24 August 2025

Richard D. Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise ist ein im Jahr 2007

 Richard D. Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise,  2007 

"Das Buch ist in drei Hauptfragen gegliedert, unter denen insgesamt 34 Kapitel ausgeführt werden.

  • Der Frage Was kann ich wissen? sind neun Kapitel gewidmet (von Was ist Wahrheit? bis Was ist Sprache?).
  • Die Frage Was soll ich tun? wird in 16 Kapiteln behandelt (von Brauchen wir andere Menschen? bis Was darf die Hirnforschung?).
  • Der Frage Was darf ich hoffen? wird in neun Kapiteln nachgegangen (von Gibt es Gott? bis Hat das Leben einen Sinn?).

Auftakt der einzelnen Kapitel sind oft biographische Hinweise und Kuriositäten zu den Philosophen und Forschern, mit deren Lehren oder Theorien sich Precht im Folgenden auseinandersetzt." (Wikipedia)

Charles Darwin: Interesse für Biologie in Cambridge über William Paleys Natürliche Philosophie geweckt. (Gott als Uhrmacher als Beweis für intelligentes Design) (S.288ff.)

22 August 2025

Miloslav Stingl : Die Inkas

 Miloslav Stingl : Die Inkas

Geschichte Perus

Wikipedia: "[...] Möglicherweise bereits um 40.000 v. Chr. wanderten über die damals trockene Beringstraße Menschen vom asiatischen Kontinent ein und besiedelten den amerikanischen Kontinent. Die Einwanderung in Südamerika erfolgte demnach etwa 20.000 bis 10.000 v. Chr. Jedenfalls stammen aus diesem Zeitraum die Höhlenmalereien in der Gegend um die Stadt Ayacucho und den Lauricocha-Höhlen an der Quelle des Rio Marañón, die 1957 gefunden wurden.

Die ältesten bisher bekannten Monumentalbauten der Norte-Chico-Kultur stammen aus der Zeit um 3200 v. Chr.[4] Stufenförmige Pyramiden, Prozessionsstraßen und riesige eingefasste Höfe fanden sich in Sechín Bajo im Casmatal, 370 Kilometer nördlich der Hauptstadt Lima.[5] Die 1992 entdeckte Fundstätte wird seit 2003 von deutschen Archäologen ausgegraben. Als gesichert gilt, dass die Kultur Mais, Erdnüsse, Maniok und Kürbisse anpflanzte und künstliche Bewässerung kannte.[...]"

"Die keramischen Schöpfungen der Nazca sind stets unglaublich reich mit Materialmalereien geschmückt. Als ob die Nazca-Töpfer von einer geradezu panischen Angst besessen gewesen wären, nur ja keine Stelle des Gefäßes unbemalt zu lassen. Die Malereien sind von zweierlei Art. Es gibt realistische und mythologische. Die realistischen stellen zumeist verschiedene stilisierte Bilder von Pflanzen und Feldfrüchten dar [...] Besonders häufig haben die dortigen Töpferkünstler einen Musikanten dargestellt, den die Archäologen mitunter scherzhaft den Orchestermenschen oder die Ein-Mann-Kapelle nennen. Dieser sitzende musikalische Alleskönner, der auf so vielen Gefäßen der Nazca zu sehen ist, bläst mit dem Mund auf einer Panflöte und mit dem Ohr (!) auf einer großen Trompete, die er in der einen Hand hält, in der anderen Hand schwingt er eine aus einem Kürbis [S.105/106] gefertigte Rassel, und auf seinen Beinen liegt eine Trommel, die dieser fantastische Musikant mit dem einzigen Körperteil schlägt, das noch übrig geblieben ist – mit seinem steifen männlichen Glied.
Neben diesen realistischen, manchmal wirklich entzückenden Motiven auf der Nazca-Keramik sind die Gefäße dieser südperuanischen Indianer, auch mit unvergleichlich komplizierten Malereien verziert, die die Hauptgestalten ihrer religiösen Vorstellungswelt darstellen: mit Bildern jener 'Sphinxe', halb tierischer, halb menschlicher Dämonen, und mit Bildern jener katzenartigen Hauptgottheit, die manchmal ein maskenhaftes Menschengesicht und mitunter sogar eine Art Bart trägt." (S.104/06)

"Die Nazca-Linien, oft auch Nasca-Linien geschrieben, sind über 1500 riesige, nur aus der Luft und von umliegenden Hügeln aus sicht- und erkennbare Scharrbilder (Geoglyphen) in der Wüste bei Nazca und Palpa in Peru. Benannt sind die Linien, die Wüste und die Kultur nach der unweit der Ebene liegenden Stadt Nazca. Als Urheber der Linien gelten die Paracas-Kultur und die Nazca-Kultur. Die Nazca-Ebene zeigt auf einer Fläche von 500 km² schnurgerade, bis zu 20 km lange Linien, Dreiecke und trapezförmige Flächen sowie Figuren mit einer Größe von etwa zehn bis mehreren hundert Metern, z. B. Abbilder von Menschen, Affen, Vögeln und Walen. Oft sind die figurbildenden Linien nur wenige Zentimeter tief. Durch die enorme Größe sind sie nur aus großer Entfernung zu erkennen, von den Hügeln in der Umgebung oder aus Flugzeugen.[1]

