28 Dezember 2023

Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart

 Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Rezension bei Perlentaucher

Leseprobe bis S.29

1. Eintracht und Streit in der Familie . . . . . . . . . . . 19 

Der große und der kleine Bruder . . . . . . . . . . . . . 19 

Die Großrussen und die Kleinrussen . . . . . . . . . . 25 

 2. Die gemeinsame Wiege der Kyjiver Rus’ . . . . . 28 

Der Erbstreit der Historiker . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 

Der Erbstreit der Politiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 

 3. Mongolen und Polen – Asien und Europa: Die Geschwister gehen getrennte Wege  (14. bis 17. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . .    37 

Danylo von Galizien-Wolhynien und Alexander Nevskij . . . . . . 38 

Der Aufstieg Moskaus und die Herausbildung des Zarenreichs. . . 43 

Die Ukraine unter litauischer und polnischer Herrschaft . ............46 

 Kirchenunion von Brest 1596, Ukrainische griechisch-katholische Kirche

Die ukrainischen Kosaken und die Revolution von 1648  . . . . . . . .51 

Starker Staat – libertäre Gesellschaft, belagerte Festung – Orientierung nach Europa . 53

4. Die Annäherung der Ukraine an Russland und die Integration der «Kleinrussen» in das Imperium der Zaren (17. bis frühes 19. Jahrhundert) . .. . . . . . . . . . . . . . . . . 56 

Die Vereinbarung von Perejaslav und der Beginn der Herrschaft Russlands über die Ukraine 59 Peter der Große, Mazepa und das Ende des ukrainischen Kosakentums .  . . . . . . . . . . . 65    Doch Angehörige einer ukrainischen Kosakenfamilie erlebten unter der Kaiserin Elisabeth einen auffallenden Aufstieg: Alexei Grigorjewitsch RasumowskiKirill Grigorjewitsch Rasumowski (S.71), Andrei Kirillowitsch Rasumowski (S.72)

Die Ukrainisierung der russischen Kultur . .. . . . . . . . . . . . . . . . .  72                                  "Im 18. Jahrhundert kamen etwa 60 Prozent der Bischöfe des Imperiums aus der Ukraine und Weißrussland." (S.73)                                                                                                        Feofan Prokopovyč . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74                                                              "Ausgerechnet ein ukrainischer Absolvent der Kijiver Akademie wurde so zum wichtigsten frühen Ideologen des autokratischen Absolutismus in Russland. [...]  Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hob sich die linksufrige Ukraine von Russland durch ein merklich höheres Bildungsniveau ab, wie ausländische Beobachter bestätigten. Sie wies ein recht breites Netz von Kirchenschulen auf, an denen auch Mädchen ausgebildet wurden." (S.75/76)

"Im Laufe des 18. Jahrhunderts erlebte die auf Mittel- und Westeuropa ausgerichtete weltliche Bildung und Kultur auch in Russland einen raschen Aufschwung. Die Kijiver Akademie und die anderen Bildungsstätten in der Ukraine sanken dagegen zu Priesterseminaren ab, während die weltliche höre Bildung seit dem Jahr 1755, als die Universität Moskau gegründet wurde, immer mehr von russischen Institutionen übernommen wurde. Allerdings wurde die zweite (russischsprachige) Universität des Imperiums 1805 in Charkiv gegründet, wo sie auf dem dortigen Collegium aufbauen konnte. Trotzdem beraubte der ständig zunehmende Brain Drain die Ukraine zahlreicher Gebildeter. In der Mitte des 18. Jahrhunderts drehte sich die Richtung des Kulturtransfers um, und die Ideen der französischen Aufklärung kamen  nicht mehr über die Ukraine nach Russland, sondern über St. Petersburg in die Ukraine. Die Bildungssprachen waren nicht mehr Latein und Kirchenslawisch, sondern Deutsch, Französisch und zunehmend Russisch. (S.76/ 77)

Die Expansion Russlands ans Schwarze Meer und in die rechtsufrige Ukraine . . .. . . . . . 77   "Der Steppengürtel nördlich des schwarzen Meeres war seit der Antike Durchzugsgebiet aus Asien kommender Reiternomaden gewesen. Seit dem 15. Jahrhundert stand er unter der Herrschaft der Krimtataren, deren Khan Vasall des Osmanischen Reiches war. Die Region war landwirtschaftlich nicht erschlossen und kaum besiedelt. Lediglich die Saporoger  Kosaken hatten am Unterlauf des Dnjepr  Fuß gefasst. Sie standen in ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen (aber auch in Handelsbeziehungen) mit den Krimtataren und fuhren mit ihrem kleinen Booten auf das Schwarze Meer, wo sie osmanische Galeeren kaperten und Hafenstädte ausraubten.

