Kleonidas an Aristipp:
Timanth hat die Gewohnheit, alle seine vorzüglichen Werke für sich selbst zu copiren, und nicht selten ist das Nachbild noch vollkommner als das Original. Gegenwärtig ist er im Begriff die Copie eines großen Gemäldes zu vollenden, welches ein reicher Kunstliebhaber zu Argos bei ihm bestellt hat, und womit er in kurzem selbst dahin abzugehen gedenkt. Es stellt die Aufopferung der Iphigenia in Aulis vor, und ist eines seiner schönsten Bilder. Iphigenia, eine ächte Gestalt aus der Heroenzeit, von hoher tadelloser Schönheit und in der ersten Blume der Jugend, steht am Altar, mit schwärmerischer Entschlossenheit bereit, sich für das Heil und den Ruhm ihres Vaterlandes zu opfern; ihre Stellung, ihr großes, zur Göttin aufgehobenes Auge, ihr ganzes Wesen scheint zu sagen, hier bin ich! und kein Zug verräth die auch nur leiseste Schwäche, wodurch das Wohlgefallen der Göttin an dem reinen jungfräulichen Opfer vermindert worden wäre. Um sie her stehen die Häupter der Achäer, Menelaus, Diomedes, Achilles, Odysseus u.s.w., und hinter ihnen in einem weiten Kreise das ganze Griechische Heer. Alle, selbst den Priester Kalchas nicht ausgenommen, zeigen sich in verschiedenen Graden, nach ihrem Charakter oder Verhältniß gegen das Haus Agamemnons, gerührt und theilnehmend; nur Agamemnon, der Vater selbst, steht zwar gegen den Altar gekehrt, aber das Gesicht mit einem Zipfel seines langen faltenreichen Talars bedeckt. Ich war eben bei Timanth in seiner Werkstatt, als ein junger Athener mit einem Paar andern Fremden kam, und sich die Erlaubniß ausbat, dieses Gemälde zu besehen, dessen Schönheit ihm sehr angerühmt worden sey. Alle drei ließen es an bewundernden Ausrufungen nicht fehlen; doch bemerkte Einer, mit einer bedeutenden Kennermiene, gegen seine Gefährten: ob ihnen nicht auch eine gewisse Kälte im Ausdruck des Schmerzes, den die umstehenden Helden zeigten, besonders beim Menelaus, der doch der Oheim der Prinzessin sey, zu herrschen scheine? Aber der Athener konnte nicht Worte genug finden, den sinnreichen Gedanken des Künstlers zu bewundern, daß er, nachdem er alles was die Kunst vermöge, im Ausdruck der verschiednen Grade einer anständigen Betrübniß an den Umstehenden erschöpft habe, den Vater selbst verhüllt, und es dadurch der Einbildungskraft der Anschauer überlassen habe, das, was der Pinsel nicht vermocht, selbst zu ersetzen und gleichsam auszumalen. Ein andrer behauptete: diese Verhüllung sey gerade der möglichst stärkste Ausdruck des gränzenlosen väterlichen Jammers, und müsse eine weit größere Wirkung thun, als der höchste Schmerz, den das unverhüllte Gesicht Agamemnons hätte ausdrücken können. Timanth, nachdem er dem Streit dieser weisen Kunstkenner eine Zeitlang lächelnd zugehört hatte, sagte endlich: die Herren sind sehr gütig, mir so viel von ihrem eigenen Scharfsinne zu leihen; denn ich muß gestehen, daß ich bei der Verhüllung Agamemnons, so wie bei der Behandlung des ganzen Stücks, keinen andern Gedanken hatte, als die bekannte Scene in der Iphigenia des Euripides, gerade so, wie der Dichter sie schildert, und wie ich sie mehrmal auf der Schaubühne gesehen, darzustellen. Steckt in der Verhüllung irgend ein besonderes Verdienst, so gebührt alles Lob dem Dichter; ich zweifle aber sehr, daß sein Agamemnon einen andern Grund, warum er seinen Kopf einhüllt, hatte, als weil er sich selbst nicht so viel Stärke zutraute, daß er beim Anblick des tödtlichen Stoßes in die Brust seines Kindes Gewalt genug über sich behalten würde, um die Heiligkeit des Opfers nicht durch irgend einen ungebührlichen Ausbruch des Vatergefühls zu entweihen. Denn nach den Begriffen und Sitten jener Zeiten mußten solche Opfer, um von den Göttern mit Wohlgefallen aufgenommen zu werden, freiwillig, ja mit fröhlichem Herzen dargebracht werden. Auch den übrigen Anwesenden war jeder stärkere Ausdruck von Schmerz und Betrübniß untersagt; das Schlachtopfer wurde mit Blumen bekränzt unter jubelnden Lobgesängen zum Altar geführt, und sogar nach Vollendung der Ceremonie war es weder Verwandten noch Freunden erlaubt, den Tod der geliebten Aufgeopferten durch irgend eine sonst gebräuchliche Handlung oder Sitte zu betrauern. Weit entfernt also daß ein Maler, der eine solche Geschichte bearbeitet, seine Kunst im