Eine systematische Erkundung und Vermessung zusammen mit archäologischen Grabungen zwischen 2004 und 2009 im Umfeld und zum Teil in den Linien konnte ihre Entstehung und ihren Zweck mit hoher Wahrscheinlichkeit klären: Es handelt sich demnach um Gestaltungen im Rahmen von Fruchtbarkeitsritualen, die zwischen 800 v. Chr. und 600 n. Chr. angelegt und durch periodische Klimaschwankungen veranlasst wurden.[2][3]"

Stingl (S.119-126)


Maria Reiche (Erforscherin der Nazca-Linien)

Geschichte Perus

Wikipedia: "[...] Möglicherweise bereits um 40.000 v. Chr. wanderten über die damals trockene Beringstraße Menschen vom asiatischen Kontinent ein und besiedelten den amerikanischen Kontinent. Die Einwanderung in Südamerika erfolgte demnach etwa 20.000 bis 10.000 v. Chr. Jedenfalls stammen aus diesem Zeitraum die Höhlenmalereien in der Gegend um die Stadt Ayacucho und den Lauricocha-Höhlen an der Quelle des Rio Marañón, die 1957 gefunden wurden.

Die ältesten bisher bekannten Monumentalbauten der Norte-Chico-Kultur stammen aus der Zeit um 3200 v. Chr.[4] Stufenförmige Pyramiden, Prozessionsstraßen und riesige eingefasste Höfe fanden sich in Sechín Bajo im Casmatal, 370 Kilometer nördlich der Hauptstadt Lima.[5] Die 1992 entdeckte Fundstätte wird seit 2003 von deutschen Archäologen ausgegraben. Als gesichert gilt, dass die Kultur Mais, Erdnüsse, Maniok und Kürbisse anpflanzte und künstliche Bewässerung kannte.

In Grabungsschichten aus der Zeit um 1700 v. Chr. fanden sich zudem zahlreiche Ritzzeichnungen, die ein Mischwesen aus Kaiman und Mensch darstellen. Da französische Archäologen im Osten Ecuadors Relikte einer Kultur fanden, die gleichfalls den Kaiman darstellte, und die auf 2450 v. Chr. datiert wurden, könnten kulturelle Einflüsse aus dem Dschungelgebiet die Kultur von Sechin inspiriert haben. In den Anden konnten jedenfalls keine Kaimane leben, daher liegt der Verdacht nahe, dass diese Kultur aus den Niederungen am Ostrand der Anden stammte.

Um 4000 v. Chr. begann die Züchtung von Lamas.


Die Stadt Caral ist nach heutigem Kenntnisstand die älteste Stadt auf dem amerikanischen Kontinent.[6][7] Die dortige Stufenpyramide wurde 2001 auf das Jahr 2627 v. Chr. datiert. Gefunden wurden Häuser für zumindest 3000 Menschen, Amphitheater und Tempelanlagen. Weitere Funde beweisen, dass die Bevölkerung Handel mit den Küsten- und Amazonasgebieten trieb.

Die Kultur von Chavín de Huántar existierte etwa 800 v. Chr. bis 300 v. Chr. Die in der Huántar-Kunst verwendeten Motive JaguarPumaVogel und Schlange, legen eine Verbindung zur Olmeken-Kultur nahe. In denselben Zeitrahmen fällt die durch ihre Mumien bekannte Paracas-Kultur in der Gegend um die Hauptstadt. Es ist allerdings unklar, ob in dieser Gegend wirklich eine eigene Kultur existierte oder die Toten wegen der trockenen, konservierenden Luft von weit her herangeschafft wurden.

Um den Titicacasee bestand von etwa 1500 v. Chr. bis 1200 n. Chr. die Tiahuanaco-Kultur. Ob es tatsächlich ein Tiahuanaco-Reich gegeben hat, ist nicht geklärt. Spuren dieser Kultur finden sich zudem in Bolivien und im Norden Chiles.

Im engen Zusammenhang dürfte die Wari-Kultur stehen, die viel später um die Stadt Ayacucho existiert hat.



Um 200 v. Chr. bis 600 n. Chr. finden sich Spuren der so genannten Nazca-Kultur, die nach dem Ort Nazca, etwa 500 km südlich von Lima benannt wurde. Auf sie gehen die vieldeutigen Nazca-Linien zurück. Auch diese Kultur basierte auf künstlicher Bewässerung, worauf zahlreiche Bewässerungskanäle hinweisen.

Zwischen dem 1. und dem 8. Jahrhundert existierte im Norden die Mochica-Kultur, die im Wüstenstreifen an der Pazifikküste Landbau mit ausgeklügelten Bewässerungssystemen betrieb. Sowohl die Keramik als auch die Metallverarbeitung waren hoch entwickelt. Neben Gold und Silber wurde Kupfer verarbeitet. Es bestanden mehrere Fürstentümer, die möglicherweise infolge eines El-Niño-Ereignisses untergingen.

In der Zeit von 1250 bis 1470 dominierten die Chimús mit der riesigen Hauptstadt Chan Chan in der Gegend um Trujillo, im nordwestlichen Teil des heutigen Perus. Ihre Fähigkeiten im Kunsthandwerk waren weniger ausgeprägt. Sie legten mehr Wert auf die Serienproduktion von Nutzgegenständen. Es gelang ihnen, die steigende Einwohnerzahl mittels gewaltiger Bewässerungssysteme zu versorgen. (Wikipedia)

Martin Geck: Matthias Claudius

 Martin Geck: Matthias Claudius (Perlentaucher)

Die ländliche Idylle, die Dichterfreunde aus dem Hainbund, sie gerade fertig mit dem Studium, er junger Ehemann.
Sein "Nachbar" in Wandsbeck mit seinem Schloss der Großunternehmer und Sklavenhändler Schimmelmann.
Dazu die Armut und die Suche nach Mäzenen, um ihr zu entgehen.
Eine eindrückliche Lektüre. 


