07 Dezember 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (2. Buch 33.- 36. Kapitel)


Dreiunddreißigstes Kapitel
Ferdinand Simon begleitete mich mit einem Stipendium der Schwestern nach Berlin. Unterwegs dorthin im Abteil dritter Klasse lernten wir einen originellen Reisenden kennen. Er war bedeutend älter als wir. Der große Zoologe Brehm war sein Freund. Er hatte an einigen von dessen Forschungsreisen teilgenommen, auch an jener, die Kronprinz Rudolf von Österreich mitmachte. Die Erzählungen des breiten, kerngesunden Forschers, Jägers und Gelehrten steigerten sich zu wirklicher Kunst. Als ich seine Gabe bewunderte, erklärte er, daß Brehm, der große Tierforscher, selbst sie in einem viel höheren Maße besessen habe. Sein »Tierleben« möge gut geschrieben sein, aber an seinen mündlichen Vortrag reiche es nicht heran. [...]
Wir kamen im Rosenthaler Viertel unter. Es ist eine Gegend, die man kennen muß, um zu wissen, daß sie mit dem Westen Berlins nicht in einem Atem zu nennen ist. [...]

Wir besuchten die Bilse-Konzerte. Dort saßen die Männer hinter Bierseideln, die Frauen hinter Strickstrumpf und Kaffeetasse, Mütter brachten die Kinder mit. Aber Bilse, ehemals Militärkapellmeister, hatte ein von ihm gut geschultes Orchester in der Hand. Es hatte im Reich den besten Namen. [...]
Durch den befrackten, ordenbesternten Militärkapellmeister, der sogar den Bogenstrich seiner Geiger exakt und einheitlich regelte, haben wir Haydn, Mozart, Gluck, Beethoven, Schubert, Weber, Wagner und Brahms kennengelernt. Und manche der Sinfonien, Ouvertüren und sonstigen Musikstücke konnten wir wieder und wieder genießen, bis sie uns vertraut waren.
Von allen Meistern war uns Beethoven am nächsten gegenwärtig. Wir sahen in ihm den erhaben ringenden Geist der Zeit. Er wurde uns damals mehr als ein Faust und überragte diesen an mythischer Kraft und kosmischer Dämonie. Er war uns der gigantische Rebell, der Blitze warf und Donner erregte gleich dem Wolkenversammler. Und zum viertenmal stieß ich wieder auf das Prometheische: den »Entfesselten Prometheus« von Lipiner hatte ich zuerst kennengelernt, den Goethischen etwa gleichzeitig, ihm folgte »Der gefesselte Prometheus« des Aischylos und diesem dann, in Menschennähe, Beethoven.
Und dieser Prometheus sang, obgleich gefesselt, doch frei in Not, Kampf, Sieg und Untergang das große Menschheitslied. Es klang in mir und weckte sein Echo ebenso in Ferdinand Simon und Hugo Schmidt.
Wo blieb da dein Atheismus, mein lieber Ferdinand? Antworte mir, wenn du kannst, aus dem Jenseits, in das du längst hinübergewechselt bist!
Eine größere Erschließung als diese gab es nicht. Und wie sie sich plötzlich auftat im Osten Berlins, glich einem Wunder.
Eines Tages krönte sich diese Erschließung dann im Erlebnis der Neunten Sinfonie. Es war uns geglückt, zu einem der großen Konzerte in der Königlichen Oper Galerieplätze zu erobern, Ferdinand Simon, Schmidt und mir. Wir haben uns die Hände gepreßt, und während unsere bis zum Springen erschütterten jungen Seelen uns mit einer himmlischen Offenbarung gleichsam töten wollten, rannen uns Feuertränen über die Wangen: »Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt!«
Unaussprechlich, wie uns zumute war, als endlich Wort und Stimme, aus dem Chaos geboren, erklang und die Gottheit endlich mit der ersehnten Offenbarung ihr Schweigen brach: »Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt! Brüder – überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen!« – Was fühltest du damals, mein lieber atheistischer Ferdinand, als du mir fast bewußtlos die Hand drücktest? Und nun, wie die Heere der Erlösten in einer Marcia trionfale daherziehen und das »Freude, schöner Götterfunken!« jauchzend aufjubelt! Und dann der Schrei! und wieder der abreißende Schrei: »Freude! Freude!«
Die göttlich tönende Kuppel über dem Tempel der Menschheit heißt Beethoven. [...]