Im Türkischen Krieg von 1768 bis 1774 eroberte Russland das gesamte Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres, 1783 folgte die Annexion der Krim." (S. 77)
"Das eroberte Gebiet im Süden der heutigen Ukraine wurde offiziell als Neurussland bezeichnet und in einem Generalgouverneurment dieses Namens zusammengefasst. Die südukrainische Steppe mit ihren fruchtbaren Schwarzerdeböden wurde nun für die Landwirtschaft nutzbar gemacht, und in den folgenden Jahrzehnten wurde sie von ukrainischen und russischen Bauern besiedelt. Sie kamen zum größeren Teil in die Abhängigkeit von (vorwiegend russischen) Adligen, denen die Regierung in Neurussland Güter verliehen hatte. [...] Zunächst rief man aus dem Osmanischen Reich orthodoxe Bulgaren, Serben, Rumänen und Griechen ins Land. Die größte Gruppe waren die deutschen Kolonisten, unter ihnen zahlreiche Mennoniten, die als tüchtige Ackerbauern den ostslawischen Bauern als Vorbild dienen sollten. Die Region stieg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum wichtigsten Getreideproduzenten des Imperiums auf. In den Städten ließen sich Russen, Juden, Griechen und Armenier nieder, während die Ukrainer hier nur kleine Minderheiten stellten. (S.77/78)
"Katharina II. rechtfertigte die Annexion des östlichen Polen-Litauens  damit, dass diese Länder und Städte, die an das Russische Reich angrenzen, einst in seinem Besitz waren und von ihren Stammesgenossen bevölkert sind, die zum orthodoxen Glauben bekehrt wurden und ihn bis heute ausüben. Indem die Kaiserin darauf verwies, dass diese Gebiete früher im Besitz Russlands (gemeint ist die Kyjiver Rus') gewesen sein, lancierte sie die Auffassung von der 'Wiedervereinigung' der Ukraine und Weißrussland. Obwohl sie diesen 'Stammesgenossen' ihre besondere Fürsorge verhieß, kümmerte man sich in der Folge kaum um die ukrainischen Leibeigenen, sondern verkehrte mit Ihnen nur indirekt über ihre adeligen polnischen Herren. Eine Ausnahme war die Konfession. Staat und Kirche betrachteten sich als Schutzjahren ihrer orthodoxen Untertanen, die gegen katholische Einflüsse abgeschirmt werden sollten. "(S. 80)

 Die Entdeckung Kleinrusslands durch die Russen um 1800 . . . . . . . . .  . . . . . . . . . . . . . 81 

Im Geiste Rousseaus wurde die Ukraine als einfaches, moralisch reines, von der Zivilisation nicht verdorbenes Volk und ihr Leben als ländliche Idylle idealisiert. Die ukrainischen Bauern erschienen als Kinder der Natur, als ehrlich, fröhlich, treu, offen, gastfreundlich, musikalisch, emotional und tief religiös. [...]  Man kann von einer Kleinrussland-Mode im Russland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen. Nicht nur die Reiseberichte, sondern auch die wichtigsten russischen Zeitschriften der ersten vier Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, sowohl konservativer wie liberaler Ausrichtung, zeichneten ein überwiegend positives Bild von der Ukraine. [...]

Die Ukrainer seien in ihrer Entwicklung stecken geblieben und hätten es nicht verstanden, eine gebildete Elite, eine höhere Zivilisation und einen Staat zu schaffen. Die idealisierten traditionellen Sitten wurden somit umgedeutet zu Rückständigkeit, Ignoranz und Aberglauben. Das häufigste Attribut, dass russische Beobachter den Ukrainern zuschrieben, war deren Trägheit und Faulheit." (S.83)

 5. Zwei verspätete Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 

Russland und die Ukraine existieren als Nationalstaaten erst seit einem Vierteljahrhundert. Sie sind junge, verspätete Nationen [...]  Dass die Ukrainer eine verspätete Nation sind, ist evident. Sie wurde nach dem plötzlichen Erscheinen des Nationalstaats auch als 'unerwartete Nation' bezeichnet, und es wird sogar bestritten, dass sie überhaupt eine Nation sein. 'Die Ukraine ist ein unabhängiger Staat, der kein Nationalstaat ist. Zwischen Historikern ist umstritten, ob es überhaupt eine ukrainische Nation gibt', so der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt [...] kurz nach der Annexion der Krim durch Russland. [...] 

