"[...] Was war der Schott? Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Beuroner Benediktiner Anselm Schott, das Messbuch der Kirche ins Deutsche übertragen. Es gab Ausgaben nur in deutscher Sprache, solche, in denen ein Teil der Texte lateinisch und Deutsch abgedruckt war, und solche, in denen der gesamte lateinische und daneben der deutsche Text dargeboten wurde. Ein fortschrittlicher Pfarrer hatte meinen Eltern zu ihrem Hochzeitstag 1920 den Schott geschenkt; so war das Gebetbuch in unserer Familie von Anfang an gegenwärtig. Unsere Eltern haben uns früh geholfen, den Zugang zur Liturgie zu finden. Es gab einen an das Missale angelehntes Kindegebetbuch, in dem der Fortgang der Heiligen Handlung in Bildern dargestellt war, so dass man dem Geschehen gut folgen konnte. Dazu gab es jeweils ein Gebetswort, in dem das Wesentliche der einzelnen Abschnitte der Liturgie aufgenommen und kindlichem Beten zugänglich gemacht war. Als nächste Stufe erhielt ich einen Schott für die Kinder, in dem schon die wesentlichen Texte der Li/turgie selbst abgedruckt waren; dann den Sonntags-Schott, in dem nun die Liturgie der Sonn- und Feiertage vollständig dargeboten wurde, schließlich das vollständige Messbuch für alle Tage. Jede neue Stufe im Zugehen auf die Liturgie war ein großes Ereignis für mich. Das jeweils neue Buch war eine Kostbarkeit, wie ich sie mir nicht schöner träumen konnte. Es war ein fesselndes Abenteuer, langsam in die geheimnisvolle Welt der Liturgie einzudringen, die sich da am Altar vor uns und für uns abspielte. Immer klarer wurde mir, dass ich da einer Wirklichkeit begegnete, die nicht irgend jemand erdacht hatte, die weder eine Behörde noch ein großer einzelner geschaffen hatte. Dieses geheimnisvolle Gewebe von Text und Handlungen war in Jahrhunderten aus dem Glauben der Kirche gewachsen. Es trug die Fracht der ganzen Geschichte in sich und war doch zugleich vielmehr als Produkt menschlicher Geschichte. Jedes Jahrhundert hatte seine Spuren eingetragen: Die Einführungen ließen uns erkennen, was in der frühen Kirche, was aus dem Mittelalter, was aus der Neuzeit stammte. Nicht alles war logisch, es war manchmal verwinkelt und die Orientierung gewiss nicht immer leicht zu finden. Aber gerade dadurch war dieser Bau wunderbar und war er eine Heimat. Natürlich habe ich das als Kind nicht im einzelnen erfasst, aber mein Weg mit der Liturgie war doch ein kontinuierlicher Prozeß, eines Hineinwachsens, in eine alle Individualitäten und Generationen übersteigende große Realität, die zu immer neuem Staunen und Entdecken, Anlaß wurde. Die unerschöpfliche Realität der katholischen Liturgie hat mich durch alle Lebensphasen begleitet; so wird auch immer wieder die Rede davon sein müssen." (S.22/23).
Joseph Kardinal Ratzinger: Aus meinem Leben, DVA 1998
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