01 Dezember 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (2. Buch 28.- 32. Kapitel)

Achtundzwanzigstes Kapitel
Um die Mitte des Januar hatte ich bereits zehn Wochen heißer Arbeit daran gewendet. Es hingen viele Zentner nasser Ton an einem vom Schmied nach meinen dilettantischen Angaben hergestellten Eisengerüst, das ich mit Bleiröhren, Draht und Holzzwickeln zu einem Skelett gebildet hatte. Es dauerte Wochen, bevor ich die Tonmassen in ungefährem Verhältnis vom Scheitel bis zu den Sohlen festgemacht hatte und wenigstens eine Art menschlicher Popanz zu erkennen war. Schon allein physisch ging diese Arbeit beinah über meine Kraft. Einen Handlanger zu bezahlen, dazu reichte mein Wechsel nicht, den ich selbst zu gering bemessen hatte. Nachdem die amorphe Masse nun insoweit bewältigt war, mußte die Bewegung fixiert werden, was wieder nur unter Mühe und Not, im Schweiße des Angesichts, bei unaufhörlichem Turnen an der Steigeleiter durchzusetzen war. Ich blieb guten Mutes, denn ich wurde im ewigen Anschauen, Sinnen und Formgeben von einem zum andern geführt und schmeichelte mir in geflüsterten Selbstgesprächen, etwas zustande zu bringen, das sich gewaschen hatte. Ich wußte nicht, daß ich mich nutzlos und zwecklos übernahm und daß ich auf falschem Wege war. Es hätte genügt, meinen Cherusker erst im kleinen auszuarbeiten. Ich wollte jedoch nun einmal einem Riesen das Leben geben. Wer ihn sah, sollte erkennen, daß der Schöpfer dieser athletischen Glieder von Nippesfigürchen nichts wissen wollte. Dabei dachte ich aber auch Mary zu imponieren, die ich brieflich zu einer Winterreise nach Rom in Gesellschaft ihrer Schwestern bewogen hatte und für Anfang Februar erwartete. Meine Arbeit beflügelte sich, wenn ich an diesen Besuch dachte. Ich hatte doch schließlich Boden gewonnen in der Ewigen Stadt und fühlte, obgleich ich kaum andere als abgezirkelte Wege ging, den Boden magisch in mich hineinwirken. Wenn ich mir ausmalte, wie ich die Schwestern am Bahnhof empfangen würde, mit den heimlich gedachten Worten: »Civis Romanus sum!«, zitterte ich. Und dann wollte ich sie sobald wie möglich vor den Koloß führen. Die Geliebte würde dann vielleicht eine Ahnung davon bekommen, wer ich war. Träume wie diese spornten mich an. Sie machten mich gegen mich rücksichtslos. Sie ließen mich das Allergrößte von meiner Arbeit hoffen, glauben, ja bestimmt voraussetzen. Und meine Braut würde sehen, daß ich meine Zeit nicht nutzlos vertan hatte. Meister sind Meister, aber die größten unter ihnen sind es weniger als die kleineren. Bei Michelangelo wird das Ringen fühlbarer als das Können. Was immer er plant, grenzt ans Unmögliche. Was er erreicht, steht außer und über der Meisterschaft. Was ich bei meinem Koloß endlich doch erzielte, erzwang sich durch Dämonie. Im Praktischen fehlte fast jede Grundlage, da ich kein Meister, sondern ein Lehrling war. Im Fieber wurde ich vorwärtsgetrieben. Das lebendige, brüllende Haupt, der Nacken, der mächtige Brustkorb, die athletischen Arme, Hüften, Schenkel, Füße, kurz alles, was zu meinem eigenen Staunen nach und nach entstand, [...]
Mit dem Gesicht voran klatschten zehn Zentner Ton auf die Steinfliesen. Die hintere Seite, wie zum Hohn, zeigte noch einige Festigkeit. Das Eisengestell war bloßgelegt, die leidlich geformten Hände hingen noch an den Zwickeln. [...]