Eines Tages brachte Simon ein kleines Heftchen der Reclambibliothek, »Nora« von Ibsen, mit. Er war vor Begeisterung außer sich. Das Drama wurde uns eine helle Fanfare. 
Zugleich war es das erste Henrik-Ibsen-Wetterleuchten. Mit fruchtbarem Regen und Wachstum sollte sein Werk dann später als Frühlingsgewitter heraufsteigen. [...]
Die Tradition des Meiningischen Theaters nahm das Deutsche gewissermaßen wieder auf, und mir ging es ebenso. Auf höherer Stufe durfte sich nun fortsetzen, was sich während einer Breslauer Knabenzeit so glorreich begonnen hatte. Förster, Friedmann, Kainz hießen die großen Darsteller, die ich sah, Agnes Sorma, die Jürgens und die Geßner standen in ihrer Blüte.
Hohe Feste waren es, die damals im Deutschen Theater gefeiert wurden.
»Romeo und Julia« war eines davon. Heute habe ich Kainz als Romeo in bester Erinnerung, damals hat er mir nicht gefallen. Der junge Mensch wollte immer noch mehr gesehen werden, als er gesehen wurde. Er entschloß sich schwer, die Mitte der Bühne zu verlassen, und seine besondere Eitelkeit war sogar dem historischen Kostüm anzumerken, das er immer noch besonders herausputzte.
Auch schien mir dieser Romeo in der Lyrik der Liebe nicht lyrisch genug, nicht erschüttert genug vom Elementaren der Leidenschaft.
Ich lernte den »Richter von Zalamea« kennen. Der reiche Bauer Pedro Crespo wurde von Förster dargestellt, Don Lope, der General, durch Friedmann zu einem unvergeßlichen Kabinettstück großer Schauspielkunst gemacht. Die unvergleichliche Gestalt des stämmigen Bauern Crespo mit seinem stämmigen Verstand, seiner stämmigen Moral, seiner stämmigen Männlichkeit, der den adligen Schänder seiner Tochter umbringen läßt, mußte sich unvergeßlich einprägen.
Nach dem echten Calderon folgte »Weh dem, der lügt!« von Grillparzer. Kainz als Küchenjunge Leon brillierte darin.
Von Schiller habe ich besonders den »Fiesko« in Erinnerung. Carl und ich liebten das Stück von je um seines Verrina willen.
In dieser nahen Beziehung zum Deutschen Theater, das wir mit Studentenbilletts zu ermäßigten Preisen oft besuchen konnten, sammelte sich das Ganze hie und da früher aufgenommener theatralischer Eindrücke. Ich mag meinen Freunden durch Reminiszenzen dieser Art, die, schauspielerisch vorgetragen, von mir vielfach ins Gespräch gemischt wurden, recht beschwerlich geworden sein. [...]

