Aristipp an Lais:
Ist doch sogar das Leben, die erste Bedingung alles Genusses, selbst nur bedingungsweise ein Gut, und wird täglich von vielen Tausenden entweder aus Pflicht oder zu Befriedigung dieser oder jener Leidenschaft in die Schanze geschlagen! Sogar Wahrheit, Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend, wie schön und gut sie sich in der Idee dem Verstande darstellen, sind doch nicht unter allen Umständen und Beziehungen, für jeden Menschen in jeder Bedeutung des Worts, gut. So ist, z. B. nicht gut die Wahrheit zur Unzeit oder auf eine ungeschickte Art zu sagen; so ist nicht jedem gut, alles Wahre zu wissen; so ist möglich, daß ein gerechter Richter mir Unrecht thut, indem er mich nach einem gerechten Gesetze verurtheilt; so ist das höchste Recht zuweilen Unrecht; so giebt es keine Tugend, die für den, der sie ausübt, nicht entweder durch irgend einen äußerlichen Umstand oder durch seine eigene Schuld zu einer Quelle von wirklichen Übeln für ihn selbst und andere werden könnte; so kann was an dem einen Weisheit ist, an einem andern Thorheit seyn, u. s. w. Wenn nun Alles, was die Menschen gut nennen, nur unter gewissen Umständen und Einschränkungen, also nur durch rechten und weisen Gebrauch wirklich gut für uns ist; wenn das Gute unter gewissen Bedingungen zum Übel, und aus gleichem Grunde, das Böse zum Gut werden kann: wird nicht, aller Wahrscheinlichkeit nach, eben dasselbe von jedem höhern, und so endlich auch von dem höchsten Gute gelten? Klingt es aber nicht widersinnig, daß das höchste Gut, bey veränderten Personen und Umständen, das höchste Übel seyn könnte? Die bisherige Betrachtung scheint uns das glänzende Fantom, dem wir nachgehen, immer weiter aus den Augen gerückt zu haben. Laß uns versuchen, ob wir ihm vielleicht auf einem andern Wege wieder näher kommen werden. Wir suchen das höchste Gut des Menschen. Die erste Frage müßte also seyn: was ist der Mensch? Die Natur stellt lauter einzelne Menschen auf, und es fehlt viel, daß diese nichts als gleichlautende Exemplarien eines und ebendesselben Originals seyn sollten. Der Mensch ist also entweder bloß ein kollektives Wort für die sämmtlichen einzelnen Menschen, vom ersten Paar, das aus dem Schooß der Erde oder des Wassers hervorging, bis zu den letzten, die das Unglück oder Glück haben werden, die nächste, unsrer Welt von den Pythagoräern geweissagte, Verbrennung zu erleben, – oder es bezeichnet einen idealischen Koloß, der aus dem, was alle Menschen gemein haben, gebildet ist, und wovon, nach Plato, der bloße Schatten durch die Ritzen unsers Kerkers in unsre Seele fällt, indeß das Urbild selbst in der intelligibeln Welt der Platonischen Ontoos Ontoon wirklich vorhanden ist. [...]
