Schahs Behram Gür, in deren Bildnis er sich verliebt hatte und die er dienstags empfing, jenes Schahs, der jede einzelne Nacht in der Woche mit einer herrlichen, jeweils aus einem anderen Landstrich kommenden Schönheit unter einer jeweils andersfarbigen Kuppel verbrachte und ihrer Erzählung lauschte, und ich bin von der Krone bis zum Kaftan, in jedem Kleidungsstück des Hüsrev , in de sich Siren, sein Bildnis betrachtend, verliebt hatte. Ich war auf den Fahnen der die Festungen belagernden Heere, beim Festmahl auf der Tafeldecke, auf den samtenen Kaftan der Gesandten, die den Sultan in die Füße küssten, und dort, wo das Schwert abgebildet war, dessen Geschichten, die Kinder so innig lieben. Unter den Blicken der Buchmalermeister von schönäugigen Lehrbuben, auf die dicken Papiere aus Indien und Buchara mit zartem Pinsel aufgetragen, habe ich die Teppiche von Usak, den Schmuck der Wände, die Hemden schöner Frauen, die gebeugt durch den Fensterspalt auf die Straße blickten, die Kämme der aufeinander einhackenden Kampfhähne, die sagenhaften Früchte und Granatäpfel sagenhafter Länder, den Rachen des Satans, die feine Linie in den Umrahmungen, die krausen Ornamente der Zelte, die vom Illustrator zum eigenen Ergötzen gemalten, mit bloßem Auge kaum erkennbaren Blumen, die Kirschenaugen der Vögel aus Zuckerwerg, die Strümpfe der Schafhirten, die Morgenröten aus den Legenden und die Leichen und Wunden Tausender, Zehntausender Krieger, Schahs und Liebender gezeigt. Ich liebe es, in kriegerischen Szenen aufgetragen zu werden, wo das Blut blütengleich aufspringt, oder auf den Kaftan des Meisters der Poeten, während schöne Knaben und Dichter im Grünen beim Wein der Musik lauschen, oder auf die Flügel der Engel, auf die Lippen der Frauen, auf die Wunden der Toten und auf die abgeschlagenen blutigen Köpfe.

Ich höre euch fragen: Wie ist das, wenn man eine Farbe ist?
Farbe ist die Berührung des Auges, die Musik der Taubstummen, ein Wort in der Dunkelheit. Meine Berührung, würde ich sagen, gleicht der Berührung der Engel, da ich seit Zehntausenden von Jahren dem Raunen der Geister von Buch zu Buch, von einem Gegenstand zum anderen wie dem Sausen des Windes gelauscht habe. [...]"

Hasan Celibi („Schmetterling“) spricht:

""[...] "Aber auf allen diesen Bildern", sprach ich weiter und zog fester an den Haaren Karas in meiner Faust, kann man die Schwierigkeit spüren, zwei Personen, deren Körper wie die unseren miteinander verschmolzen sind und die sich gleichzeitig hassen, auf erlesene Art zu zeichnen. Es ist, als ob der ganze Wirrwarr von Verrat, Neid und Krieg vor diesem magischen, herrlichen Augenblick der Enthauptung ein bißchen zu stark in jene Gebilde eingedrungen ist. Beim Zeichnen von zwei übereinander liegenden Männern tun sich sogar die großen Altmeister von Kazvin  schwer, und alles gerät durcheinander. Wir beide dagegen sind, wie du sehen kannst, viel ordentlicher und feiner."

"Das Schwert schneidet", stöhnte er.
"Ich danke dir dafür, dass du geredet hast, aber es schneidet nicht, mein Lieber. Ich achte darauf nichts zu tun, was die Schönheit unserer Lage stören könnte. Wenn die großen alten Meister in all ihren Liebes- , Sterbe- und Kriegsszenen die miteinander verschmelzenden Körper gleichsam wie einen einzigen Leib zeichneten, dann konnten sie uns nur ein paar Tränen entlocken. Schau: Mein Kopf ist so nah an deinem Nacken, dass er wie ein Teil deines Körpers erscheint. Ich kann deine Haare und deinen Nacken riechen. Meine Beine sind zu beiden Seiten deiner Beine so harmonisch ausgestreckt, dass einer, der uns sieht, meinen könnte, wir seien ein elegantes vierbeiniges Tier. Spürst du das Gleichgewicht meiner Schwere auf deinem Rücken und deinem Hinterteil?" Stille herrschte, doch ich übte keinen Druck auf das Schwert aus, denn es hätte blutig verletzen können. "Wenn du nicht sprichst, beiße ich dich ins Ohr", flüsterte ich ihm in eben dieses Ohr.
Als ich ihm von den Augen ablas, dass er bereit war zu reden, stellte ich dieselbe Frage noch einmal: "Spürst du das Gleichgewicht meiner Schwere auf dir?"
"Ja."
"Magst du es?" fragte ich, und: "Sind wir schön, sind wir so schön wie die Helden, die einander in den Wunderwerken der alten Meister auf elegante Art umbringen?"
"Ich weiß es nicht", sagte Kara, "ich kann uns nicht im Spiegel sehen."
Als ich mir vorstellte, wie uns meine Frau jetzt vom Nebenzimmer aus im Licht der Kaffeehauslampe sehen würde, fürchtete ich, vor Aufregung Kara tatsächlich ins Ohr zu beißen.
"Kara Efendi, der du mit dem Dolch in mein Haus und seine Geborgenheit eingedrungen bist und mich zur Rede gestellt hast: Spürst du jetzt meine Stärke auf dir?" fragte ich
"Ich spüre auch, dass du im Recht bist.“
"Jetzt frage nur, was du fragen willst,"
"Erzähle mir, wie dich Meister Osman streichelte."
"In meiner Lehrzeit, als ich viel schlanker, feiner und hübscher war als heute, legte er sich auf die gleiche Weise über mich, wie ich jetzt auf dir liege. Er streichelte meine Arme, tat mir manchmal auch weh, doch weil ich sein Wissen, sein Können und seine Stärke bewunderte, mochte ich es und dachte mir nichts Schlechtes dabei., Denn ich liebte ihn. Altmeister Osman zu lieben gab mir die Möglichkeit, das Illustrieren, die Farben, das Papier, den Rohrstift, die Schönheit des Bildes, alles, was gemalt wurde, und somit das Universum und Allah zu lieben. Meister Osman ist mehr als ein Vater für mich."
"Hat er dich oft geschlagen?" wollte er wissen.

Er schlug mich, wie ein Vater um der Gerechtigkeit willen schlagen muss, und er schlug mich schmerzhaft und strafend, wie ein Meister schlagen muss, um etwas zu lehren. [...]" (S.484-486)


Şeküre spricht:

"Mein Sohn Orhan, der töricht genug ist, um alle Dinge auf logische Weise lösen zu wollen, hatte mich vor Jahren daran erinnert, dass die Herater Meister, welche die Zeit zum Stillstand brachten, mich niemals so hätten zeichnen können, wie ich war, hat er mir erklärt, dass die fränkischen Meister, die unaufhörlich Bilder von schönen Müttern mit dem Kind auf dem Arm malen, ihrerseits die Zeit nicht zum Stillstand bringen können und dass mein  Bild von der Glückseligkeit ohnehin zu keiner Zeit gemalt werden könnte.

Vielleicht hat er recht. Die Menschen suchen wahrlich nicht nach einem Lächeln auf dem Bild des Glücks, sie suchen nach dem Glück im Leben. Die Maler wissen dies, doch es ist gerade das, was sie nicht malen können. Aus diesem Grund ersetzen Sie die Freude am Leben durch die Freude am Sehen.
Weil es unmöglich sein wird, diese Geschichte zu malen, habe ich sie meinem Sohn Orhan erzählt, damit der sie vielleicht aufschreibt. Die Briefe, die mir Hasan und Kara schickten, und die zerlaufenen Pferdebilder, die man bei dem armen Fein Efendi fand, habe ich ihm ohne Zögern übergeben. Er ist reizbar, launisch und unglücklich wie immer und hat keine Angst, denen unrecht zu tun, die er nicht mag. Deswegen dürft ihr Orhan nicht glauben, wenn er Kara abwesender, unser Leben härter, Şevket schlimmer und mich schöner und weniger anständig darstellt, alses der Wahrheit entspricht. Denn es gibt keine Lüge, die er nicht spinnen würde, um seine Geschichte hübsch und glaubhaft zu gestalten." (S. 552)

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