Vierunddreißigstes Kapitel
Die stärkste Warnung, die einem Menschen widerfahren kann, warnte mich nicht: der arme Pastorsohn Schidewitz wurde dicht an meiner Seite von den vergifteten Wässern hinweggespült.
Wir hatten am Abend den treuherzig-komischen Burschen wieder einmal unter uns. Er aß und trank mit besonderer Hingabe. Am Mittag des folgenden Tages rief mich ein Briefchen seiner Wirtin an sein Krankenbett. Ich traf ihn ohne Bewußtsein im Fieber.
Die Zeit meines römischen Niederbruchs jährte sich, als ich Schidewitz mit aufgesprungenen Lippen, wirre Worte ausstoßend, von hohem Fieber brennend, vor mir sich hilflos im Bette winden sah. Ich glaubte augenblicklich zu erkennen, daß er von derselben Krankheit befallen war wie damals ich. Ich fragte, ob man nicht einen Arzt geholt habe. Es war geschehen, der Arzt erschienen, aber er hatte nach kurzem Anblicken des Kranken nur gefragt, wer die Behandlung bezahlen würde, und, weil man darüber Auskunft nicht geben konnte, die Tür von außen zugemacht.
Ich verordnete kalte Umschläge, legte sie ihm selber mit Hilfe der Wirtin auf und beruhigte sie, als sie nun ihrerseits, den Verlust der fälligen Miete und kleiner Auslagen fürchtend, zu jammern begann.
Irgendwie war es mir möglich, aus den Briefschaften des armen Jungen seinen Heimatort und die Adresse des Vaters auszumitteln, so daß ich einen telegraphischen Notschrei an ihn richten konnte.
Ich sandte die Wirtin nach einem anderen Arzt, sie fand aber keinen, der ihr nach Erkenntnis der Sachlage folgen wollte. Der Abend brachte im Zustand des Kranken eine Verschlimmerung. Leider dachte ich nicht an ein Krankenhaus, als ich den Kranken verlassen mußte. Die Nacht bei ihm durchzuwachen hätte mir den Verstand geraubt. Der Vater käme ja morgen früh, dachte ich und sagte der Wirtin, sie möge für kalte Umschläge sorgen, bis er erscheine und sie für ihre Mühe belohnen werde. Ich selber wolle auch wieder beizeiten zur Stelle sein.
Der Kranke war bereits fortgeschafft, als ich am nächsten Morgen erschien. Etwas Fürchterliches war vor sich gegangen: man hatte Schidewitz im bloßen Hemd auf den Steinfliesen des Hauseingangs aufgefunden. Er mußte im Anfall eines Fieberdeliriums aufgesprungen sein, die eigene Tür und die des Entrees gefunden und aufgerissen haben und dann bei der herrschenden Winterkälte das Treppenhaus drei Stockwerke tief gelaufen, gestürzt, gerollt, zerschunden und halb totgeschlagen unten bewußtlos gelandet sein.[...]
Dieses schwere Erlebnis kam einer äußersten Tiefenlotung gleich, die eine Stelle in meiner Seele wie einen jederzeit zu erweckenden schmerzhaften Grundklang zurückgelassen hat. Lange wurden wir den Duft der Verwesung nicht los, und das Bewußtsein von der unvoraussehbaren Schnelligkeit eines unsichtbaren Nachrichters fuhr fort, uns zu beunruhigen. Heut, Montag, dachten wir, sitzen wir um den runden Tisch, haben Pläne, arbeiten, denken darauf hin, setzen ein langes Leben voraus, hoffen auf Glückseligkeit, Begegnungen mit Freunden und schönen Frauen, und Freitag können wir bereits unter der Erde sein ... Es war, als ob wir uns jetzt erst recht ins Leben hineinwühlen, vom Leben nicht eine Stunde ablassen sollten. »Lasset uns essen, trinken und fröhlich sein, denn morgen sind wir tot!« Es war, als wenn eine Stimme diesen Grundsatz in uns einbohren wollte. Ein dumpfer und finsterer Lebenshunger kam über uns. Er zog uns nicht nach oben, ins Licht, sondern schien uns dem Abgrund zu überantworten. [...]
»Sie führen ein unverantwortliches Bummelleben, junger Mann! Ihre Gesundheit ist nicht die stärkste, junger Mann! Wenn Sie es auch nur ein halbes Jahr so forttreiben, sind Sie nicht mehr ein junger, sondern ein toter Mann!« Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Straße gekommen bin, ich sah dicht vor meinen Füßen den Abgrund klaffen. Und doch ist in diesem Winter meine erste epische Dichtung »Promethidenlos« beendet worden. 
Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Straße gekommen bin, ich sah dicht vor meinen Füßen den Abgrund klaffen. Und doch ist in diesem Winter meine erste epische Dichtung »Promethidenlos« beendet worden.
Jetzt wurde die Hochzeit vorbereitet.
Ein gesunder Mensch war ich damals also nicht. Die schlimmen Folgen des Typhus, hatte mein gefühlvoller kapitolinischer Krankenwärter gesagt, zeigen sich erst in den folgenden Jahren. Hatte ich irgend etwas getan, um dem vorzubeugen? Ich hatte sie eher mit aller Gewalt herbeigeführt.

