In "Ein Tag im Jahr" hat Christa Wolf seit ihrem 31. Lebensjahr immer wieder ihr Leben dokumentiert und das Denken, das zu diesem Leben gehörte. Das ist mutig.
Ich komme immer wieder auf das Buch zurück, versuche dabei auch, Stellen zu finden, die ich vielleicht noch nicht gelesen habe, finde aber in der Phase relativ kurz (5-10 Jahre) vor dem 9.11.1989 und und der Phase danach (5-10 J.) immer wieder so viel, was mich beeindruckt, dass ich den Eindruck, festhalten und vertiefen möchte.
In ihrem Gespräch mit Günter Gaus 1993 spricht sie von Krisen, teilweise klinischer Depression, die ihr dazu verholfen haben, nach Phasen der Anpassung zu sich selbst zu finden. Die Art, wie sie das tut, vermittelt einen sehr unmittelbaren Eindruck, den ich als Verstärkung zu dem schriftlich Festgehaltenen der Lektüre noch hinzufügen möchte.
Gaus fragt, wie man es von ihm kennt, hart.
Im Tagebucheintrag von 1999 wird deutlich, dass sie schon länger mit ihm befreundet ist. Es geht um die Zeit nach seiner 3. Chemotherapie, er sagt auf Band "es gehe 'ganz gut' " und "er fragt, ob wir uns am 10. Oktober, dem Wahlsonntag, bei uns sehen können. Ich denke sehr oft an ihn, mir liegt so viel daran, daß er die Krankheit 'besiegt' - aber ist das nicht schon wieder ein Wort aus einer ganz falschen Kategorie für den Vorgang, den ich so sehr für ihn erhoffe?"
Wenn man das Gespräch hört, ist klar, dass Gaus - wie eigentlich immer in diesen Gesprächen - seine Gesprächspartnerin dazu bringen will, dass sie sich deutlich darstellt. Ich frage mich, ob er es vielleicht sogar im Bewusstsein tut, dass sie durch die Art, wie sie auf diese harten Fragen reagiert, beim Zuschauer und -hörer gewinnt. Gerade in einer Situation, wo sie wegen der Anfeindungen bewusst Abstand von der deutsche Öffentlichkeit gesucht hat, sich mit dem Interview aber auch wieder hineinbegibt.
Ich möchte empfehlen, Die Lektüre von "Ein Tag im Jahr" mit dem Sehen und Hören des Interviews zu verbinden.
Mein Eindruck ist, dass mit "Fridays for Future" etwas von der Veränderung von unten herauf passiert ist, die sich Wolf am Ende des Gesprächs erhofft, und dass mit der Verurteilung der Parteinahme Greta Thunbergs für die angegriffenen Palästinenser auf dem Gazastreifen etwas von dem passiert ist, was Christa Wolf widerfahren ist, als ihr ihre IM-Tätigkeit vorgeworfen wurde.
Die moralische Autorität, die beide Frauen durch ihren mutigen Einsatz für eine grundlegende Veränderung gewonnen haben, soll ihnen genommen werden, weil man sonst nicht weitermachen könnte wie bisher.
Christa Wolf gefährdete das Gefühl, mit dem Westen habe das Gute über das Minderwertige gesiegt. Greta Thunberg verdeutlicht zu sehr die Herausforderung, die die Klimakatastrophe bedeutet.
Diese Parallele sehe ich persönlich. Aber auch ohne das scheint mir die Verbindung der Lektüre von "Ein Tag im Jahr" in Verbindung mit Wolfs Gespräch mit Gaus sehr fruchtbar.
Ganz allgemein scheinen mir die Gespräche von Günter Gaus mit Persönlichkeiten aus der ehemaligen DDR wertvoll für ein Verständnis der heutigen Situation:
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