Neunundzwanzigstes Kapitel
Eigentlich war mir recht schlimm zumute. Gerade jetzt krank zu werden, sträubte ich mich. Ich hatte geschuftet, hatte gedarbt, hatte die Geliebte entbehrt, hatte fast gar nichts von Rom gesehen. Und nun, als etwas wie Lohn, Aufatmen, Lebenslust, Befreiung, beglückende Erfüllung, göttliche Pflichtpause eingetreten war, sollte an mir Raub geschehen und mich womöglich der kläglichste Niederbruch überkommen? Nein, ich kämpfte dagegen, ich steifte, ich sträubte mich gegen das, ich ging nicht darauf ein, ich mochte das nicht. [...]
Beide zogen mich an, eine Droschke wurde bestellt, und der kräftige brave Nußbaum hat mich buchstäblich auf seinen Armen die Treppe hinunter und in den Wagen getragen. So erreichte ich dann mit Mary und ihm an der Seite das Krankenhaus. [...]
Meine Krankheit wurde als Typhus erkannt. Der verständige Arzt, Doktor Faber, ein nerviger, schlanker, etwa fünfundvierzigjähriger Mann, verhehlte es nicht. Er sagte, es sei ein leichterer Fall, was ich ihm ohne weiteres glaubte, denn ich fand nicht, daß mir schwer zumute war. [...]
Vielleicht war diese Krankheit eine Maßnahme der Natur und nicht allein von den Bakterien meines Freundes Dietrich von Sehlen hervorgerufen. Vielleicht war sie eine Notwendigkeit, die mein ferneres Dasein möglich machte. Die Geliebte sah, wie ich vermute, das römische Intermezzo als einen Fehlschlag an: ich ebenfalls – und auch wieder nicht. Ich war ein Narr, der sich selbst bei weitem überforderte. Es fing mir aber langsam zu dämmern an, daß man ohne alle Hast einer Kunst Jahre und Jahrzehnte opfern muß, wenn man ihr wahrhaft dienen will. Es war viel erreicht, wenn allein nur diese Erkenntnis erreicht wurde. [...]
Erwägungen dieser Art wurden von mir erst längere Zeit nach meiner Gesundung angestellt. Den Weg zum Krankenbett fanden sie nicht. Es war, als wenn ich vor ihnen durch eine Wache von Engeln geschützt wäre. Anscheinend hatten diese Engel keine weitere Macht über mich, sie waren unfähig, einen liebenswerten Patienten aus mir zu machen. Nach dem Schlußzeugnis von Schwester Balbine, einem pausbäckigen Tiroler Bauernmädchen, war ich das nicht. [...]
Nun erst, seit die Krise hinter mir lag und ich mich nur noch durch Schonung zu stärken hatte, begriff ich langsam, was mit mir vorgefallen war. Und nun erst kam mich im Rückblick auf die Todesnähe, in der ich gestanden, Schaudern an. Meine Gedanken umkreisten den Tod. Es war, als habe er mich besucht und, nachdem er gegangen, irgend etwas, sagen wir: einen Strauß von Asphodelosblüten, im Krankenzimmer zurückgelassen. Alles, was ich vom Tode wußte, fiel mir ein. [...]
Von den Ereignissen des vergangenen Winters hatte mich die Hand des Schicksals durch meine Krankheit losgelöst. Ohne Freud und Leid konnte ich auf sie zurückblicken. Was ich dabei gewonnen, was verloren hatte, berührte mich weiter nicht. [...]
Zwar wurde ich immer wieder durch die Lektüre des »Titan« von Jean Paul weit entrückt, lebte in und mit seiner göttlichen Seele und Schöne, aber schließlich wurde auch dieses Buch, das ich damals an die Seite von Goethes »Faust« stellte, zugeklappt. Ich habe es nie mehr aufgeschlagen. [...]

Dreißigstes Kapitel
Den ersten wahrhaft erneuernden und beglückenden Atemzug sog ich, vor dem Waggon auf und ab schreitend, in der Schneeluft des Brenner ein. Nun wollte ich erst mein Leben anfangen. Wollte es anfangen, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt der Heimat und nur der Heimat gehörend. [...]
Selbsttätig, gleichsam unbewußt, drängte alles in mir nach Enge, Beschränkung, Konzentration. Meine seit Jahren von Eindrücken, jähen Schicksalswechseln überlastete und überweitete Seele zog sich zusammen in einem Prozeß, in dem sie ihre noch vorhandene Elastizität bewies. Mir war zumute wie Hans im Glück, nachdem er seinen Mühlstein in den Brunnen geworfen hat. Ich war nicht mehr der ächzende Lastträger, der einen fast unerreichbaren Gipfel zu ersteigen sich vorgenommen hat. [...]

