Achtundzwanzigstes Kapitel
Um die Mitte des Januar hatte ich
bereits zehn Wochen heißer Arbeit daran gewendet. Es hingen viele
Zentner nasser Ton an einem vom Schmied nach meinen dilettantischen
Angaben hergestellten Eisengerüst, das ich mit Bleiröhren, Draht
und Holzzwickeln zu einem Skelett gebildet hatte. Es dauerte Wochen,
bevor ich die Tonmassen in ungefährem Verhältnis vom Scheitel bis
zu den Sohlen festgemacht hatte und wenigstens eine Art menschlicher
Popanz zu erkennen war. Schon allein physisch ging diese Arbeit
beinah über meine Kraft. Einen Handlanger zu bezahlen, dazu reichte
mein Wechsel nicht, den ich selbst zu gering bemessen hatte. Nachdem
die amorphe Masse nun insoweit bewältigt war, mußte die Bewegung
fixiert werden, was wieder nur unter Mühe und Not, im Schweiße des
Angesichts, bei unaufhörlichem Turnen an der Steigeleiter
durchzusetzen war. Ich blieb guten Mutes, denn ich wurde im ewigen
Anschauen, Sinnen und Formgeben von einem zum andern geführt und
schmeichelte mir in geflüsterten Selbstgesprächen, etwas zustande
zu bringen, das sich gewaschen hatte. Ich wußte nicht, daß ich mich
nutzlos und zwecklos übernahm und daß ich auf falschem Wege war. Es
hätte genügt, meinen Cherusker erst im kleinen auszuarbeiten. Ich
wollte jedoch nun einmal einem Riesen das Leben geben. Wer ihn sah,
sollte erkennen, daß der Schöpfer dieser athletischen Glieder von
Nippesfigürchen nichts wissen wollte. Dabei dachte ich aber auch
Mary zu imponieren, die ich brieflich zu einer Winterreise nach Rom
in Gesellschaft ihrer Schwestern bewogen hatte und für Anfang
Februar erwartete. Meine Arbeit beflügelte sich, wenn ich an diesen
Besuch dachte. Ich hatte doch schließlich Boden gewonnen in der
Ewigen Stadt und fühlte, obgleich ich kaum andere als abgezirkelte
Wege ging, den Boden magisch in mich hineinwirken. Wenn ich mir
ausmalte, wie ich die Schwestern am Bahnhof empfangen würde, mit den
heimlich gedachten Worten: »Civis Romanus sum!«, zitterte ich. Und
dann wollte ich sie sobald wie möglich vor den Koloß führen. Die
Geliebte würde dann vielleicht eine Ahnung davon bekommen, wer ich
war. Träume wie diese spornten mich an. Sie machten mich gegen mich
rücksichtslos. Sie ließen mich das Allergrößte von meiner Arbeit
hoffen, glauben, ja bestimmt voraussetzen. Und meine Braut würde
sehen, daß ich meine Zeit nicht nutzlos vertan hatte. Meister sind
Meister, aber die größten unter ihnen sind es weniger als die
kleineren. Bei Michelangelo wird das Ringen fühlbarer als das
Können. Was immer er plant, grenzt ans Unmögliche. Was er erreicht,
steht außer und über der Meisterschaft. Was ich bei meinem Koloß
endlich doch erzielte, erzwang sich durch Dämonie. Im Praktischen
fehlte fast jede Grundlage, da ich kein Meister, sondern ein Lehrling
war. Im Fieber wurde ich vorwärtsgetrieben. Das lebendige, brüllende
Haupt, der Nacken, der mächtige Brustkorb, die athletischen Arme,
Hüften, Schenkel, Füße, kurz alles, was zu meinem eigenen Staunen
nach und nach entstand, [...]
Mit dem Gesicht voran klatschten zehn
Zentner Ton auf die Steinfliesen. Die hintere Seite, wie zum Hohn,
zeigte noch einige Festigkeit. Das Eisengestell war bloßgelegt, die
leidlich geformten Hände hingen noch an den Zwickeln. [...]
Neunundzwanzigstes Kapitel
Eigentlich war mir recht schlimm
zumute. Gerade jetzt krank zu werden, sträubte ich mich. Ich hatte
geschuftet, hatte gedarbt, hatte die Geliebte entbehrt, hatte fast
gar nichts von Rom gesehen. Und nun, als etwas wie Lohn, Aufatmen,
Lebenslust, Befreiung, beglückende Erfüllung, göttliche
Pflichtpause eingetreten war, sollte an mir Raub geschehen und mich
womöglich der kläglichste Niederbruch überkommen? Nein, ich
kämpfte dagegen, ich steifte, ich sträubte mich gegen das, ich ging
nicht darauf ein, ich mochte das nicht. [...]