Täglich zu singen
Ich danke Gott und freue mich
Wie's Kind zur Weihnachtgabe,
Daß ich bin, bin! Und daß ich dich,
Schön Menschlich Antlitz! habe;

Daß ich die Sonne, Berg und Meer,
Und Laub und Gras kann sehen,
Und Abends unterm Sternenheer
Und lieben Monde gehen;

Und daß mir denn zu Muthe ist,
Als wenn wir Kinder kamen,
Und sahen, was der heil'ge Christ
Bescheeret hatte, Amen!

Ich danke Gott mit Saitenspiel,
Daß ich kein König worden;
Ich wär geschmeichelt worden viel,
Und wär vielleicht verdorben.

Auch bet' ich ihn von Herzen an,
Daß ich auf dieser Erde
Nicht bin ein grosser reicher Mann,
Und auch wohl keiner werde.

Denn Ehr' und Reichthum treibt und bläht,
Hat mancherley Gefahren,
Und vielen hat's das Herz verdreht,
Die weiland wacker waren.

Und all das Geld und all das Gut
Gewährt zwar viele Sachen;
Gesundheit, Schlaf und guten Muth
Kann's aber doch nicht machen.

Und die sind doch, bey Ja und Nein!
Ein rechter Lohn und Segen!
Drum will ich mich nicht groß kastey'n
Des vielen Geldes wegen.

Gott gebe mir nur jeden Tag,
So viel ich darf zum Leben.
Er giebt's dem Sperling auf dem Dach;
Wie sollt' ers mir nicht geben!

An den Tod

An meinem Geburtstage

Lass mich, Tod, lass mich noch leben! –
Sollt ich auch wenig nur nützen,
Werd ich doch weniger schaden,
Als die im Fürstenschoß sitzen
Und üble Anschläge geben,
Und Völkerfluch auf sich laden;
Als die da Rechte verdrehen,
Statt nach den Rechten zu sehen;
Als die da Buße verkünden,
Und häufen Sünden auf Sünden;
Als die da Kranken zu heilen,
Schädliche Mittel erteilen;
Als die da Kriegern befehlen,
Und grausam ihnen befehlen;
Der Helden Kriegskunst nichts nützen,
Um Länder weise zu schützen.
Tod, wenn sich diese nicht bessern,
Nimm sie aus Häusern und Schlössern!
Und wenn du sie nun genommen,
Dann Tod, dann sei mir willkommen.


Diese Gedichte sind Ausdruck von Bescheidenheit

und damit wohl auch vom Wunsch, nicht überfordert zu werden.


21 August 2025

Günter Gaus und Christian Klar

Nachwort von Bettina Gaus, der Tochter von Günter Gaus, zu dessen Autobiografie: Widersprüche. Erinnerungen eines linken Konservativen, 2004, S.329-345

 "[...] Ungeschrieben bleibt auch das letzte Kapitel seiner Erinnerungen. Es sollte die Überschrift tragen: "Klar". Noch einmal widerfuhr meinem Vater im Dezember 2001, was ihm [S.344/345] im Laufe seines Lebens so oft widerfahren ist: Er interessierte sich für ein Thema, er sah eine berufliche Herausforderung – und er fand einen Menschen. Im Besucherraum des Gefängnisses Bruchsal in Baden-Württemberg führte er für seine Reihe "Zur Person", das erste Fernsehinterview mit dem ehemaligen RAF-Terroristen, Christian Klar, der zu diesem Zeitpunkt seit neunzehn Jahren inhaftiert war.

Nervös wirkte der damals Neunundvierzigjährige auf ihn. Die erkennbare Mühe, die es dem Häftling bereitete, sich zu konzentrieren, hat meinen Vater tief verstört. Er konnte keinen Sinn in einer Fortdauer der Haft mehr sehen. Weder den der Resozialisierung noch den der Vereitelung weitere Straftaten. Er sah nur einen Mann, dessen Taten er missbilligte, und für dessen Recht auf eine eigene, wenigstens in Teilen noch selbstbestimmte Biografie er bis zur letzten eingetreten ist.

Ich habe meinen Vater nur sehr selten weinen sehen. Als er mir erzählte, dass Klar auf einer Postkarte um Gnade gebeten hat, die ein Segelschiff zeigte, da weinte er. Er hat das Maß der Sehnsucht nach Freiheit, das er aus diesem Motiv herausgelesen hat, nur schwer ertragen. Seinen diskreten Bemühungen um eine Begnadigung des Gefangenen blieb der Erfolg versagt. Das hat er nicht mehr erleben müssen. Es war uns, seiner Familie vergönnt, ihn an seinem Todestag – an dem er sich zum letzten Mal nach dem Stand der Dinge erkundigte – wahrheitsgemäß zu sagen, die Angelegenheit sei noch nicht entschieden. Das ist sie, wenn man so will, noch immer nicht. Nichts ist endgültig, solange Menschen leben.