Nicht selbstverständlich ist dagegen die These von den Russen als einer verspäteten Nation. Im Gegensatz zur Ukraine verfügt Russland über eine seit dem Mittelalter ununterbrochene staatliche Tradition, und bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion lebten fast alle Russen in einem Staat zusammen. Allerdings war der Staat nicht, wie in Westeuropa, der Kern, sondern der wichtigste Hemmschuh für die russische Nationsbildung [...]. Gerade der übermächtige, territorial riesige Stadt, das russländische Imperium [...] und die Sowjetunion behinderten die Formierung einer russischen Nation [...] Die autoritären Regime der Zaren und Sowjets verhinderten eine demokratische Entwicklung, eine politische Emanzpation der russischen Gesellschaft und ihre Integration zu einer Staatsbürgernation, Die Multiethnizität und die soziale Polarisierung standen der Bildung einer ethnischen Nation im Weg.". (S.85/86)

Prozesse der Nationsbildung in der Vormoderne . . 87                     

Das vormoderne kosakisch-kleinrussische Nationalbewusstsein äußerte sich noch einmal in einem bemerkenswerten Text, der die Beziehung des 'kleinen' zum 'großen' Russland zum Thema hat. 'Ein Gespräch zwischen Großrussland und Kleinrussland' des Absolventen der Kijiver Akademie Semen Divovyc wurde im Jahr 1762 in russischen Versen abgefasst, aber erst im Jahr 1882 gedruckt. Zu Beginn fragt Großrussland Kleinrussland:
'Welcher Herkunft bist du und woher bist Du gekommen?                                                Sprich, sprich von deinen Ursprüngen, von denen du herstammst!'
Kleinrussland erklärt dann ausführlich seine glanzvolle Geschichte seit dem Mittelalter, unter der Herrschaft des polnischen Könige und besonders die Heldentaten der Kosaken bis zu ihrer freiwilligen Unterstellung unter den russischen Herrscher Alexej Michajlovic, der ihnen die Erhaltung ihrer Privilegien garantierte." (S. 91)
Divovyc verfasste sein 'Gespräch' kurz nach dem Regierungsantritt Katharinas II. Er verteidigt die Eigenständigkeit und die Rechte 'Kleinrusslands', genauer des Kosaken-Hetmanats, und pocht auf Gleichberechtigung der ukrainischen Elite mit dem russischen Adel. Dabei werden die Bezeichnungen 'klein' und 'groß', wie wir wissen zu Unrecht, mit der unterschiedlichen Größe der beiden Länder erklärt. Es ist bemerkenswert, dass Divovyc die Verwandtschaft der beiden Völker nicht erwähnt, sondern Kleinrussland als eigenes Objekt mit einer von großen Russland getrennten Geschichte vorstellt. Von der gemeinsamen Abkunft von der Kyjiver Rus’  ist nicht die Rede." (S.92)