Einunddreißigstes Kapitel
So wurde denn Hugo Schmidt gleichsam ausgegraben. Als wirklich auf mein Telegramm nach Breslau seine Zusage kam, war es mir, als ob ich von einem Verschiedenen aus dem Jenseits Antwort erhielte. Als er in Dresden auftauchte, schien etwas wie eine Totenerweckung im Spiele zu sein. Gruben hieß der kleine Ort unweit Meißen am linken Elbufer, wo wir drei frohsinnigen jungen Menschen, Oskar Müller, Hugo Schmidt und ich, alsbald Fuß faßten. [...]
War es Sünde gegen Mary oder Verrat an ihr, wenn ich es duldete, daß die übermütigste Roggenmuhme sich bei mir einhenkelte und an mich anschmiegte? Wenn es Sommer war und der Weizen volle Ähren neigte, die goldene Hitze des Mittags alles ineinanderschmolz, warum sollten da Jugend und Jugend, Übermut und Übermut, Frohsinn und Lust sich durch eine eisige Trennungsschicht auseinanderhalten? Nein, dafür bestand weder im Himmel noch auf Erden eine Notwendigkeit. Ja, wir waren frei und gewissenlos. [...]
Und diese Gewissenlosigkeit, die uns im Lebens- und Selbstgenuß sicher machte, einen Schuldbegriff überhaupt nicht aufkommen ließ, war mit das schönste Geschenk dieser Zeit.
[...]
In Meißen, auf einem Felsen über der Elbe, liegt die Albrechtsburg. Bis dorthin war es eine angenehme Fußwanderung am linken Elbufer. Wir besuchten den mittelalterlichen Bau, um geistig ein Wiedersehen mit James Marshall zu feiern, dem trunkenen Faun und Maler der Breslauer Kunstschule, der dort einige Wände mit historischen Szenen geschmückt hat. Ob und wie der Meister damals vor unserem kritischen Urteil bestand, weiß ich nicht.
[...]
Kläre, Käthe und Ännchen waren so herrlich unbeschwert, so ganz ohne geistiges Gepäck. Weil sie lebten, lebten sie! Sie liebten, weil eben eine Blume nicht anders kann und blühen muß. Fragliches gab es bei ihnen nicht. So heiter, feurig und fertig waren sie aus Gottes Händen hervorgegangen, zur Liebe bestimmt, zur Liebe gemacht und keiner anderen Glückseligkeit weder im Himmel noch auf der Erde gewärtig: begnadet mit der Bestimmung eines durch den Sommermorgen gaukelnden bunten Schmetterlings. [...]

Zweiunddreißigstes Kapitel
Wir wurden von Kläre, Käthe und Ännchen bis an die Fähre der Elbe gebracht, deren Wasser für mich eine Lethe war. Ich hatte, wenn ich vom Jenseits herüberkam, einen Strom des Vergessens überquert, so daß mein Hohenhauser Glück meine Grubener Freuden nicht stören konnte. Fährmann und Boot brachten mich nun dorthin zurück. Kläre, Käthe und Ännchen winkten mit Locken und weißen Tüchelchen. Dann trank sie der Glanz des Sommers ein. Keiner von uns drei Burschen, die den Fuß aus dem Boot an das grüne Ufer setzten, hat eines der hübschen Kinder wiedergesehen. [...]
Ich lebte also, wie ich mir eingestehen muß, gedankenlos meinen Urinstinkten hingegeben: Spiel, Jagd, Liebeslust. [...]

Weil ich die See gefürchtet hatte, war ich in Hamburg zur See gegangen. Weil sich Berlin wie ein ungeheurer, rätselhafter, düsterer Wirbel vor meine Seele gedrängt hatte, zog es mich unwiderstehlich dorthin. Dort mußte man schwimmen, kämpfen, bestehen lernen: oder man mochte untergehn. Wie konnte dies aber über mich kommen, nachdem ich doch eben noch wunschlos gewesen war und mein Glück in bloßer Naturnähe, Liebe und Einfalt gesehen hatte? Hatte ich nicht vermieden, auch nur einen Seitenblick auf die Anmaßungen meiner bildnerischen Ziele zurückzuwerfen? Und kam mich, wenn es von ungefähr geschah, nicht ein Zittern an? Brachte mir nicht der Gedanke an das ewige Blau eines Himmels die schwärzeste Melancholie und einen Schauder, als ob ich mir, dem Pygmäen, eine der Arbeiten des Herakles zugemutet hätte? O nein, ich wollte nicht mehr den Gefesselten Prometheus spielen! Vielmehr graute mir vor ihm. Jetzt stürzte ich mich blind in diese mir Furcht erregende Stadt hinein, wo ich nur Großes und Arges ahnte. Und ich war des gewiß: es mußte sein. Und wirklich: der Wirbel packte mich fürchterlich. Ich wußte nicht, als ich Mary verließ, welche gefährliche Spanne Zeit ich vor mir hatte. Und ebensowenig wußte Mary, daß sie, anstatt mich schon jetzt mit kluger Vorsicht im Häuslichen einzufangen, nochmals mein Leben aufs Spiel setzte. 
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend , 1937)

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