10 Juni 2018

Moltke: Unter dem Halbmond - Briefe von April und Mai 1836

Pera, den 7. April 1836 
Es ist lange die Aufgabe abendländischer Heere gewesen, der osmanischen Macht Schranken zu setzen; heute scheint es die Sorge der europäischen Politik zu sein, diesem Staat das Dasein zu fristen. Die Zeit liegt nicht so fern, da man ernstlich fürchten durfte, der Islam könne in einem großen Teil des Abendlandes die Oberhand gewinnen, wie er im Orient gesiegt hat.
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Der vornehmste Fürst des damaligen Europa, der römische König, floh vor ihnen aus seiner Hauptstadt und wenig fehlte, so wurde der Stephan zu Wien eine Moschee wie die Sophia zu Byzanz. Damals gehorchten die Länder von der afrikanischen Wüste bis zum Kaspischen Meer und vom Indischen Ozean bis zum Atlantischen Meer dem Padischah. Venedig und die deutschen Kaiser standen im Tributregister der Pforte. Ihr gehorchten drei Vierteile der Küsten des Mittelländischen Meeres; der Nil, der Euphrat und fast auch die Donau waren türkische Flüsse, der Archipel und das Schwarze Meer türkische Binnenwasser geworden. Und kaum zweihundert Jahre später stellt dasselbe mächtige Reich uns ein Gemälde der Auflösung vor Augen, welches ein nahes Ende zu verkünden scheint.
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Die jetzige türkische Armee ist ein neuer Bau auf einer alten, gänzlich erschütterten Grundfeste. Die Pforte dürfte in diesem Augenblick ihre Sicherheit mehr in Verträgen als in Heeren finden und die Schlachten, die über die Fortdauer dieses Staates entscheiden sollen, können ebenso gut in den Ardennen oder dem Waldaigebirge als am Balkan ausgefochten werden.
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Wenn es eine der ersten Bedingungen jeder Regierung ist, Vertrauen zu erwecken, so lässt die türkische Verwaltung diese Aufgabe völlig ungelöst. Ihr Verfahren gegen die Griechen, die ungerechte und grausame Verfolgung der Armenier, dieser treuen und reichen Untertanen der Pforte, und so viele andere gewaltsame Maßregeln sind in zu frischer Erinnerung, als dass jemand sein Kapital dort anlegen sollte. In einem Lande, wo dem Gewerbefleiß das Element fehlt, in welchem er gedeiht, kann auch der Handel größtenteils nur ein Austausch fremder Fabrikate gegen einheimische Rohstoffe sein.
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Pera, den 13. April 1836
 Am 2. April abends verließ ich mit einem österreichischen Dampfschiff Konstantinopel und erblickte am folgenden Morgen die hohen schönen Gebirge der Insel Marmara. Rechts zeigten sich die Berge von Rodosto mit Weingärten und Dörfern. Bald traten die Küsten Europas und Asiens näher zusammen und Gallipoli erschien auf schroffen zerrissenen Klippen mit einem alten Kastell und zahllosen Windmühlen am Ufer. Hier war es, wo die Türken zuerst nach Europa übersetzten. Gegen Mittag tauchte das Fort Nagara mit seinen weißen Mauern aus der hellblauen klaren Flut des Hellesponts empor. Diese Meerenge ist bei weitem nicht so schön wie der Bosporus, die Ufer sind kahl und beträchtlich weiter entfernt als dort, aber die geschichtlichen Erinnerungen machen sie anziehend. Von jenem seltsam aussehenden Hügel (vielleicht von Menschenhänden aufgetürmt) blickte Xerxes auf seine zahllosen Scharen, die er nach Griechenland führte; jene Steintrümmer, welche die ganze flache Landzunge überdecken, waren einst Abydos und hier schwamm Leander von Europa nach Asien, um Hero zu sehen.
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Konstantinopel, den 5. Mai 1836 
Vorgestern gab der Sultan den Gesandten ein prachtvolles Diner zur Feier der Vermählung seiner zweiten Tochter Mihrimah, auf Deutsch Sonnenmond. Man versammelte sich in einem Kiosk, der von allen Seiten offen war und eine weite Aussicht über Konstantinopel, Pera und das Meer gewährte.
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Pera, den 20. Mai 1836 
Seit einigen Tagen ist es plötzlich so kalt geworden, dass wir heizen müssen, und erst mit der Sonnenfinsternis am 15. Mai hat sich der Frühling aufs Neue eingestellt. Die Nähe des Schwarzen Meeres macht es, dass jeder Nordwind bis zum Juni Kälte mit sich bringt.

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