13 Juni 2018

Moltke: Unter dem Halbmond - Pera und Bujukdere 1836

Der kleinste deutsche Marktflecken übertrifft Konstantinopel, Adrianopel und Brussa an Zierlichkeit der Wohnungen und noch mehr an Bequemlichkeit. Großartig sind nur die Moscheen und die Hanns oder Karavanserais, die Fontänen und öffentlichen Bäder. [...]
In der Kathedrale von Nicäa, wo das berühmte Konzil gehalten wurde, schimmert an der Stelle des Hochaltars noch heute durch den weißen Anstrich die stolze Verheißung I. H. S. ( in hoc signo), aber quer darüber steht die Grundlehre des Islam geschrieben: »Es ist kein Gott, als Gott.« Es liegt eine Lehre der Duldung in diesen vermischten Zügen, und es scheint, als wenn der Himmel das Credo so gut als das Allah il Allah anhören wollte.

Zweite Reise zu den Dardanellen – Die Steinkugel und der ionische Fischerkahn
Pera, den 19. Juli 1836 
Am 11. reiste ich mit einem österreichischen Dampfschiff zu den Dardanellen ab, wohin Halil Pascha zu Lande über Adrianopel gegangen war. Es wurden einige Probeschüsse mit den großen Steinkanonen aus Sultani-Hissar abgefeuert. Am jenseitigen europäischen Ufer lag ein kleines Kaik, das man nicht bemerkt hatte; nachdem die Ladung von mehr als einem Zentner sich entzündet hatte, schlug die vom Pulver geschwärzte ungeheure Kugel etwa in der Mitte der Meerenge auf, und eine hohe, weiß schäumende Wassergarbe türmte sich bei jedem neuen Abprall auf dem Wasser empor, der gewaltige Marmorklotz tanzte nun gerade auf das kleine Fahrzeug zu, zerschmetterte es in tausend Stücke und taumelte dann langsam das Ufer hinauf. Dicht neben dem Kahn hatte der Eigentümer auf dem Strand schlafend gelegen; er erwachte von dem fürchterlichen Knall und fand kaum die Splitter seines Nachens wieder. Der Pascha schickte sogleich hinüber, um den Wert des Fahrzeuges bezahlen zu lassen; das gefiel dem Eigentümer sehr gut und er erinnerte sich nachträglich, einen Beutel mit 50 000 Piastern im Kahn gehabt zu haben, die ebenfalls fortgeschossen seien. Die türkischen Soldaten, die von dieser Unterhandlung nichts erfuhren, fanden es ganz einfach und angemessen, dass ihr Pascha den Nachen des Giaur zur Zielscheibe gewählt habe. Sie frohlockten, dass nicht das kleinste Fahrzeug selbst am entgegengesetzten Ufer durch den Boghas, den Engpass, schleichen könne, ohne von einer Kugel ereilt zu werden, und wir ließen sie gern bei dieser Ansicht.
[...]
An Bord im Hafen von Smyrna, den 4. August 1836 
Als ich mein letztes Schreiben auf die Post gab, traf ich in Konstantinopel das Dampfschiff der Regierung, eben im Begriff die Anker zu lichten, um nach Smyrna abzugehen. Da ich den Kapitän gut kannte, so stieg ich an Bord, wie ich war, um diesen interessanten Punkt des Orients kennen zu lernen. Wind, Strömung und Dampfkraft vereinigten sich uns schnell durchs Marmarameer und den Hellespont dem Archipel zuzuführen, den die Türken das weiße Meer nennen (ak denis, auf Arabisch bahr-sefid). Wir eilten an den alten Dardanellen-Schlössern vorüber, die ich erst vor acht Tagen verlassen hatte, und nachdem wir auch die neuen Schlösser mit ihren Riesenkanonen passiert hatten, breitete sich das Ägäische Meer mit seinen schönen Felsinseln Imbros, Lemnos und dem hohen Gipfel von Samothraki vor uns aus. Das Wasser ist von himmelblauer Farbe und so klar, dass man die mächtigen Delphine, die weite Strecken neben dem Schiff pfeilschnell dahinschießen, deutlich sieht. Von Zeit zu Zeit sprangen sie schnaubend aus ihrem Element heraus hoch in die Luft. Jetzt wandten wir uns links um das Vorgebirge Sigeum und steuerten zwischen der Troade und Tenedos auf Mytilene zu. Die mächtigen Ruinen von