Varianten eines russischen Nationalbewusstseins in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . .  93
Westler (u.a.  Iwan TurgenewIwan PanajewPjotr TschaadajewWissarion Belinski und Alexander Herzen) und Slawophile                                                                                                          Die ukrainische Herausforderung und die russische Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .96
Nationaldichtung: Ivan Kotljarevskij und Nationalgeschichte 'Geschichte der Rus' ' (konzentriert auf die heroische Zeit der Kosaken aber auch Rückgriff auf die Kyjiver Rus’);  die Kyrill-und-Method-Bruderschaft "spielte eine zentrale Rolle in der Herausbildung eines Nationalbewusstseins in der Ukraine.[1]"  (Wikipedia),   Mykola Kostomarow (Gründer), Taras Schewtschenko (nach Kasachstan verbannt)(S.96-98); eine vergleichbare russischr Gruppe, der Dostojewski angehörte, wurde härter bestraft (Todesurteil, Begnadigung zu Zwangsarbeit in Sibirien). 
18 42 wurde Nikolai Gogol's Roman 'Die Toten Seelen' publiziert was Anlass zu Erörterungen über die nationale Zuordnung des ukrainisch-russischen Schriftstellers gab. [...]  Gogol' selbst äußerte sich dazu zwei Jahre später in einem Schreiben, in dem er bekannte, eine doppelte 'Seele' zu haben. Er wisse selbst nicht, 'welche Seele ich habe, die eines Chochol [Spitzname für Ukrainer] oder eine russische. Ich weiß nur, dass ich keineswegs dem Kleinrussen vor dem Russen noch den Russen vor dem Kleinrussen den Vorzug geben würde. Beide Naturen sind von Gott üppig bedacht worden, und mit Bedacht besitzt jede  von Ihnen für sich das, was der anderen fehlt: ein klares Zeichen, dass sie einander ergänzen müssen.'
Gogol', der aus einer ukrainischen Kosakenfamilie stammte, steht für die zahlreichen Ukrainer, die nach Moskau oder St. Petersburg zogen, und sich dort sprachlich russifizierten, gleichzeitig aber die russische  Kultur ukrainisierten. Seine Erzählzyklen 'Abende auf dem Gutshof bei Dikan'ka' und 'Migorod' hatten ukrainische Themen und waren in einem Russisch geschrieben, das viele Ukrainismen aufweist. In Russland wurden sie als Beispiele der exotischen Kleinerussischen Literatur positiv aufgenommen. Sie führten die Ukraine in die russische Literatur ein; ihre Natur verbundenen pittoresken, humorvollen, faulen, ess- und trinkfesten Gestalten mit einer deformierten Sprache und Irrationalität prägten das russische Ukrainebild für lange Zeit. In Russland warf man Gogol' vor, die Russen negativ und die Kleineussen mit viel Sympathie darzustellen, worauf er in dem zitierten Brief antwortet." (S. 100/101)

Der russische imperiale Nationalismus und die Krise der ukrainischen Nationsbildung . . . . 103 

 6. Ein asymmetrisches Verhältnis: Russen und Ukrainer im Russländischen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113              Russische Stadt – ukrainisches Dorf . . . . . . . . . . . 114                                                 Hierarchie der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117                                             Wechselseitige Perzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 121                                                   Akkulturation und doppelte Identität . . . . . . . . . 124                                                             War die Ukraine eine Kolonie Russlands? . . . . . . . 130 

 7. Die Russische und die Ukrainische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .     . . . 132

In der Zeit von 1917-1922 herrschten in der Ukraine unübersichtliche und zeitlich rasch wechselnde Machtverhältnisse:

Die national-ukrainisch orientierten Kräfte des Bürgertums und der Intelligenz, die Mittelmächte, die weißen Truppen [Deniken, Wrangel], die die russische Revolution annullieren wollten, die ukrainischen Bauern, die weitgehend russischen, bolschewistisch orientierten Arbeiter, die provisorische russische Regierung ab Februar 1917, die Rote Armee der Sowjetunion. (Eine gewisse Sonderrolle spielte die im November 1918 in Lemberg ausgerufene Westukrainische Volksrepublik (S.142) der Ruthenen/Ukrainer im Bereich der Habsburger Monarchie. [Einen groben Überblick liefern die Seiten 132-149 und im Internet die betreffenden Artikel, die nur zum Teil verlinkt sind, einiges ist dort genauer dargestellt als im Buch.

Die Russische Revolution (Februar 1917 bis März 1918) . . . . . . . . .            . . . . . . . . 132 Die Ukrainische Zentralrada und ihr Verhältnis zu Petrograd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Die Ukrainische Volksrepublik [UNR] zwischen den «roten» und den «weißen»* Russen.141   *"Die Weißen, deren bewaffneter Arm die Weiße Armee war, vereinten politisch sehr unterschiedliche Kräfte der russischen Gesellschaft, deren Vorstellungen über die Methoden, die Richtung und die Ziele des Kampfes gegen Sowjetrussland stark differierten."                     Weshalb gelang es den Bolschewiki, den Bürgerkrieg zu gewinnen und die Herrschaft über den größten Teil der Ukraine zu erringen? . .(NÖP) . . . . ................................................146  "[...] die Ukrainer waren nach 1918 das größte Volk Europas ohne Nationalstaat." (S.147)