Beide zogen mich an, eine Droschke
wurde bestellt, und der kräftige brave Nußbaum hat mich
buchstäblich auf seinen Armen die Treppe hinunter und in den Wagen
getragen. So erreichte ich dann mit Mary und ihm an der Seite das
Krankenhaus. [...]
Meine Krankheit wurde als Typhus
erkannt. Der verständige Arzt, Doktor Faber, ein nerviger,
schlanker, etwa fünfundvierzigjähriger Mann, verhehlte es nicht. Er
sagte, es sei ein leichterer Fall, was ich ihm ohne weiteres glaubte,
denn ich fand nicht, daß mir schwer zumute war. [...]
Vielleicht war diese Krankheit eine
Maßnahme der Natur und nicht allein von den Bakterien meines
Freundes Dietrich von Sehlen hervorgerufen. Vielleicht war sie eine
Notwendigkeit, die mein ferneres Dasein möglich machte. Die Geliebte
sah, wie ich vermute, das römische Intermezzo als einen Fehlschlag
an: ich ebenfalls – und auch wieder nicht. Ich war ein Narr, der
sich selbst bei weitem überforderte. Es fing mir aber langsam zu
dämmern an, daß man ohne alle Hast einer Kunst Jahre und Jahrzehnte
opfern muß, wenn man ihr wahrhaft dienen will. Es war viel erreicht,
wenn allein nur diese Erkenntnis erreicht wurde. [...]
Erwägungen dieser Art wurden von mir
erst längere Zeit nach meiner Gesundung angestellt. Den Weg zum
Krankenbett fanden sie nicht. Es war, als wenn ich vor ihnen durch
eine Wache von Engeln geschützt wäre. Anscheinend hatten diese
Engel keine weitere Macht über mich, sie waren unfähig, einen
liebenswerten Patienten aus mir zu machen. Nach dem Schlußzeugnis
von Schwester Balbine, einem pausbäckigen Tiroler Bauernmädchen,
war ich das nicht. [...]
Nun erst, seit die Krise hinter mir
lag und ich mich nur noch durch Schonung zu stärken hatte, begriff
ich langsam, was mit mir vorgefallen war. Und nun erst kam mich im
Rückblick auf die Todesnähe, in der ich gestanden, Schaudern an.
Meine Gedanken umkreisten den Tod. Es war, als habe er mich besucht
und, nachdem er gegangen, irgend etwas, sagen wir: einen Strauß von
Asphodelosblüten, im Krankenzimmer zurückgelassen. Alles, was ich
vom Tode wußte, fiel mir ein. [...]
Von den Ereignissen des vergangenen
Winters hatte mich die Hand des Schicksals durch meine Krankheit
losgelöst. Ohne Freud und Leid konnte ich auf sie zurückblicken.
Was ich dabei gewonnen, was verloren hatte, berührte mich weiter
nicht. [...]
Zwar wurde ich immer wieder durch die
Lektüre des »Titan« von Jean Paul weit entrückt, lebte in und mit
seiner göttlichen Seele und Schöne, aber schließlich wurde auch
dieses Buch, das ich damals an die Seite von Goethes »Faust«
stellte, zugeklappt. Ich habe es nie mehr aufgeschlagen. [...]
Dreißigstes Kapitel
Den ersten wahrhaft erneuernden und
beglückenden Atemzug sog ich, vor dem Waggon auf und ab schreitend,
in der Schneeluft des Brenner ein. Nun wollte ich erst mein Leben
anfangen. Wollte es anfangen, von ganzem Herzen, von ganzer Seele,
von ganzem Gemüt der Heimat und nur der Heimat gehörend. [...]
Selbsttätig, gleichsam unbewußt,
drängte alles in mir nach Enge, Beschränkung, Konzentration. Meine
seit Jahren von Eindrücken, jähen Schicksalswechseln überlastete
und überweitete Seele zog sich zusammen in einem Prozeß, in dem sie
ihre noch vorhandene Elastizität bewies. Mir war zumute wie Hans im
Glück, nachdem er seinen Mühlstein in den Brunnen geworfen hat. Ich
war nicht mehr der ächzende Lastträger, der einen fast
unerreichbaren Gipfel zu ersteigen sich vorgenommen hat. [...]
Einunddreißigstes Kapitel
So wurde denn Hugo Schmidt gleichsam
ausgegraben. Als wirklich auf mein Telegramm nach Breslau seine
Zusage kam, war es mir, als ob ich von einem Verschiedenen aus dem
Jenseits Antwort erhielte. Als er in Dresden auftauchte, schien etwas
wie eine Totenerweckung im Spiele zu sein. Gruben hieß der kleine
Ort unweit Meißen am linken Elbufer, wo wir drei frohsinnigen jungen
Menschen, Oskar Müller, Hugo Schmidt und ich, alsbald Fuß faßten.