Alexandra Troas schimmerten aus den Oliven- und Nussbäumen hervor und seltsame genuesische Schlösser, mit Mauern und Türmen umgeben, ragten auf den Inseln und Vorgebirgen empor. Am frühen Morgen liefen wir in das von hohen Gebirgsgruppen umgebene weite Becken von Smyrna ein. Der Vollmond leuchtete noch, als schon der östliche Himmel sich dunkelrot färbte, wie wenn der asiatische Boden von der gestrigen Hitze noch glühte. Die Berge sind ganz kahl, von der Sonne verbrannt, aber von äußerst schönen Formen. Am Fuß derselben, längs des Meeres, zieht sich ein grüner Streifen von bebautem Land mit Weinbergen, Oliven, Maulbeerbäumen und dunklen Zypressen hin. Die Dörfer und Häuser sind aus Stein mit flachem Dach erbaut. Am Ende der Bucht zeigt sich nun Smyrna, das amphitheatralisch an den dahinter liegenden Bergen emporsteigt. Unten am Meer hinter den Schiffen erkennt man zuerst eine große Kaserne, eine Batterie, ein schönes Karavanseraj mit vielen Kuppeln, mehreren Moscheen und links die Frankenstadt mit steinernen Gebäuden. In zweiter Region zeigt sich die eigentlich türkische Stadt. Wenn eine Hand voll kleiner roter Häuser, einige Moscheen und Fontänen vom Himmel auf die Erde herabfielen, so könnte der Bauplan nicht bunter ausfallen als der dieser Stadt. Man staunt, dass man noch Wege und Fußsteige durch die Häusermasse findet. Hoch über das Ganze ragt das alte Schloss oder die Festung von Smyrna, die in der fernsten Vorzeit erbaut, von den Genuesern mit Türmen versehen ist und welche die Türken jetzt verfallen lassen. Da die Hitze hier sehr groß ist, so eilte ich, mich ganz auf smyrniotische Art zu kleiden, d. h. mit einem weißen Strohhut, weißleinener Jacke und Pantalons, Schuhen und Strümpfen. [...]
Die von Saft überfüllte Wassermelone wuchert als Unkraut in diesem heißen, durstigen Land und bildet ein wahres Labsal, wo man oft keinen Trunk Wasser haben kann. [...]
Das Meeresleuchten ist hier eine gewöhnliche Erscheinung; helle Funken klebten an den Rudern und wirbelten an dem Steuer, als ich an Bord zurückkehrte. Ganz eigen ist es, wenn man beim Meeresleuchten badet; man ist wie in Licht und Feuer eingewickelt. [...]
Die Abenteuer, die wir auf der Heimfahrt erlebten, werden dir einen Begriff von der türkischen Nautik geben. Kaum waren wir eine Stunde vom Hafen entfernt, als wir abends wieder einmal strandeten. Wir warfen die Anker hinter dem Schiff aus und arbeiteten, um loszukommen, aber umsonst. Es musste das Wasser aus dem Kessel gelassen werden, wodurch das Schiff sehr erleichtert wird, und bald nach Mitternacht wurden wir wieder flott. Nun mussten die Anker gefischt, der Kessel gefüllt und der Herd geheizt werden. Gegen Morgen war alles so weit fertig und die Maschine sollte in Gang gesetzt werden. Der Kessel dachte darüber anders; schon auf der Hinreise hatte er zwei Löcher bekommen; jedermann versprach sich wenig Gutes und war auf seiner Hut. Als wir uns nun eben in Bewegung setzen sollten, platzte der Kessel; man hatte ihm auf seine alten Tage nie mehr als höchstens die Hälfte des Drucks zugemutet, auf welchen er ursprünglich berechnet gewesen war, die Explosion war daher lange nicht so groß, wie ich erwartete. Ohnehin war der Sprung auf der unteren Seite, das Feuer erlosch sogleich und augenblicklich war der Raum, in dem die Maschine arbeitet, mit Dampf und siedendem Wasser angefüllt. Die Leute sprangen auf das Gestell der Maschine und zum sehr großen Glück kam kein Mensch dabei zu Schaden als der Kapitän, dem die Füße verbrüht wurden. Wir kehrten nach Smyrna zurück und ich schiffte mich auf einem österreichischen Dampfschiff ein, das denselben Abend noch abging. [...]