 8. Russen und Ukrainer in der sowjetischen «Völkerfamilie» . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Die Gründung der Ukrainischen und der Russländischen Sowjetrepublik . . . . . . . . . . . 151 Korenizacija und Ukrainisierung . .[unter Stalin zurückgenommen]        . . . . . . . . . . . .155 Der ukrainische Nationalkommunismus . [ Skrypnyk;S.163/64] . . . . . . . .                       162  Industrialisierung, Zwangskollektivierung und Hungersnot (Holodomor) . . . . . . .  . . . . . . . .            165

"Das Bewusstsein, als Nation Opfer des Sowjetkommunismus zu sein, ist heute ein wichtiges Element des ukrainischen Nationalbewusstseins." (S.170)

Sowjetpatriotismus, Völkerfreundschaft und die Rückkehr des «Großen Bruders» . . . 171 Referat von Kappelers Darstellung: "Die Ukrainische Nation habe in den 1920er-Jahren ein soziales Fundament erhalten, das die Brüder näher auf Augenhöhe brachte. Erst Stalin setzte dem ukrainischen Nationalkommunismus ein Ende, als er die Ukraine zum Risikofaktor für den Fünfjahrplan erklärte. Kappeler weist den Genozidbegriff von sich, mit dem die von Stalin induzierte Hungerkatastrophe der frühen 1930er-Jahre zuweilen beschrieben wird; doch Terror und Hungersnot richteten sich auch in Kappelers Deutung gezielt gegen die neue ukrainische Elite. Der „Große Bruder“ kehrte zurück und er bestimmte auch die Lesart nach 1945.". . . . . . . . . . .. ..... . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .
"Trotz dieses gemeinsamen Anteils, Leid und Sieg gegen Nazi-Deutschland ist der zweite Weltkrieg heute Gegenstand heftiger erinnerungspolitische Kontroversen zwischen Russland und der Ukraine. Auch innerhalb der Ukraine wird der zweite Weltkrieg unterschiedlich bewertet. Die wichtigste Ursache für diese Kontroversen liegt darin, dass die Bevölkerung der Westukraine, die erst 1939 gewaltsam in die Sowjetunion eingegliedert worden war, wenig Loyalität gegenüber Moskau zeigte.

Im Gefolge des Hitler – Stalin – Paltes (und seines Zusatzprotokolls) besetzte die Rote Armee im September 139 das östliche Polen und mit ihm Galizien und West-Wolhynien. Galizien hatte nie zum Zarenreich gehört." ( S.178)

 Großer Vaterländischer Krieg oder antisowjetischer Befreiungskampf . . . . . . . . . . . . . 175

"Nicht nur in der Westukraine, sondern auch in den zentralen Regionen, die als Reichskommissariat Ukraine organisiert wurden, und im Osten, der der Militärverwaltung unterstellt war, arbeiteten zahlreiche Ukrainer als Hilfswillige für die Deutschen, in der Hilfspolizei, in Schutzmannschaften und in der Lokalverwaltung. Dabei wurden sie in der Regel gegenüber ethnischen Russen bevorzugt. Unter der breiten Bevölkerung zerstörte die brutale deutsche Besatzungspolitik aber rasch anfängliche Illusionen. (S. 180)

"In der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland war und ist die Vorstellung von den Ukrainern als Kollaborateuren und Banderisten [...] weit verbreitet. Sie wird von der russischen Propaganda geschürt, die den Krieg gegen die Ukraine als Neuauflage des Krieges gegen 'die ukrainischen Faschisten' und 'geistigen Erben Banderas, des Handlangers von Hitler im zweiten Weltkrieg', inszeniert.

In der Ukraine wird ihre Rolle unterschiedlich bewertet. Während OUN und UPA in Galizien von vielen Ukrainern als Helden im Befreiungskampf gegen die sowjetische Herrschaft verehrt wurden und noch werden, galten und gelten sie vielen Ukraine im Osten und Süden des Landes als Verräter. Präsident Juschtschenko  initiierte eine offizielle Neubewertung des Zweiten Weltkrieges, der auch als nationaler Befreiungskampf der Ukraine gegen die Sowjetunion anerkannt werden sollte." (S.181/182)

 Von der Völkerfamilie zum Sowjetvolk . . . . . . . . . 183                                                        Russland und die Ukraine als Totengräber der Sowjetunion . . . . . . . . .. . . . . . . 192 