[...]
War es Sünde gegen Mary oder Verrat
an ihr, wenn ich es duldete, daß die übermütigste
Roggenmuhme sich bei mir einhenkelte und
an mich anschmiegte? Wenn es Sommer war und der Weizen volle Ähren
neigte, die goldene Hitze des Mittags alles ineinanderschmolz, warum
sollten da Jugend und Jugend, Übermut und Übermut, Frohsinn und
Lust sich durch eine eisige Trennungsschicht auseinanderhalten? Nein,
dafür bestand weder im Himmel noch auf Erden eine Notwendigkeit. Ja,
wir waren frei und gewissenlos. [...]
Und diese Gewissenlosigkeit, die uns
im Lebens- und Selbstgenuß sicher machte, einen Schuldbegriff
überhaupt nicht aufkommen ließ, war mit das schönste Geschenk
dieser Zeit.
[...]
In Meißen, auf einem Felsen über der
Elbe, liegt die Albrechtsburg. Bis dorthin war es eine angenehme
Fußwanderung am linken Elbufer. Wir besuchten den mittelalterlichen
Bau, um geistig ein Wiedersehen mit James Marshall zu feiern, dem
trunkenen Faun und Maler der Breslauer Kunstschule, der dort einige
Wände mit historischen Szenen geschmückt hat. Ob und wie der
Meister damals vor unserem kritischen Urteil bestand, weiß ich
nicht.
[...]
Kläre, Käthe und Ännchen waren so
herrlich unbeschwert, so ganz ohne geistiges Gepäck. Weil sie
lebten, lebten sie! Sie liebten, weil eben eine Blume nicht anders
kann und blühen muß. Fragliches gab es bei ihnen nicht. So heiter,
feurig und fertig waren sie aus Gottes Händen hervorgegangen, zur
Liebe bestimmt, zur Liebe gemacht und keiner anderen Glückseligkeit
weder im Himmel noch auf der Erde gewärtig: begnadet mit der
Bestimmung eines durch den Sommermorgen gaukelnden bunten
Schmetterlings. [...]
Zweiunddreißigstes Kapitel
Wir wurden von Kläre, Käthe und
Ännchen bis an die Fähre der Elbe gebracht, deren Wasser für mich
eine Lethe war. Ich hatte, wenn ich vom Jenseits herüberkam, einen
Strom des Vergessens überquert, so daß mein Hohenhauser Glück
meine Grubener Freuden nicht stören konnte. Fährmann und Boot
brachten mich nun dorthin zurück. Kläre, Käthe und Ännchen
winkten mit Locken und weißen Tüchelchen. Dann trank sie der Glanz
des Sommers ein. Keiner von uns drei Burschen, die den Fuß aus dem
Boot an das grüne Ufer setzten, hat eines der hübschen Kinder
wiedergesehen. [...]
Ich lebte also, wie ich mir
eingestehen muß, gedankenlos meinen Urinstinkten hingegeben: Spiel,
Jagd, Liebeslust. [...]
Weil ich die See gefürchtet hatte,
war ich in Hamburg zur See gegangen. Weil sich Berlin wie ein
ungeheurer, rätselhafter, düsterer Wirbel vor meine Seele gedrängt
hatte, zog es mich unwiderstehlich dorthin. Dort mußte man
schwimmen, kämpfen, bestehen lernen: oder man mochte untergehn. Wie
konnte dies aber über mich kommen, nachdem ich doch eben noch
wunschlos gewesen war und mein Glück in bloßer Naturnähe, Liebe
und Einfalt gesehen hatte? Hatte ich nicht vermieden, auch nur einen
Seitenblick auf die Anmaßungen meiner bildnerischen Ziele
zurückzuwerfen? Und kam mich, wenn es von ungefähr geschah, nicht
ein Zittern an? Brachte mir nicht der Gedanke an das ewige Blau eines
Himmels die schwärzeste Melancholie und einen Schauder, als ob ich
mir, dem Pygmäen, eine der Arbeiten des Herakles zugemutet hätte? O
nein, ich wollte nicht mehr den Gefesselten Prometheus spielen!
Vielmehr graute mir vor ihm. Jetzt stürzte ich mich blind in diese
mir Furcht erregende Stadt hinein, wo ich nur Großes und Arges
ahnte. Und ich war des gewiß: es mußte sein. Und wirklich: der
Wirbel packte mich fürchterlich. Ich wußte nicht, als ich Mary
verließ, welche gefährliche Spanne Zeit ich vor mir hatte. Und
ebensowenig wußte Mary, daß sie, anstatt mich schon jetzt mit
kluger Vorsicht im Häuslichen einzufangen, nochmals mein Leben aufs
Spiel setzte.
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend , 1937)
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