Bujukdere*, den 5. September 1836  
*Büjükdere ist ein Viertel in dem Stadtteil Sarıyer von Konstantinopel
  
Der Aufenthalt hier in Bujukdere, wo ich mich jetzt eingerichtet habe, ist sehr angenehm; der beständige Nordwind hält die Temperatur niedrig und es ist kaum wärmer als in Berlin, dabei fortwährend schönes Wetter und blauer Himmel. Seit drei oder vier Monaten hat es nicht geregnet und in Pera fängt der Wassermangel an sehr fühlbar zu werden. Das gute Trinkwasser ist dort halb so teuer wie der schlechte Wein. Um Konstantinopel ist alles verdorrt, nur hier am Bosporus bewirkt die feuchte Seeluft des Schwarzen Meeres, dass die Bäume und der Zwerglorbeer, der die Bergwände bekränzt, noch immer mit frischem Grün prangen. In einer Schaluppe machen wir oft Ausflüge, die uns bald ins Marmarameer, bald ins Schwarze Meer führen. Aber auch zu Pferde sind die Promenaden sehr unterhaltend. Die gerade Straße von Pera hierher führt über die Höhe und zieht sich zwei Meilen weit durch eine fortwährende Einöde. Der Weg am Ufer des Bosporus dagegen ist länger und beschwerlich wegen des Steinpflasters, aber sehr unterhaltend. Diese ganze drei Meilen weite Strecke bildet eine einzige fortlaufende Stadt aus Wohnungen und Lusthäusern, Kiosken, Moscheen, Springbrunnen, Bädern und Kaffeehäusern. Die Gärten steigen auf Terrassen empor und die mächtigen Zypressenhaine der Begräbnisplätze krönen die Gipfel.
Oft nimmt der Weg plötzlich eine Wendung, du stehst vor einer Moschee, neben einem Springbrunnen und unter mächtigen Platanen am klaren plätschernden Strom des Bosporus; Knaben in weißen oder blauen Kleidern und farbigen Turbanen springen herbei das Pferd zu halten; der Kaffeewirt hält schon die lange Pfeife bereit und gießt den unausbleiblichen Kaffee in die kleine Tasse, schiebt einen niedrigen Rohrsessel auf die Terrasse seines Hauses und ein Schwarm von Kaikführern streitet sich um den Vorzug dich für einige Para zwischen den paradiesischen Ufern zweier Weltteile hinzurudern.
Und zehn Minuten von dieser Szene des Lebens und des Überflusses entfernt kannst du in eine menschenleere Einöde treten. Du darfst nur auf die nächste Höhe hinaufsteigen, so liegt der Thrakische Chersones, ein Hügelland, vor dir, auf dem du kein Dorf, keinen Baum, kaum einen Weinberg, sondern nur einen steinigen Saumweg erblickst.[...]
Die Rosen- und Brombeersträucher beschränken den Wanderer auf einen schmalen Pfad in den Tälern; nur hin und wieder streift ein Schakal durch die Büsche oder ein Adler oder Mahommedsvogel stürzt erschrocken und krächzend von seinem Lager empor. Plötzlich öffnen sich die Zweige und du stehst vor einem riesenhaften Gemäuer, einem Palast ohne Fenster und Türen; aber mit seltsamen Türmen, Zinnen und Spitzen, ganz mit Marmor bekleidet. Die Flügel jener Waldschlösser lehnen sich an die Talwände und wenn du diese bis zum obersten Rand des Gemäuers auf breiten Marmorstufen ersteigst, so erblickst du jenseits den klaren Spiegel eines künstlichen Sees, der zwischen den bewaldeten Höhen durch den mächtigen Steinwall zurückgehalten wird. Es ist eines der großen Reservoirs, welche eine halbe Million Menschen in einer Entfernung von vier bis fünf Meilen mit frischem Wasser versehen. Hier fangen die Wasserleitungen an, die auf ihrem Zug die Täler auf mächtigen Bogen überschreiten, die seit Valens', Justinians, Severus' und Suleimans des Großen Zeiten noch heute unerschüttert dastehen. [...] (Moltke: Unter dem Halbmond Kap.17)