Die Reformen, die der 1985 zum Generalsekretär der KPDSU gewählte Gorbacev (geb. 1931) [Gorbatschow]  unter den Slogans Perestroika (Umbau) und Glasnost' (Transparenz) anstieß und die eine Modernisierung der Sowjetunion, deren wirtschaftliche Rückständigkeit immer offensichtlicher geworden war, zum Ziel hatten, führten in wenigen Jahren zu einer schweren Wirtschaftskrise und zur Delegitimierung der sowjetischen Ordnung. In heftigen Geschichtsdiskussionen fiel ein ideologisches Tabu nach dem anderen, und selbst der Gründungsmythos der Oktoberrevolution und die Person Lenins gerieten unter Beschuss. 1989 wurden erstmals seit 1917 weitgehende freie Parlamentswahlen durchgeführt [...]" (S. 192)


 9. Feindliche Brüder? Die Konfrontation der beiden postsowjetischen Staaten . . . 199 Die Unabhängigkeit der Ukraine und die Reaktion Russlands . . .. . . . . . . 199   Kontroversen und Kompromisse . . . . . . . . . . . . . 203  

"Die Schwarzmeerflotte und die militärische Infrastruktur wurden zwischen beiden Staaten aufgeteilt, wobei der Ukraine 18 Prozent der Marine zugesprochen wurden. Der größere Teil von Sevastopol mit der russischen Flottenbasis blieb zwar Staatsgebiet der Ukraine, wurde aber von Russland bis 2015 gepachtet. 2010 wurde der Pachtvertrag bis zum Jahr 2047 verlängert." (S.206)

"Dabei blieb der Begriff Russen mehrdeutig. Um Staatsbürger konnte es sich nicht handeln, denn eine russlandische Staatsbürgerschaft gab es erst nach dem Ende der Sowjetunion. Gemeint waren mit Russen die Personen russischer Nationalität oder/und die Russischsprachigen. Die Nationalität war nur in der Sowjetunion eine offizielle, in den Volkszählungen erhobene und im Inlandpass eingetragene Kategorie, die in der Regel vererbt wurde, im Fall von Mischeben auch geändert werden konnte. Sie war nicht gleichzusetzen mit der Kategorie der Mutter- oder Umgangssprache, die in den Volkszählungen ebenfalls erhoben wurde. So wurden die Juden der Sowjetunion als eigene Nationalität geführt, obwohl fast alle Russisch als Muttersprache hatten. In der unabhängigen Ukraine machten die Angehörigen der ukrainischen Nationalität 78 Prozent aus, doch war etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung vorwiegend russischsprachig, wobei Zweisprachigkeit weit verbreitet war. Die Kategorie der Nationalität verlor in den postsowjetischen Staaten ihren offiziellen Status, doch wurde sie in den Zählungen weiter erhoben, und sie wurde als politische Waffe eingesetzt. (S.207)                        

 Die Orange Revolution von 2004: Juščenko, Janukovyč und Putin . 212                            Die Revolution des Euro- Majdan . .                         .219                                                          Das militärische Eingreifen Russlands – Versuch einer Deutung . . . . .222                              Putins Begründungen zur Rechtfertigung des Anschlusses der Krim .  226 

10. Feinde statt Brüder: Russlands Krieg gegen die Ukraine . . . . .232 

Die Ukraine und Russland in der ersten Phase des Krieges (2014 bis 2021)  . 232

Der Krieg im Donbass veränderte die Einstellung der ukrainischen Bevölkerung zu Russland und den Russen. Die meisten Ukrainer, auch im Osten und Süden des Landes, betrachteten die Russen nun nicht mehr als Brüder, sondern als Feinde. [...] Die ukrainische Regierung ergriff Maßnahmen gegen die russische Propaganda und schränkte die Tätigkeit russischer und teilweise auch russischsprachiger Medien ein. Manche Ukrainer,  vor allem Bewohner der umkämpften Gebiete im Donbass, die unter dem Krieg besonders litten und sich teilweise von Kyjiv im Stich gelassen fühlten, glaubten der durch das russische Fernsehen verbreiteten Propaganda, laut der die Ukraine der Aggressor sei." (S.234)

             Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2022 . .  242                                  Putins Begründungen und Rechtfertigungen des Kriegs . . . . . . . 255 

11. Russland, die Ukraine und Europa . . . . . . . . . . 264

Keine Kommentare: