Aristipp an Kleonidas
Du weißt, daß ich die Erzählungen von Gespenstern, die sich zu gesetzten Stunden an gewissen Orten sehen lassen, und von Verstorbenen, die, gleichsam in den Schatten ihrer ehmaligen Gestalt eingehüllt, sich entweder von freien Stücken zeigen, oder durch magische Mittel zu erscheinen genöthiget werden, immer für das, was sie sind, gehalten, und die Furcht vor allen diesen Ausgeburten eigner oder fremder Einbildung für eine der lächerlichsten Schwachheiten erklärt habe. Gleichwohl hab' ich mich selbst unvermutheter Weise über dieser ziemlich allgemeinen menschlichen Schwachheit ertappt, und finde mich jetzt durch eigene Erfahrung sehr geneigt duldsamer gegen andere zu seyn, da ich mich immer mehr überzeuge, daß kein Mensch so viel vor allen andern voraus hat, daß er sich vor irgend etwas, wozu Wahn und Leidenschaft einen Menschen bringen können, völlig sicher halten darf. Höre also, was mir in der vorgestrigen Nacht begegnet ist. [...]
Ich weiß nicht wie es kam, daß gerade an diesem Abend die Erinnerung an Lais alle andern Gedanken in mir verdrängte. Ich hatte ungefähr acht Tage vorher einen Brief von ihr erhalten, worin sie mir ihre Trennung von Arasambes berichtete, und daß sie im Begriff sey nach Milet abzugehen. Welche seltsame Unruhe des Geistes, dachte ich, treibt [50] sie aus einer beneidenswürdigen Lage heraus, um des eingebildeten Glücks einer unbeschränkten Freiheit zu genießen, die ihr am Ende vielleicht doch nur zur Fallgrube werden könnte! Sie vermochte alles über Arasambes; es stand in ihrer Macht ihn auf immer an sich zu fesseln; und mit welchem Muthwillen zerbricht sie ihren eigenen Zauberstab! Wie leichtsinnig treibt sie wieder in den Ocean des Lebens hinaus, ohne Plan und Zweck, wohin Zufall und Laune des Augenblicks sie führen werden! Was wird endlich das Schicksal dieses außerordentlichen Weibes seyn, in welchem die Natur alle Reize ihres Geschlechts mit den glänzendsten Vorzügen des männlichen so sonderbar zusammengeschmelzt hat?
Der Charakter der schönen Lais war mir immer ein Räthsel gewesen, dessen Auflösung ich vergeblich gesucht hatte. Indem ich mich jetzt von neuem bemühte, alle die reizenden Widersprüche, woraus er zusammengesetzt ist, und in deren Verbindung gerade der Zauber ihrer unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit liegt, unter Einen Begriff zu bringen, fiel mir plötzlich die große Aehnlichkeit auf, die ich zwischen ihr und dem außerordentlichsten Manne unsrer Zeit, dem ehemaligen großen Liebling des Sokrates, zu sehen glaubte. Sie ist, sagte ich zu mir selbst, unter den Frauen, was Alcibiades unter den Männern war. In beiden hat die Natur alle ihre Gaben mit üppiger Verschwendung aufgehäuft. Wohin er kam, war er der erste und einzige; wo sie erscheint, wird sie immer die erste und einzige sey. Er würde die Welt erobert haben, wenn er nicht so gewiß gewesen wäre daß er es könne: sie würde sich überall alle Herzen unterwerfen, wenn sie es [51] nur der Mühe werth hielte. Ein allzu lebhaftes Selbstgefühl war die Quelle aller seiner Ausschweifungen, Fehler und falschen Schritte: eben dieß ist und wird immer die Quelle der ihrigen seyn. (Wieland: Aristipp 2. Band 13.Brief)
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