Wohin du deinen Blick richtest, fällt er auf klassische Gegenstände. An diesen Gestaden pflückte Medea ihre Zauberkräuter; in jenem weiten Tal, an dessen oberem Ende eine türkische Wasserleitung schimmert, lagerten die Ritter des ersten Kreuzzuges, und eine Gruppe von neun riesenhaften Stämmen trägt noch heute den Namen: die Platanen Gottfrieds von Bouillon. Auf den Höhen zu beiden Seiten ragen die Trümmer zweier genuesischen Kastelle. Sie standen durch lange Mauern mit den Ufern des Bosporus und den dortigen Batterien in Verbindung, denn das mächtige Handelsvolk legte dem byzantinischen Reich seine Fesseln auf, bis es mit Byzanz zugleich von den Türken verschlungen wurde. Das Schloss auf der europäischen Seite ist beinahe schon verschwunden, aber das asiatische ragt noch mit hohen Türmen, Mauern und Zinnen, zwischen denen eine köstliche Vegetation von Feigen- und Lorbeerbäumen sich hervordrängt. Ungeheure Efeustämme steigen empor und scheinen mit tausend Armen das alte Gemäuer zusammenhalten zu wollen.
Heute habe ich zum ersten Mal an der Pforte des Seraskiers die Bastonade austeilen sehen. Es waren fünf Griechen, die jeder mit 500 Hieben, in Summa 2500 Streichen, auf die Fußsohlen bedacht werden sollten. Ein Kawass oder Polizeioffiziant kniete dem Beschuldigten auf der Brust und hielt ihm die Hände, zwei trugen eine Stange auf den Schultern, an welche die Füße gebunden werden, und zwei andere führten die Stöcke. Aus besonderer Aufmerksamkeit für mich erbot der Pascha sich 200 Stück pro Kopf oder vielmehr pro Fußsohle herabzulassen. Ich fand den Rest noch recht beträchtlich und schlug ihm 25 Hiebe vor, worauf er sich dann auf 50 herabhandeln ließ. Diese Huld wurde den Patienten mit der besonderen Bemerkung mitgeteilt, dass es dem preußischen Beysadeh (wörtlich Fürstensohn) zu Gefallen geschähe. (Kapitel 19)
Die bedeutendste und älteste der Wasserleitungen von Konstantinopel ist diejenige, welche schon Kaiser Konstantin anfing und die später Kaiser und Sultane erweiterten. Sie wird aus fünf großen Teichen gespeist, die sich rings um das Dorf Belgrad gruppieren; der größte unter diesen, der »Bujuk-Bend«, liegt zunächst unterhalb jenes von Bulgaren bewohnten Ortes, deren Voreltern einst als Kriegsgefangene aus Belgrad an der Donau hierher verpflanzt wurden und den Namen ihrer Vaterstadt auf die neue Heimat übertrugen. Jener Bend hat, wenn er gefüllt ist, eine Länge von mehr als 1000 Schritt, er fasst allein 8 bis 10 Millionen Kubikfuß Wasser und ersetzt seinen Vorrat aus dem Inhalt eines zweiten Reservoirs dicht oberhalb Belgrads. (Kapitel 20)

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