24 Dezember 2017

Hermann Löns: Kartoffelfeuer

Wenn Ende September Kartoffelfeuer
Mit weißem Schleier bedecken das Land,
Dann denk' ich an manches, was ich als teuer
In meiner Erinnerung halte gebannt.

Verflossene Zeiten, verflogene Tage,
In rosigen Wolken die ganze Welt,
Als noch nicht das Leben die häßliche Frage
»Beruf und Brot?« an uns hatte gestellt.

O Hannes mit knallroten Spitzbubenhaaren,
O Wolf mit dem pechschwarzen Lockenkopf,
Ich selber, ein Nichtsnutz von dreizehnhalb Jahren,
Mit Kletten und Disteln im flachsblonden Schopf.

Barfüßig, barköpfig, zerrissene Hosen,
Am Knie schimmert durch die bräunliche Haut –
O herrliche Zeit, wo mit sorgenlosen
Blauaugen ich keck in die Stunden geschaut.

Kein Wasser zu tief, zu hoch keine Höhe,
Kein Apfel zu sauer, kein Vogel zu flink –
In unserm frechfrohen Raubkönigreiche,
Da wurde geknechtet, was mit uns nicht ging.

Die Katzenjagd stand bei uns mächtig in Blüte,
Es mieden die Hunde sehr schnell unsre Näh,
Dem Flurschützen war'n wir ein Dorn im Gemüte,
Dem Obstbaumbesitzer ein fressendes Weh.

Im Buchwald, am Seerand, da war eine Ecke,
Von Weiden umwuchert, von Dornen geschützt,
Wir brieten in sicherem Räuberverstecke
Uns dort die Kartoffeln, die wir uns stibitzt.

Wir rauchten getrocknete Walnußbaumblätter
Aus Pfeifen, geschnitzelt aus Ellernholz,
Und fühlten uns selig, wie Helden und Götter,
Wir Fürsten der Wildnis, verwegen und stolz.

Wir hauten uns auch, daß die Haare so flogen
Und blaubeulig wurden Kopf und Gesicht,
Und wurde dafür dann auch Wichse bezogen
Zu Haus' vom Papa, das genierte uns nicht.

Jetzt gehn wir geputzt nach der neuesten Mode
Mit schneeweißem Kragen und blitzblankem Hut,
Wir kommen vor Höflichkeit fast noch zu Tode
Und tuen getreu, was ein jedermann tut.

Du wirbelnder Rauch der Kartoffelfeuer,
Erinnrer an alte, verflossene Zeit,
Wie ist mir dein herber Geruch doch so teuer,
Du bleibst mir als Jugenderinnrung geweiht.

Wie der vier Jahre ältere Gerhart Hauptmann hat Hermann Löns (*1866) noch den harten Bruch zwischen freier Kindheit und den engen Konventionen der Kaiserzeit erlebt. 
Intensiv stehen vor ihm die Bilder, immer wieder zeugen Wörter von Nähe zur Natur, dann finden sich Anflüge von Kästnerscher Zivilisationskritik. 
Doch das streng eingehaltene Reimschema, die nur zu oft allein dem Reimzwang geschuldete Wortwahl, das nirgendwo leicht umspielte Metrum, das durch den Reim von Hosen auf  sorglósen ein unnatürliche Leiern erzwingt, das nicht wie etwa bei Heine zur ironischen Distanzierung verwendet wird, schließlich die pompöse Bezeichnung des Kartoffelfeuers als Erinnrer zeugen davon, dass der Dichter - trotz seines für einen Anfänger erstaunlich reichen Sprachschatzes - noch nicht seine eigene Sprache gefunden hat.
Zum Vergleich kann man die Verse des neun Jahre später geborenen Rilke heranziehen, der - freilich als er schon über drei Jahre älter war als Löns bei der Abfassung dieses Gedichts - in seinem Kindheitsgedicht schon ganz souverän schreibt:

Und durch das alles gehn im kleinen Kleid, 
ganz anders als die andern gehn und gingen -: 
O wunderliche Zeit, o Zeitverbringen, 
o Einsamkeit. 
[...]
Und stundenlang am großen grauen Teiche 
mit einem kleinen Segelschiff zu knien; 
es zu vergessen, weil noch andre, gleiche 
und schönere Segel durch die Ringe ziehn, 
und denken müssen an das kleine bleiche 
Gesicht, das sinkend aus dem Teiche schien -: 
O Kindheit, o entgleitende Vergleiche. 
Wohin? Wohin? 

1919 schreibt Friedrich Castelle bei der Herausgabe von dessen Jugendgedichten in der Sammlung "Junglaub":
"Das älteste, wenigstens mir bis jetzt bekannt gewordene Gedicht des jungen Löns ist das in dieser Sammlung auf Seite 50 veröffentlichte »Segelfahrt«. Es ist in der Apffelstaedtschen Handschrift datiert: »Deutsch-Krone 1884«. Hier ist Löns ganz der romantisch überschwängliche Junge, den seine Mitschüler den »springenden Hirsch« nannten, der Naturschwärmer, der die Moor- und Seengebiete um Deutsch-Krone leidenschaftlich durchstreifte und der die Erinnerungen an diese abenteuerlich-fremdländische Jugend bis zu seinem Mannesalter nicht vergessen hat.
Wie stark er dieses Land geliebt hat, sagt uns ein leider hier nicht veröffentlichtes Gedicht, eines der ersten, das September 1886 in Münster entstanden ist: »Heimatklänge«. Drei Klänge aus der Jugend liebt er: das Rauschen der dunklen Föhrenwälder, das Wellenklatschen vom See und das Lied aus Volksmund. In drei breiten Strophen rollt er dann die dunklen Schönheiten der westpreußischen Jugendheimat auf und schließt mit den wehmütigen, ahnungsvollen Worten:
»Du Wellenklang vom grünen See,
Du Lied aus Volksmund wild und weh,
Du Rauschen von dem dunklen Föhr:
Wer weiß, ob ich dich nochmals hör'!«
An der Schwelle des freien Studentenlebens steht diese echte, große Dichtung. Die in ihr angeschlagenen Töne klingen weiter durch die ganze erste Schaffenszeit, durch die Jahre 1886 bis 1890, die Löns zunächst als Zoologe und Naturwissenschaftler in Münster, dann als Mediziner in Greifswald und wiederum in Münster verbringt."

"Echte, große Dichtung" möchte ich die Reime von Föhr und hör sowie von See auf wild und weh nicht nennen. (Da spricht m.E. zu sehr der Ideologe Castelle, der sich später ganz in die nationalsozialistische Ideologie einreihte.) Aber beeindruckend ist, wie deutlich die Naturliebe des späteren Journalisten Löns aus seiner Kindheit und Jugend hervorgeht und wie weit seine Zivilisationskritik noch nicht von der reaktionären Haltung seines "Wehrwolf"-Romans entfernt ist. 

Hermann Löns hatte eine vielseitigere Begabung, als das übliche Bild von ihm erkennen lässt. 
(Dazu: Hermann Löns: Die Hunde beheulen den Tod des Herzogs. Der andere Löns, herausgegeben von Michael Schulte Düsseldorf 1981 und Thomas Dupke: Mythos Löns: Heimat, Volk und Natur im Werk von Hermann Löns, 1993)
Freilich, auch dass Löns nie ganz vom Alkoholismus loskam, gehört zum Bild des anderen Hermann Löns.
"Echte, große Dichtung"  finden wir im Werk Georg Büchners, der mit 24 Jahren starb, in dem Alter, in dem Löns noch ganz auf dem Wege war.  Allerdings halten den Vergleich mit Büchner auch weit bedeutendere Dichter als Hermann Löns nicht aus. 

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