Ausdruck der verschiedenen Grade des Schmerzes und der Traurigkeit erschöpfen dürfte, besteht seine größte Geschicklichkeit bloß darin, daß er die Umstehenden nicht mehr Theilnahme und Rührung zeigen lasse, als nöthig ist, daß sie nicht als Unmenschen oder ganz gefühllose Klötze dastehen. An die sinnreiche Idee, die Einbildungskraft der Anschauer ergänzen zu lassen, was der Pinsel des Malers oder die Kunst des Schauspielers nicht vermochte, hat Euripides vermuthlich so wenig gedacht als ich. Es dürfte doch wohl eine unerläßliche Pflicht des Künstlers seyn, der Einbildungskraft so viel nur immer möglich ist vorzuarbeiten; auch erfordert es eben keine außerordentliche Kunst, den höchsten Grad irgend einer Leidenschaft oder irgend eines Leidens mit Pinselstrichen auszudrücken. Aber gerade dieser höchste Grad ist dem Maler, wie dem Bildner, durch ein unverbrüchliches Gesetz der Kunst untersagt, weil er eine Verunstaltung der Gesichtszüge bewirkt, die das edelste Angesicht in ein widerliches Zerrbild verwandeln würde. – Der Athener stutzte einen Augenblick über diese authentische Erklärung aus dem Munde des Meisters[371] selbst, der doch wohl am besten wissen mußte was er hatte machen wollen; doch erholte er sich sogleich wieder, und versicherte uns mit einem großen Strom von Worten: er sey gewiß, daß er den wahren Sinn der Verhüllung errathen habe. »Das Genie (setzte er mit vieler Urbanität hinzu) wirkt oft als bloßer Naturtrieb, und selbst der größte Künstler, wenn er etwas unverbesserlich Gutes gemacht hat, ist sich nicht allemal der Ursache bewußt, warum es so und nicht anders seyn mußte.« – Als wir wieder allein waren, lachten wir beide herzlich über dieses kleine Abenteuer, und Timanth, dem dergleichen Kenner häufiger vorgekommen sind als mir, versicherte mich: es sey sehr möglich, daß das schiefe Urtheil dieses Menschen die öffentliche Meinung von seiner Iphigenia auf immer bestimme, und ihm, lange, nachdem die Zeit das Gemälde selbst zerstört haben werde, noch Lobsprüche zuziehe, die er sich schämen müßte verdient zu haben.175
(Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, 1. Band, Brief 64)
Wielands Anmerkung:
175 Diese Vermuthung des Timanthes ist bekanntlich in vollem Maß eingetroffen. Plinius folgte in seinem Urtheil über den angeblichen Kunstgriff, welchen der Maler durch Verhüllung des Agamemnon angebracht haben sollte, allem Ansehen nach bloß der damals schon allgemein angenommenen und seitdem von unzähligen Neuern (ohne nähere Untersuchung, wie es scheint) nachgesprochenen Meinung.Timanthi plurimum adfuit ingenii; ejus enim est Iphigenia, oratorum laudibus celebrata, quâ stante ad aras periturâ, eum moestos pinxisset omnes, praecipue patruum Menelaum, cum tristitiae omnem imaginem consumsisset, patris ipsius vultum velavit, quem digne ostendere non poterat, l. cit. Ich müßte mich sehr irren, oder die Erklärung, welche Timanth in dieser Erzählung des Kleonidas den drei jungen Kunstkennern gibt, bedarf keiner weitern Beweise, um für die einzig wahre Darstellung seines Verfahrens und der Gründe desselben erkannt zu werden. W.
Mir gefällt an Wielands Darstellung, wie er mit der Möglichkeit spielt, seinen fiktiven Thimanth dem historisch wichtigsten Zeugen zu diesem Bild, Plinius dem Älteren, gegenüber auszuspielen und dabei der Kunstauffassung seines (Wielands) Zeitgenossen Lessing Recht zu geben.
Wieland kennt das Bild, wie zumindest die Gebildeten unter seinen Lesern wissen, nur aus der Beschreibung des Plinius und doch gestattet er es sich, der Auffassung dieses Plinius - durch den Mund des Timanth - zu widersprechen.
Ähnlich, wie er zuvor sich erlaubt hat, den großen Platon durch seinen fiktiven Hippias herabsetzen zu lassen. (In diesem Fall lässt er freilich Hippias seine Kritik so weit überziehen, dass sie eher dazu beiträgt, Hippias in ein schlechtes Licht zu setzen, als Platons Philosophie anzugreifen.)
Mag auch sein, dass er auch die Gelegenheit nutzen wollte, den Trick, den der junge Goethe mit seiner Farce "Götter, Helden und Wieland" gegen ihn gewendet hatte, nämlich seine fiktiven Personen als Zeugen gegen eine reale heranzuziehen, auch einmal zur Unterstützung der Meinung seiner eigenen Person zu verwenden.
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