Berlin, im Juni 2004"


Zum Interview von Gaus von 2001:

  Klar: Die RAF hat bewusst aus der Position der Minderheit gekämpft. Man muss ja nicht auf eine Massenbasis setzen. Die RAF ist von den Widersprüchen ausgegangen und hat die Taktik Stadtguerilla benutzt, um einen Bruch herzustellen.
   Gaus: In der 3. Welt war für uns Gewalt verständlich, aber in Europäischen Gesellschaften nicht. 
  Klar: Ein polit. Konzept, das auf Freiheit aus ist, hat guten Grund, abstrakt zu sein. Der einzelne muss das Konkrete ja selbst ausgestalten. Ich habe Illegalität als große Freiheit erlebt. Das Lebensgefühl war frei, man war für alles verantwortlich. Mit der Gefangenschaft war man in der Hand des Feindes. 
  Gaus: Eine Hoffnung für später?  Klar: Mit Leuten zusammenkommen, mit denen man darüber sprechen kann.


18 August 2025

Wichtige Sachbücher des 21. Jahrhunderts

2024 Was wir von der Welt wissen sollten von Jens Bott

2023 Triggerpunkte von Steffen MauThomas LuxLinus Westheuser

2022 Das Klima-Buch von Greta Thunberg und ca. 100 weiteren Autoren

2020 A Promised Land von Barack Obama

2019 Diese Wahrheiten von Jill Lepore

2018 Becoming - Meine Geschichte von Michelle Obama

         Der Pilz am Ende der Welt von Anna L. Tsing

2017 Die Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz

2014 Das Kapital im 21. Jahrhundert von Thomas Pickety

2012 Schnelles Denken, langsames Denken von Daniel Kahneman

* Gern schnell. Besser langsam. Gerade noch hatte der Mensch als rational gegolten, aber dann kam Kahneman. Und alles war ganz schön anders..Von  ZEIT Nr. 22/2025  23. Mai 2025

         2052. Der neue Bericht an den Club of Rome von Jørgen Randers

         Schulden von David Graeber

2011 Warum Liebe weh tut von Eva Illouz

2010 Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten von Neil MacGregor

2002 Empire von Michael Hardt und Antonio Negri


 Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften von Jared Diamond: 1999, Neuausgabe 2006.

Aufstieg und Fall der großen Mächte von Paul Kennedy,1987 TB 2000

13 August 2025

Hildegard von Spitzemberg

 Hildegard von Spitzemberg

"Hildegard Amalie Henriette Maria Freifrau von Spitzemberg[1] (* 20. Januar 1843 in  Hemmingen;   † 30. Januar 1914 in Berlin) war eine Berliner Salonnière der Bismarckzeit und des Wilhelminischen Zeitalters. [...] 

Bis 1866 eine scharfe Gegnerin Preußens, wandelte sich Baronin Spitzemberg nach dem preußischen Sieg über Österreich und die süddeutschen Staaten (vgl. Deutscher Krieg) bald zur enthusiastischen Befürworterin der deutschen Einigung unter preußischer Führung und zur glühenden Bewunderin Bismarcks. Der dänische Literat Georg Brandes, der um 1880 Berlin bereiste, schildert, ohne ihren Namen zu nennen, eine Unterhaltung mit der Baronin, die diesen Gesinnungswandel eindrucksvoll dokumentiert:

„In einer großen Gesellschaft vor einigen Tagen sprach die Gemahlin eines süddeutschen Gesandten mit einem Fremden über diese Eigenart des Norddeutschen, seine Individualität dem Staatsgedanken unterzuordnen; persönlich fühle sie sich von der Uniformierung der Gemüter abgestoßen; aber sie erkannte diese Entsagung an, die allzeit zu Opfern bereit war: 'Weil sie den Preußen in Fleisch und Blut übergegangen ist, sind sie geworden, was sie sind, und weil sie uns fehlt, sind wir mit all unsern lieben individuellen Eigenarten zu einem Nichts geworden.' [...] Eine derartige Äußerung ist ein Zeichen der Zeit. Ihr Vater war ein süddeutscher Premier, einer von denen, die vor 1866 Bismarck den hartnäckigsten Widerstand leisteten und große Zuversicht in Österreichs Sieg hatten [...] Die Tochter gehört jetzt zu Bismarcks engerem Kreis und zu seinen eifrigsten Bewunderinnen.[3]

Seit den frühen 1870er Jahren ging „Higa“ bei Bismarcks ein und aus wurde dem Reichsgründer eine vertraute Freundin und Gesprächspartnerin, ebenso seiner Gattin Johanna.[4] Allerdings nahm ihr Kontakt nach Bismarcks Entlassung 1890 und seinem Rückzug auf Schloss Friedrichsruh stark ab, wie sie selber 1895 schwermütig resümierte:

„Ich persönlich habe dem Fürsten geschrieben mit wenig Aussicht, dass er den Brief lese – er in seiner Einsamkeit und seinem Alter vergisst wohl allmählich die Menschen, die ihm nicht öfter wieder vor Augen treten, und seit die Fürstin tot ist, fehlt mir die Persönlichkeit, durch die ich meine Wünsche und Rechte könnte geltend machen. Marie [v. Bismarck] ist mir ganz entfremdet, die Söhne [Herbert und Wilhelm v. Bismarck] haben mir schon, als Bismarcks noch hier waren, ferne gestanden. Wäre ich ein Mann, ich säße irgendwo bei Friedrichsruh und genösse von A bis Z all das, was sich jetzt dort abspielt! So muss ich mich damit begnügen, es in Gedanken mit zu erleben.[5]

Die Meinungen über das Verhältnis der Frau von Spitzemberg zu Bismarck nach seiner Entlassung sind allerdings geteilt. Nach den, indessen nicht immer zuverlässigen, Memoiren des Fürsten Bülow gehörte sie

„zu den ersten, die von dem gestürzten Bismarck abschwenkten [...] Hildegard von Spitzemberg schloss sich mit solchem Enthusiasmus dem Nachfolger von Bismarck an, dass in dem grollenden Friedrichsruh spöttisch behauptet wurde, sie wolle den Hagestolz Caprivi [den unverheirateten Nachfolger Bismarcks als Reichskanzler, General Leo von Caprivi] heiraten, um Frau Reichskanzler zu werden.[6]

Jedenfalls steht sie Bismarck – mit der Zeit zunehmend – kritisch gegenüber; in ihrem Tagebuch beklagt sie „die Brutalität und Unbarmherzigkeit, mit der [die Familie Bismarck] so viele Menschen, groß und klein, in den Staub getreten“,[7] Bismarcks „Gewalttätigkeit und kleinliche Herrschsucht“,[8] „viel menschliche Versündigung“[9] und „viele kleine und kleinliche Seiten“ ihres „Helden“.[10]" [...]

Baronin Spitzemberg ist heute durch ihr Tagebuch bekannt, das sie seit ihrer frühen Jugend bis unmittelbar vor ihrem Tod führte und in dem sie die Situation der gesellschaftlichen Elite des Kaiserreiches sowie die politische Stimmung insbesondere ihrer eigenen Gesellschaftsschicht detailliert und kontinuierlich beschrieb, kommentierte und kritisierte. Dem Leser vermittelt die Lektüre neben den Fakten – wie höfischen Veranstaltungen, personellen Revirements und familiären Begebenheiten – vor allem den jeweiligen Eindruck, den Veränderungen in der politischen Elite und der Hofgesellschaft bei der Autorin und ihren Bekannten hervorriefen. Persönliche Emotionen, die über ein Niveau strenger bürgerlicher Zurückhaltung hinausgingen, spielen dagegen keine Rolle, es sei denn, sie betreffen Phänomene aus Politik und Gesellschaft.

Nicht zuletzt deshalb liegt der Schluss nahe, dass zumindest die reife Frau von Spitzemberg ihr Journal bewusst für die Nachwelt schrieb, worauf ebenso sein gehobener, ungewöhnlich gesetzter und durchweg „vorzeigbarer“ Stil hinweist; jedenfalls wurde es genau im Todesjahr der Tochter der Verfasserin, 1960, vom Historiker Rudolf Vierhaus an die Öffentlichkeit gebracht und bis heute mehrmals neu aufgelegt. Da es allerdings nur in Auszügen ediert wurde, ein Teil ihrer Aufzeichnungen also weiterhin in privaten und öffentlichen Archiven ruht, kann diese Vermutung nicht restlos bestätigt werden.

Da zahlreiche Aristokraten, Beamte, Offiziere und Politiker zu den Habitués der Spitzemberg zählten, sie selber wiederum bei allen wichtigen Berliner Persönlichkeiten verkehrte, stellen ihre Aufzeichnungen ein relativ dichtes Panorama und ein authentisches Sittenbild der Berliner beau monde dar, das die gesamte Zeitspanne von der Reichsgründung 1871 bis ins Jahr des Kriegsausbruchs 1914 umfasst. So ist das Tagebuch als Geschichtsquelle zur Erforschung der politischen und sozialen Mentalitäten des Kaiserreiches bis heute für die Geschichtswissenschaft „hoch einzuschätzen“:[16]

„Ein zwar persönlich bestimmter, aber bedeutsamer Ausschnitt deutscher Geschichte ist hier in dem zwar persönlich gefassten, aber doch allgemeines Interesse beanspruchenden Spiegel des Bewusstseins einer klugen Miterlebenden und der Berliner Hofgesellschaft aufgefangen [...] Der historische Wert des Tagebuchs der Baronin Spitzemberg beruht darauf, dass es Quelle für das Bewusstsein von Menschen, für ihr politisches und soziales Selbstverständnis ist.[17]

(Wikipedia)

Gustav R. Hocke: Europäische Tagebücher (S.217 ff.):

"[...] Diese fortschreitende Dekadenz von Staat und Gesellschaft und die Kämpfe der Jahre 1871 bis 1914 um eine parlamentarisch-demokratische Staatsform spiegelt sich in einem vorwiegend politischen, zwar 'privaten', aber nicht 'intimen' Frauentagebuch wider, das in dieser Beziehung heute schon klassischen Wert haben dürfte; in dem ebenso gescheiten wie farbigen Diarium der Baronin Spitzemberg. [...]

Die Brüche dieser Zeit erkennt Hildegard von Spitzenberg, vor allem aufgrund ihrer Erfahrungen in der damaligen Berliner Hofgesellschaft. Alle maßgebende Persönlichkeiten dieser exklusiven Machtgruppe werden portraitiert, meist mit knappen Formeln; dann durch Zitate, sowie durch eine Fülle von Indiskretionen und Anekdoten. Dabei bekundet die Baronin auch viel Sinn für die zwielichtige Atmosphäre dieser Zeit, für wechselnde Modeströmungen, für die Wandlungen der Gebräuche und Ansichten. [...] So nimmt sie oft auch in sehr kritischer Weise Stellung. Sie urteilt nicht nur. Sie verurteilt auch: den zunehmenden Dilettantismus und Amoralismus der Machtausübung, die materielle Profitgier und politische Selbstgerechtigkeit der aristokratische Gesellschaft der Gründerzeit, den Byzantinismus in der Umgebung Wilhelm II. Dabei legt Hildegard von Spitzenberg, bei einigem Interesse für Thea- [S.218/19]  ter und Kunst nicht gerade eine Tochter der Musen, auf literarische Form, keinen Wert. Aus diesem Grunde haben wir es mit einem ebenso echten Diarium wie mit einem wahren politischen Tagebuch zu tun. Einen besonderen Wert erhält es dadurch, dass Hildegard von Spitzenberg für ihre Informationen nicht auf das Couloir-Geflüster am Hof angewiesen war. Sie verkehrte bei Bismarck und seinen Nachfolgern. Kaiser Wilhelm I, kam zu ihr ins Haus. Die wichtigsten Beamten des Reiches, hohe Militärs, deutsche und ausländische Diplomaten, hatten zu ihr ein eigenartiges Vertrauen. Man hat das Gefühl, dass manche es liebten, sich bei ihr ganz einfach einmal auszusprechen, und sich nicht scheuten, sie auch um Rat zu fragen, vor allem in ihren letzten Lebensjahren. [...] Dass sie so genau Tagebuch führte, wussten wohl nur ihre nächsten Angehörigen. So füllte sie sechs Jahrzehnte lang achtundsechzig Schreibhefte in Quart von je rund zweihundertfünfzig Seiten, mit eigenen Beobachtungen und Meinungen, mit Berichten über Begebenheiten und vor allem über 'Hintergrund'-Geschehnisse. Eine [...] verborgene Diagnostikerin, die die abfallenden Kurven der 'Dekadenz'-Epoche (nach der Bismarckzeit einer ihrer Lieblingsausdrücke) aufzeichnete wie ein Arzt, die Fieberkurve eines Kranken." (S. 219).

12 August 2025

Zwei parodistische Wörterbücher

 Milorad Pavić: Das Chasarische Wörterbuch. Lexikonroman in 100.000 Stichworten (1984/88) – norberto42

Die gross Blocklaus - Das komplett erfundene Lexikon (2010) -  norberto42

Ignatius von Loyola

 Ignatius von Loyola

Die folgenden Textausschnitte aus den Geistlichen Übungen verfolgen nicht die Absicht, zu den geistlichen Übungen hinzuführen, sondern dienen nur dazu, zu zeigen, welcher Art der Text ist, mit dem Ignatius  in dreizehnjähriger Arbeit versucht hat, anderen eine ähnliche Gotteserfahreng zu ermöglichen, wie er selbst sie hatte. Wirksam werden können diese Übungen nur, wenn der Übende mindestens mit demselben Engagement wie ein angehender Hochleistungssportler daran geht, diese Erfahrung zu machen.

Ignatius: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas, Herder Verlag Imprimatur Freiburg 20.12.1966, 6. Aufl. 1967

Aus dem Vorwort von Karl Rahner:

"[...] Die unter den einfachen Worten des Buches verborgene Theologie gehört zu den wichtigsten Grundlagen des abendländischen Christentums der Neuzeit, ja, ist in der Schultheologie der Kirche und der üblichen Praxis der Frömmigkeit noch gar nicht völlig eingeholt, sondern hat noch eine große Zukunft. Denn bei aller Selbstverständlichkeit, mit der sich der hier skizzierte Vorgang einer totalen Lebensentscheidung auf dem Boden eines überlieferten Christentums und einer römisch-katholischen Kirchlichkeit abspielt, wollen diese Übungen den Menschen eine radikale Unmittelbarkeit zu Gott erfahren lassen, die für Ignatius auch alles Christliche und Kirchliche letztlich trägt und umfasst. Ignatius ist davon überzeugt, dass eine solche mystische Unmittelbarkeit zu Gott wirklich möglich ist. Diese Unmittelbarkeit zu Gott ist für Ignatius in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis in Einheit mit der Begegnung mit Jesus, dem Armen, Gekreuzigten und Auferstanden. Diese Unmittelbarkeit zu Gott ereignet, sich für Ignatius in der von / Gott, gegebenen existenziell in "Armut", realisierten Indifferenz, die biblisch Freiheit über alle Mächte und Gewalten heißt und im Mitvollzug des armen und in Gottes Unbegreiflichkeit hinein sterbenden Lebens Jesu geschieht. [...]"


Geistliche Übungen. (Exerzitien)
Anweisungen, um einige Einsichten in die folgenden geistlichen Übungen zu erlangen und um sowohl dem zu helfen, der sie zu geben, mit dem, dass sie aufzunehmen hat.

Erste Anweisung Unter dem Namen geistliche Übungen versteht man jede Art, das Gewissen zu erforschen, sich zu besinnen, zu betrachten, mündlich und rein geistig zu beten und andere geistliche Tätigkeiten, wie später noch erklärt wird. Denn so wie spazieren gehen, marschieren und laufen körperliche Übungen sind, gleicherweise nennt man geistliche Übungen, jede Art, die Seele vorzubereiten und dazu bereit zu machen, alle ungeordneten Neigungen von sich zu entfernen, und nachdem sie abgelegt sind, den göttlichen Willen zu suchen und zu finden, in der Ordnung des eigenen Lebens, zum Heil der Seele. 
Zweite Anweisung Die Person, die einer anderen Weise und Ordnung für die Besinnung (Meditation) oder Betrachtung (Kontemplation) vorlegt, muss die geschichtliche Tatsache für eine solche Betrachtung oder Besinnung wahrheitsgetreu erzählen, wobei sie die Punkte nur mit kurzer oder zusammenfassender Erklärung durchläuft; wenn nämlich die betrachtende Person, die unverfälschte (wahre) Grundlage der Geschichte erfasst, indem sie diese selbstständig überdenkt und Schlussfolgerungen zieht und hierbei irgendeine Sache neu entdeckt, welche die Geschichte ein wenig mehr aufhellt oder verkosten (sentir)  lässt – sei es durch das eigene, verstandesmäßig Eindringen, sei es, dass das Verständnis durch göttliche Kraft erleuchtet wird –, so bietet dies mehr Geschmack und geistliche Frucht, als wenn der, der die Übungen gibt, den Sinn der Geschichte viel erklärt und ausgeweitet hätte; denn nicht das Vielwissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von innen her./ [...]
Fünfte Anweisung Für den, der die Übungen macht, ist es von großem Nutzen, in sie einzutreten, mit großmütig Geist und Freiherzigkeit gegenüber seinem Schöpfer und Herrn, indem er ihm seine ganze Willenskraft und Freiheit darbringt, damit seine göttliche Majestät sich sowohl seiner Person wie alles dessen, was er besitzt, entsprechend ihrem heiligen Willen bediene. [...]" (S. 15/16). 

Zum vollständigen Text der Geistlichen Übungen (pdf)

Aus den Tagebüchern des Ignatius
Gustav René Hocke: Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten 566ff.
19.2.1544
"Als ich zur Messe ging, vorher nicht ohne Tränen, während der Messe viele und mit großer Gelassenheit; sehr viele Einsichten über die heiligste Dreifaltigkeit. Mein Verstand wurde von ihnen so sehr erleuchtet, dass mir schien, selbst durch ein tüchtiges Studium würde ich nicht so viel Wissen erlangen können. [...] selbst wenn ich mein ganzes Leben lang studieren wollte." (S 566)
6. März  1544
Obwohl ich darauf achtete, konnte ich nichts schauen, was der Aussöhnung noch entgegensteht. Ich hatte eine große Sicherheit und konnte nicht mehr ungewiss sein über das, was mir vor Augen gestanden und was ich geschaut hatte. (S.568)

27.3.1544 
Vor der Messe Tränen, viele während der Messe, ganz auf Ehrerbietung gerichtet. Schau des göttlichen Seins in Kugelgestalt, wie die anderen Male bisher. (S.569)


02 August 2025

Kampf gegen kindliche Neugier

 "Heute gleich nach 9 kommt eine aus der II. in die Mathematikstunde und sagt: ,,Die Frau Direktorin läßt bitten, die Lainer, die Bruckner und die Franke sollen sofort in die Kanzlei kommen. Alle Mädchen schauen uns an, aber wir wissen nicht, warum. Wie wir in die Kanzlei kommen, ist die Tür von der Frau Dir. zu und das Fräulein N. sagt, wir sollen warten. Dann kommt die Frau Dir. hinaus und ruft mich hinein. Drin sitzt eine Dame, die schaut mich mit dem Lorgnon an. ,,Gehst du öfters mit der Zerkwitz?" fragt die Frau Direktorin. Ja, sag ich, und es ahnt mir gleich nichts Gutes. ,,Diese Dame ist die Mama der Zerkwitz, sie beschwert sich darüber, daß du mit ihrer Tochter sehr unpassende Sachen redest; ist dies so?" ,,Wir, die Hella und ich, haben ihr nie etwas sagen wollen; aber sie hat uns sehr gebeten und dann glaubten wir auch, sie wisse es ohnehin schon und stellt sich nur so." ,,Was soll sie wissen und was habt ihr gesprochen?" fährt die Mama von der Anneliese los. ,,Bitte", sagt die Direktorin, ,,ich werde die Mädchen verhören; also die Bruckner war auch dabei?" ,,Nur ganz selten", sage ich. ,,Ja, die Haupbschuldige ist die Lainer, deren Mama erst vor kurzem gestorben ist." Da habe ich die Tränen verbissen und gesagt: ,,Wenn die Anneliese nicht immer wieder angefangen hätte, hätten wir kein Wort von diesen Sachen geredet." Und dann habe ich überhaupt keine Antwort mehr gegeben. Jetzt mußte die Hella hereinkommen. Sie hat mir dann gesagt, wie sie mich angeschaut hat, hat sie gleich gewußt, wieviel es geschlagen hat. ,,Was habt ihr mit der Zerkwitz geredet?" Zuerst wollte die Hella nichts sagen, aber dann sagte sie ganz kurz: ,,Vom Kinderkriegen und von dem Verheiratetsein!" ,,Gott im Himmel, solche Küken und sprechen von solchen Dingen", sagte die Mama von der Anneliese. ,,Solche verdorbene Geschöpfe." ,,Wir haben nicht geglaubt, daß die Anneliese wirklich nichts weiß, sonst hätten wir nichts mit ihr geredet", sagte auch Hella; sie war großartig. ,,Was den Alfred betrifft, so sind wir ganz unbeteiligt und wir haben ihr oft abgeraten, sich von der Schule abholen zu lassen; aber sie hörte nicht auf unsern guten Rat." ,,Ich spreche jetzt von euren Gesprächen, durch die ihr das arme unschuldige Kind verdorben habt", sagte die Frau v. Zerkwitz. ,,Sie muß unbedingt schon etwas gewußt haben, sonst wäre sie nicht mit dem Alfred gegangen und auch nicht mit uns", sagte die Hella. ,,Ach, du himmlischer Vater, das ist ja die weit Ärgere; eine solche Verdorbenheit!" Dann mußten wir hinausgehen. Draußen hat die Hella furchtbar geweint und ich auch, weil wir uns fürchten wegen zuhause. Wir konnten gar nicht in die Mathematikstunde gehen, weil wir ganz verweint waren. [...]

