Helmut Schmidt/Giovanni di Lorenzo: Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt, 2009/2010; 15. Aufl. 2011
Zitate:
Von der Kubakrise bis zum Nato-Doppelbeschluss
[...] bestand zur Zeit Ihrer Kanzlerschaft wirklich die Gefahr eines Atomkriegs, wie wir damals alle glaubten?
Seit der Kubakrise 1962 keine akute Gefahr. [...]
In diesem Zusammenhang sollte ich erwähnen, dass ich die nukleare Gefahr schon lange vorher sehr deutlich gesehen habe. Als ich 1969 Verteidigungsminister wurde, stieß ich auf Pläne der NATO und der deutschen Militärs, entlang der Zonengrenze auf westdeutscher Seite Hunderte atomarer Landminen zu vergraben.
Von wem stammte denn dieser irrsinnige Plan?
Von der NATO. Gemeinsam mit einem Amerikaner habe ich diesen todgefährlichen Unfug beseitigen können. Der Amerikaner hieß Melvin Laird, er war damals amerikanischer Verteidigungsminister. [...]
Ich habe gesagt, wenn irgendein kommunistischer Kommandeur in der Verfolgung irgendwelcher flüchtigen Leute über die Grenze rüberkommt und eine atomare Mine geht hoch, dann heben alle deutschen Soldaten die Hände hoch, dann ist Schluss mit der Verteidigung. Dieses Argument hat den amerikanischen Verteidigungsminister überzeugt. Er war genau wie ich ein alter Soldat und wusste, was man Soldaten zumuten kann und was nicht.
Verstehe ich nicht.
Sogar die japanischen Soldaten haben nach der ersten Bombe die Hände hochgehoben. Die zweite Bombe auf Nagasaki war gar nicht mehr notwendig.
Die Massendemonstration im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung amerikanischer Raketen in Deutschland wurde als regelrechte Anti-Schmidt-Demonstration verstanden, das war im Jahr 19 81.
Die war auch wohl so gemeint. Aber es war im wesentlichen die Angst vor dem Atomkrieg. Die Anti-Schmidt-Komponente spielte eine zweit- oder drittklassige Rolle; denn mein Amtsnachfolger Helmut Kohl musste etwa später eine gleiche Demonstration aushalten.
Wissen Sie noch, was Willy Brandt damals zu den Protesten von mehr als 300.000 Menschen gesagt hat?
Ich erinnere mich nicht.
Er habe auf deutschem Boden schon Schlimmeres gesehen als eine Massendemonstration für den Frieden.
Ja, das würde ich unterschreiben. Ich habe auf deutschem Boden auch schon viel Schlimmeres gesehen. Willy Brandt hat es von draußen gesehen.
Nimmt das Brands Worten etwas?
Keineswegs. Wohl aber hat der NATO-Doppelbeschluss, gegen den die beiden Demonstrationen sich richteten, zum allerersten Abrüstungsvertrag und auf beiden Seiten zur Beseitigung aller atomare Mittelstreckenraketen geführt."
(29. November 2007, S.91-93)
Zum Parteiensystem in Deutschland
"[...] bekommen wir politisch in Deutschland bald italienische Verhältnisse: immer mehr Parteien und Koalitionsmöglichkeiten?
Es gibt eine Übereinstimmung zwischen Italien und Deutschland. [...] Die gleiche Übereinstimmung gibt es aber auch mit Frankreich, Belgien oder Holland. Im deutschen Fall fallen immerhin alle Stimmen für jene Splitterparteien unter den Tisch, die weniger als 5 Prozent erreichen. Aber theoretisch könnten wir im Bundestag bis zu 19 Parteien haben, wenn jede 5,1 Prozent erhält. Das Verhältniswahlrecht zwingt überall zu Koalitionsbildung, weil es zu viele Parteien hervorbringt. [...]
Das Auftreten einer zusätzlichen Partei führt in Hessen zu einer Blockade.
Das ist eigentlich nicht so schlimm. Die 16 Bundesländer brauchen nicht notwendig Regierung und Opposition; notwendig ist eine anständige Verwaltung und ebenso ein Landtag, der die Verwaltung sorgfältig überwacht. Das Problem der Koalitionsbildung stellt sich im Bund, denn in Berlin muss wirklich regiert werden. Zur Zeit ist es mit der großen Koalition gelöst.
Die einige der Beteiligten längst überhaben.
Einige Leute an der Spitze reden so, als ob sie die Koalition nicht mehr wollten. Sie setzen Sie aber fort. [...]
Glauben Sie, dass die SPD mit der Linken einmal koalieren wird? Sehen Sie das schlimm?
Die Frage ist, ob es die Linkspartei noch ein paar Jahrzehnte geben wird. Davon bin ich gar nicht überzeugt.
(21. Februar 2008, S.128-130)
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