7. Buch/Gesang (Überblick)
Motti
O Moskau, Rußlands liebste Tochter,
Wo gibt es eine, die dir gleicht?
Dmitrijew
Moskau nicht lieben, unsern Stolz?
Baratynski
Auf Moskau schimpfen! Ja, das macht das Reisen aus!
Wo ist's denn schöner? –
Wo wir nicht zu Haus.
Gribojedow
1
Schon schmilzt auf allen Bergen droben
Der Schnee im Frühlingssonnenstrahl
Und rinnt, zu trübem Naß zerstoben,
Ins quellenfeuchte Wiesental.
Mit Lächeln grüßt, noch traumbefangen,
Natur des Lenzes frische Wangen:
Der Himmel strahlt in lichtem Blau,
Der Wald beginnt sein kahles Grau
Mit zartem, grünem Flaum zu füllen.
Schon schwärmt aus ihrem Winterhaus
Nach Blütenkost die Biene aus,
Es sprießt die Flur, die Herden brüllen;
Schon singt im Buschwerk überall
Bei Mondenschein die Nachtigall.
"Nach dem Duell wird Onegin von Gewissensbissen gepeinigt und verlässt sein Landgut mit unbekanntem Ziel. Tatjana besucht regelmäßig sein Wohnhaus, liest seine Bücher und versucht, über seine Notizen und Lesemarken Onegins Charakter und Wesen auf die Spur zu kommen." (Wikipedia)
14
Und im Alleinsein, im Entbehren,
Vertieft sich ihre Leidenschaft,
Und wieder nach Eugen begehren
Die Sinne mit erneuter Kraft.
Allein, sie muß ja von ihm lassen,
Sie muß den Brudermörder hassen,
Darf nie ihn wiedersehn ... Jedoch,
Wer weiß denn heut vom Dichter noch?
Er starb ... Schon längst gewann zur Ehe
Ein andrer seines Bräutchens Hand;
Sein flüchtig Angedenken schwand
Gleichwie Gewölk in blauer Höhe;
Und nun bewahren, trüb und stumm,
Es wohl zwei Herzen nur ... Warum? [...]
Sie kommt in Onegins Schloss und darf sich dort umsehen.
21. [...]
Dann endlich fing sie an zu lesen:
Zwar erst mißfiel ihr alles noch,
Weil fremd und seltsam; bald jedoch
Ergriff sie dieses andre Wesen,
Und langsam in der Stunden Lauf
Ging eine neue Welt ihr auf.
22.
Obschon Eugen, wie wir ihn kennen,
Nicht viel Geschmack an Büchern fand,
War dennoch manches Werk zu nennen,
Das hoch in seiner Schätzung stand:
So Byrons Schriften, des Titanen,
Nebst einer Auswahl von Romanen,
Worin die nackte Wirklichkeit,
Zumal der Mensch der heut'gen Zeit,
Sich scharfumrissen widerspiegelt,
Wie er, moralisch ohne Halt,
Voll Egoismus, nüchtern-kalt,
Beständig in Phantasmen klügelt,
An bittrer Weltverachtung krankt
Und inhaltslos durchs Leben wankt.
23
Auf vielen Seiten waren Stellen
Vom Fingernagel angemerkt,
Und Tanja ward in solchen Fällen
Im Eifer nur noch mehr bestärkt.
So wird sie voll Bewundrung inne,
An welchem Ausdruck, welchem Sinne
Sich einst Eugen betroffen stieß,
Und was er schweigend gelten ließ;
Wird seiner scharfen Bleistiftzüge
Mit Staunen überall gewahr:
Aus allem spricht unmittelbar
Sein Geist in Urteil, Lob und Rüge,
Bald durch ein Kreuz, ein kurzes Wort,
Bald Fragezeichen hier und dort.
24
Und nun beginnt ihr ganz allmählich
Schon mehr Verständnis aufzugehn
Für ihn, der, ach, unwiderstehlich
Ihr armes Herz bezwang, durch den
Zu leiden ihr bestimmt die Götter.
Doch dieser Sonderling und Spötter,
Den Himmel oder Hölle schuf,
Mit Engelsfittich, Teufelshuf –
Was stellt er vor? Ein bloßes Schemen,
Ein Trugbild? Ist er, wie's geschieht,
Ein Moskowitergeck, bemüht,
Childe Harolds Maske anzunehmen?
Ein Phrasenheld, der andern gleicht?
Nur eine Parodie vielleicht? ...
25
Ob wohl das rechte Wort gefunden,
Des Rätsels Sinn gedeutet ist?
So träumt sie oft; es fliehn die Stunden,
Längst wird sie schon daheim vermißt,
Allwo Mama mit noch zwei Alten
Ernst ihretwegen Ratschlag halten.
Frau Larin seufzt: »Man sieht doch klar,
Sie ist kein Kind mehr, Olga war
Die jüngre; täglich wird es schlimmer,
Was fang' ich mit dem Mädel an?
Die Zeit ist da, ihr fehlt ein Mann,
Kommt aber wer, dann heißt es immer:
›Ich mag nicht!‹ Jedem kommt sie dumm
Und schmollt und streift im Wald herum.« [...]
50.
Dort freilich, wo im Schaugepränge
Melpomene mit Leidenschaft
Vor einer stumpfen Hörermenge
Den flittergoldnen Mantel rafft,
Thaliens hehre Kunst entschwindet
Und kaum noch lauen Beifall findet,
Dieweil der jungen Lebewelt
Bloß Terpsichorens Tanz gefällt
(Wie das, ihr Leser, schon zur meinen,
Nicht erst zu eurer Zeit so war),
Dort wandte sich aus all der Schar
Kein Blick nach unsrer schlichten Kleinen,
Kein Opernglas und kein Lorgnon
Aus Logen, Sperrsitz noch Balkon
51.
Nun wird sie ausgeführt auf Bälle:
Der Andrang hier, der Kerzenglanz,
Der schwüle Saal, die Menschenwelle,
Der Wirbel von Musik und Tanz,
Das reiche Bild, die stolzen Namen,
Die Fülle junger schöner Damen
Zur Brautwahl rings in Galerie,
All dies betäubt, bewältigt sie.
Hier macht in Musterexemplaren
Geziertes Geckentum sich breit
Mit Augenglas und Albernheit;
Hier wird von flotten Tanzhusaren
Im Flug der Urlaub ausgenützt,
Geklirrt, scharmiert – und fortgeflitzt.
"Tatjana bleibt mit ihrer Mutter allein zurück. Sie wehrt ohne Begründung jeden Bewerber um ihre Hand ab. Bei einem Besuch ihrer Tante in Moskau schließlich wird sie der Gesellschaft vorgestellt, an einen älteren General verheiratet, und sie wandelt sich in eine perfekte Dame der Gesellschaft." (Wikipedia)
55
Und damit wünschen wir Tatjanen
Von Herzen zum Erfolge Glück
Und kehren auf verlaßnen Bahnen
Zum Helden unsres Lieds zurück.
Um eins zuvor noch anzubringen:
»Vom jungen Freunde will ich singen,
Will seiner Launen Künder sein.
O Muse, geuß den Segen drein
Und kröne meine Dichtermühen!
Leih huldreich deinen Stab mir her,
Sonst geh' ich fehl die Kreuz und Quer'.«
So! Endlich ist er doch gediehen,
Der Anruf, den ich langehin
Dem Klassizismus schuldig bin.
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