Um diese Allegorie nicht zu lange zu verfolgen, bemerke ich nur, daß das Daseyn der Vernunft und ihr Einfluß auf unsre sinnliche oder thierische Natur sich, wie bey den Kindern schon in der frühen Dämmerung des Lebens, so bey allen, selbst den rohesten Völkern schon in den ersten Anfängen der Kultur vornehmlich darin beweist, daß sie (wofern nicht besondere klimatische oder andere zufällige Ursachen im Wege stehen) sich selbst und ihren Zustand immer zu verschönern und zu verbessern suchen. So langsam es Anfangs damit zugeht, so schnell nimmt der Trieb zum Schönern und Bessern zu, wenn einmahl gewisse Perioden zurückgelegt sind, und die Vernunft selbst in ihrer Entwicklung einen gewissen Grad von Stärke erreicht hat. Daß wir aber demungeachtet im Ganzen noch so weit zurück sind, liegt wohl hauptsächlich an der Kürze unsers Lebens, welches in Verhältniß mit allen übrigen Bedingungen, unter welchen wir es empfangen, in viel zu enge Grenzen eingeschlossen ist, als daß die Menschen (wenige Ausnahmen abgerechnet) große Fortschritte zur Verbesserung ihres eigenen innern und äußern Zustandes machen, oder etwas Beträchtliches zum allgemeinen Besten beytragen könnten: indessen zeigt sich doch von einer Generazion zur andern ein gewisses, im Kleinen meist unmerkliches, aber im Großen ziemlich sichtbares Streben nach dem, was man füglich (wie ich glaube) den Zweck der Natur mit dem Menschen nennen kann. Und was könnte dieser anders seyn, als die immer steigende Vervollkommnung der ganzen Gattung, wozu jeder einzelne der einst da war, etwas (wie wenig es auch sey) beygetragen hat, und von welcher nun hinwieder jede neue Generazion und jedes einzelne Glied derselben mehr oder weniger Vortheil zieht? Da nichts, was einmahl da war oder geschah, ohne Folgen ist, also nichts ganz verloren geht; da jedes Jahrzehend und Jahrhundert seine Versuche, Erfahrungen, Entdeckungen und Erfindungen den Nachkommenden zur Fortsetzung, Ausbildung, Verbesserung und Vermehrung überliefert, so kann dieß schlechterdings nicht anders seyn. Die Rückfälle, die man von Zeit zu Zeit wahrzunehmen wähnt, die alte Sage, »daß nichts neues unter der Sonne geschähe,« und die Abnahme der menschlichen Gattung, die man uns schon aus dem alten Homer erweisen zu können glaubt, sind nur anscheinend. Besondere Völker, einzelne Menschen können wohl in einigen Stücken schlechter als ihre Vorfahren werden; aber das Menschengeschlecht, als Eine fortdauernde Person betrachtet, der unsterbliche Anthropodämon Mensch, nimmt immer zu, und sieht keine Grenzen seiner Vervollkommnung. Denn nur dem einzelnen Menschen, nicht der Menschheit, sind Grenzen gesetzt. Die Fortschritte, welche wir Griechen seit der Zeit da Europens Bewohner noch stammelnde Waldmenschen und Troglodyten waren, bis zu der Stufe, worauf wir dermahlen stehen, gemacht haben, werden andre Menschen, vielleicht ganz andre Völker, nach uns in den nächsten Jahrtausenden fortsetzen, und unfehlbar wird eine Zeit kommen, wo die Menschen durch künstliche Mittel sehen werden, was uns unsichtbar ist; wo sie Schätze von Kenntnissen, wovon sich jetzt niemand träumen läßt, gesammelt, neue Mineralien, Pflanzen und Thiere, neue Eigenschaften der Körper, neue Heilkräfte, kurz, unendlich viel Neues im Himmel, auf Erden und im Ocean entdeckt, und vermittelst alles dessen nicht nur unsre Erfindungen viel höher getrieben, sondern eine Menge uns ganz unbekannter Künste und Kunstwerkzeuge erfunden haben werden, u. s. w. [...]
Nun, meine Freundin, sind wir auf der Höhe, von welcher aus wir uns, dünkt mich, überzeugen können, daß die Aufgabe, die du mir zu lösen gegeben hast, unauflösbar ist. Es giebt kein andres höchstes Gut (wenn man es so nennen will) für den Menschen, als, »das zu seyn und zu werden, was er nach dem Zweck der Natur seyn soll und werden kann:« aber eben dieß ist der Punkt, den er nie erreichen wird, wiewohl er sich ihm ewig annähern soll. Wo über jeder Stufe noch eine höhere ist, giebt es kein Höchstes – als täuschungsweise; wie dem, der einen hohen Berg ersteigen will, diese oder jene Spitze die höchste scheint, bis er sie erklettert hat, und nun erst sieht, daß neue Gipfel sich über ihm in die Wolken thürmen. Alles, was für einen Menschen in seinem dermahligen Leben (dem einzigen, das er kennt) gut ist, ist zur rechten Zeit, am rechten Ort, im rechten Maß, und recht gebraucht, für den Augenblick das Höchste; für den unsterblichen Menschen giebt es kein Höchstes als das Unendliche.
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