Fünfunddreißigstes Kapitel
So ging ich mit meiner Braut aufs Standesamt, so wurde ich mit ihr in Dresden, am Altar der Frauenkirche, zusammengegeben. Der Geistliche nannte mich einen Meister der hohen Bildhauerkunst, der sich in Rom einen Namen gemacht habe und dem noch Großes bevorstehe. Wir waren darüber erstaunt: so hatte er meine nüchternen Unterlagen für seine Rede aufgebauscht.
Der Frack, den ich anhatte, war mir im letzten Augenblick vom Onkelchen Thienemann geliehen worden, natürlich paßte er mir nicht.
Es war im Mai. Das Hochzeitsdiner fand in einem besonderen Raume des Belvedere auf der Brühlschen Terrasse statt. Frida und Olga, die Schwestern der Braut, waren zugegen, dazu ein Onkel und ein Vetter Thienemann. Am Schlusse des Frühstücks erschien Max Müller wie zufällig.
Der Tag war schön. Ganz Dresden hatte sich auf den Terrassen und in den Sälen des Restaurants zusammengefunden. Militärs, Garden aller Waffengattungen strömten mit ihren Damen aus und ein.
Einen Augenblick trat ich auf den Gang. Es mochte bekanntgeworden sein, daß hier eine kleine Hochzeit gefeiert wurde und ich der überjugendliche Bräutigam war. So nahm man mich allgemein aufs Korn. Das tat ein Rittmeister, brauner Husar, ebenfalls, der mit seiner Dame vorüberging. Dann sagte er lachend und laut, zu ihr gewandt, so daß ich sie hören mußte, die unvergeßlichen Worte: »Der Kerl krepiert ja in den ersten acht Tagen!«
Man kann sich denken, in welcher Stimmung der Rest des Festes vorüberging.
Vierzehn Tage darauf bekam ich Bluthusten. [...]
Noch war eine Klippe zu umschiffen, bevor ich meine neue Ehe in größerer Ruhe genießen konnte: die Gestellung beim Militär.
Man kann sich denken, welche Unruhe sich meiner und Marys bemächtigen mußte, als der Termin dafür herannahte. Er kam. Man erklärte mich für untauglich.
Leider trat, als diese große Sorge endlich beseitigt war, wieder Bluthusten bei mir auf, woraus sich ergab, daß die ärztliche Verfügung, die mich glücklich vom Militär befreite, auch eine düstere Seite hatte.
Ich mußte aufs Land, das war mir klar, sofern es mit mir nicht schnell bergab gehen sollte. So gaben wir denn die Wohnung auf, ohne Rücksicht auf einen langen Vertrag, und zogen in den Berliner Vorort Erkner.

Sechsunddreißigstes Kapitel
Diesem Wechsel des Wohnorts verdanke ich es nicht nur, daß ich mein Wesen bis zu seinen reifen Geistesleistungen entwickeln konnte, sondern daß ich überhaupt noch am Leben bin. Nicht nur meine ersten Geisteskinder, sondern auch drei von meinen vier Söhnen sind in Erkner geboren. [...]
Damals lebte man ohne elektrisches Licht, und die schwarze Nacht preßte sich unmittelbar um die Glocke der Petroleumlampe. [...]

Ich weiß, daß die Flucht in die märkische Waldeinsamkeit meine Rettung war. Ich fühlte das bei jedem Atemzuge, bei jeder Wanderung, die ich unternahm, ich spürte es, wenn ich als einziger bei Mondschein auf dem verlassenen Karutzsee Schlittschuh lief. Alles wirkte zusammen zur Besinnung und Läuterung, selbst die tiefe Resignation, wie sie etwa in diesem Gedicht zum Ausdruck kommt:  
Verlohnt's der Müh'? – Ich bleibe stehn.
Verlohnt's der Mühe, weiterzugehn?
Meine Hand ist wund, mein Herz ist matt;
für zu viel des Wahns es geschlagen hat.
Wohin? Wohin? ... »Zum Licht! Zum Licht!«
Was soll das Suchen? Ihr findet's nicht.
Wohin? Wohin? ... »Den Weg zum Ruhm!«
O beifallgieriges Märtyrertum!
Ihr stürmt vorbei, ihr lockt mich nach;
ich bin ein Falk, der nicht fliegen mag.
Oder auch in den folgenden Versen:
Die alte Nacht drückt stumm und schwer.
Ich will nicht klagen.
Denn wollt' ich klagen noch so sehr,
es wird nicht tagen.
Schwarz hängt der Birke Trauerflor
auf mich herunter.
Der Nachtwind klagt; es wird im Rohr
ein Fröschlein munter.
Das ist die Liebe: Aus dem Laub
der Birke sinken
kühlfeuchte Tränen, die im Staub
verloren blinken.
Das ist das Wissen: Glühwurm schwimmt
im eignen Glänze,
und was sein Lichtlein ihm beglimmt,
ihm ist's das Ganze.
O Menschengeist, Glühwürmelein,
die Welt erhellen,
du kannst es nicht, nur wunderklein
verlorne Stellen.
Das ist die Hoffnung: die im Moor,
ein Irrwisch, hüpfet,
bald in den Grund, bald draus hervor
von neuem schlüpfet. [...]
Sie tanzt und gaukelt ruhlos schier;
drum will es scheinen,
und leider, leider scheint es mir,
sie lohne keinen.

Lichtbringer drei, wie sprüht ihr doch
so matte Funken.
Ach, eh ihr sterbet, seid ihr noch
in Nacht versunken.
Denn euer Leben ist allein
ein kurzes Blinken:
ein Ringen in der Todespein
vor dem Ertrinken.