Knapp vor 12 wurde ich nochmals mit der Hella zur Frau Direktorin gerufen. ,,Mädchen", sagte sie, ,, was habt ihr für abscheuliche Sachen? Was müßt ihr denn das, was eure Phantasie vorzeitig vergiftet, andern auch noch sagen? Und du Lainer, schämst du dich nicht, vor wenigen Wochen wurde deine Mama begraben, und jetzt hört man solche Dinge von dir?" ,,Bitte", sagt die Hella; ,,dies war alles schon im Frühling und noch im Winter; denn da sind wir noch aufs Eis gegangen. Da war die Mama der Rita noch ziemlich gesund. Und die Zerkwitz hat uns schrecklich sekkiert, ihr alles zu sagen. Ich habe die Rita oft gewarnt und gesagt: ,,Trau ihr nicht", aber sie war ganz vernarrt in die Zerkwitz. Bitte Frau Direktorin, sagen Sie nichts davon dem Papa der Rita; denn er würde sich sehr kränken." Die Hella war einfach großartig, ich werde ihr das nie vergessen. Sie will mich das nicht schreiben lassen; wir schreiben nämlich zusammen. Die Hella meint, wir müssen alles wörtlich niederschreiben, man kann nie wissen, wozu man es braucht. Die Hella ist eine Freundin, wie es keine zweite gibt, und dabei so mutig und gescheit. ,,Du bist geradeso gescheit", sagt sie zu mir, ,,aber nur bist du gleich so eingeschüchtert und dann bist noch von deiner Mama ihrem Tod sehr nervös. Wenn nur dein Papa nichts erfährt." Die dumme Gans hat auch die alte Sauce von den zwei Studenten am Eis aufgewärmt, die längst vorüber ist. ,,Nur niemanden sich anvertrauen", sagt die Hella und da hat sie / wirklich recht. Ich hätte das der Anneliese niemals zugetraut. Was mit der Franke war, wissen wir noch nicht. Wie sie heraufkam, legte sie die Finger an die Lippen, das sollte natürlich heißen: ,,Nichts verraten!'' (144/145pdf 161-63st 132-34 Orig.)  

Dieser Text ist ein Abschnitt aus einem Tagebuch, das 1919 von Dr. Hermine Hug-Hellmuth, einer Frau, die mit dem Psychoanalytiker Sigmund Freud zusammenarbeitete, herausgegeben wurde.

Der vollständige Text des "Tagebuch(s) eines halbwüchsigen Mädchens"  ist hier nachzulesen. Dort ist er allerdings etwas unbequem zu lesen. 1987 kam er allerdings als suhrkamp taschenbuch 1463 heraus. Eine eingehende Besprechung des Buches findet sich hier. Mädchen führen weit häufiger als Jungen Tagebücher, aber ungekürzt bekommt man sie fast nie zu lesen, weil sie über die Privatsphäre von Kindern berichten, die aus guten Gründen geschützt ist, damit sich Kinder da völlig offen über ihr Erleben äußern und als Erwachsene darüber Rechenschaft geben können. Elke Heidenreich hat kürzlich berichtet, dass sie ihr Tagebuch bewusst verbrannt hat. Thomas Mann hat verfügt, dass sein sehr ausführliches Tagebuch (Teile davon hat auch er verbrannt) erst Jahrzehnte nach seinem Tod veröffentlicht werden durften, um seine Privatsphäre zu schützen. 

Dies Tagebuch ist aber zur Veröffentlichung freigegeben worden. Allerdings wurden alle Namen der betroffenen Personen geändert und die präzisen Datumsangaben nur ohne Jahreszahlen freigegeben. 

Acht Jahre nach der Veröffentlichung wurde das Buch wieder vom Markt genommen (auf Wunsch von Sigmund Freud, der es vor seinem Erscheinen als Juwel bezeichnet hatte und hinzufügte: "Sie sind verpflichtet, es der Öffentlichkeit zu übergeben." 

Warum kam es erst 68 Jahre nach seinem Erscheinen wieder heraus?

Es handelt von der Privatsphäre eines Mädchens, dem man - wie über viele Jahrzehnte üblich - alle Informationen über die sexuelle Entwicklung der Frau vorenthalten hatte. Viele unverheiratete Frauen starben, ohne je Genaueres darüber zu erfahren. Auch darüber berichtet Stefan Zweig, von dem die Besprechung des Tagebuchs stammt, und zwar in seinem Bericht über die Erziehung im Viktorianischen Zeitalter.

Vieles spricht dafür, dass die Herausgeberin mehr verändert hat, als sie angegeben hat und manches dafür, dass sie ihr eigenes Jungmädchentagebuch bei der Erstellung des Textes herangezogen hat. 

mehr dazu: Stefan Zweigs Rezension des Tagebuchs und ausführlichere Textausschnitte finden sich hier.