Aber das wüste und wirre Kneipendasein, die Atmosphäre von Zigarren- und Bierdunst, lag für immer hinter mir, und das angefügte, aufschwunghafte Gedichtchen »Eislauf« spricht davon: 
Auf spiegelndem Teiche
zieh' ich spiegelnde Gleise.
Der Kauz ruft leise.
Der Mond, der bleiche,
liegt über dem Teiche.

Im raschelnden Schilfe,
da weben die Mären,
da lachet der Sylphe
in silbernen Zähren,
tief innen im Schilfe.
Hei, fröhliches Kreisen,
dem Winde befohlen!
Glückseliges Reisen,
die Welt an den Sohlen,
in eigenen Kreisen!
Vergessen, vergeben,
im Mondlicht baden;
hingaukeln und schweben
auf nächtigen Pfaden!
Sich selber nur leben!

Als ich das erstemal von Italien zurückkehrte, kam es mir vor, als ob Deutschland in einer Kunstferne und Kunstfremde lebe. Die Atmosphäre, gehalten gegen den Reichtum Neapels, Roms, den von Florenz und Pisa, war leer. Man war gezwungen, gleichsam nach Luft zu schnappen. Bei der zweiten Rückkehr hatte die Atemnot erheblich nachgelassen. Nun aber, in Erkner, war das unmittelbare Leben in Haus und Natur vor alles getreten. Es zog mich nicht mehr nach Eindrücken großer bildender Kunst. Nichts war mehr da von meiner unstillbaren Ungeduld, die Werke der großen Gestalter zu sehen und ihnen nachzuringen. Keinen Moses von Michelangelo brauchte ich mehr, kein Griechenland suchte ich mehr mit der Seele. Wie nie gewesen war alles das. [...]


In diese Zeit fiel am neunten Februar eines harten Winters die Geburt meines ersten Sohnes. Der furchtbare Ernst eines solchen Ereignisses ist bekannt. Die lautlose Standhaftigkeit der Mutter war bewunderungswert. Hatten wir wohl in Hohenhaus, als wir uns fanden, in den acht glücklichen Breslauer Tagen, in den seligen Zeiten von Nieder-Salzbrunn diese furchtbare Stunde vorausgeahnt? War unser angeblich freier Willensentschluß nicht auf das Ziel eines fast übermenschlichen Glückes, einer Eudämonie, gerichtet gewesen? Und nun hatte, fast gegen unseren Willen, eine ganz andere Macht uns zu ihren Zwecken, zur Erhaltung der Gattung, gebraucht!
Die Weise Frau kam aus irgendeinem Waldwinkel. Sie half arme Schiffer- und Waldarbeiterweibern entbinden. Ich vergesse nie ihr zerknittertes Nornengesicht: es war hart und ernst und doch wiederum meist dem Weinen nahe. Diese Frau, die recht wohl eine Abgesandte der Erdmutter sein konnte, hat in der Tat alle Mütter, denen sie Hilfe brachte, und alle Kinder beweint, die sie ins erste Bad legte.
Nun, es ist mir also beschieden gewesen, in dem abgelegenen Hause am Waldrand das ohne Vergleich größte menschliche Mysterium zu erleben, das man voll erkannt und gefühlsmäßig erfaßt haben muß, ehe man von der Größe und dem Wesen des Daseins etwas begreifen kann. [...] 
Mir war die Aufgabe eines Vaters zugeteilt. Wochen- und monatelang wurde meine Sorge und Tätigkeit fast allein von dem Kinde in Anspruch genommen. Es gemeinsam mit seiner Mutter zu betreuen war meine erste vollwertig soziale Tätigkeit.
Ich entzog mich dieser Aufgabe nicht.

Ich entwickelte, auf eigenes Denken angewiesen, recht gesunde Grundsätze. Es schien, als ob die Erfahrung überwundener Vorleben aus mir wirke. Das Kind in mir liebte außerdem das Kind. Allerdings nicht mehr in dem Sinne, in dem ich schon als Knabe bei den kleinen Krauses und hernach bei Pastor Gauda sozusagen die Kinderfrau gemacht habe. Ich behandelte meinen kleinen Sohn Ivo resolut: fast bei jedem Wetter wurde sein Kinderwagen ins Freie geschoben. Er gewöhnte sich bald, nachts zu schlafen, da ich die Mutter gewaltsam hinderte, sein nächtliches Schreien zu beachten.
Mit einemmal umgab mich eine nüchterne, phantasmagorienbefreite Luft. Die intelligible Welt hatte der nackten Wirklichkeit Platz gemacht. Illusionen waren durch Pflichten verdrängt: nicht mehr durch jene der Einbildung, sondern durch andere, die in der unmittelbaren Not ihre Voraussetzung hatten. [...]
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

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