17 Juni 2018

Moltke: Unter dem Halbmond - Reise des Großherrn

Reise des Großherrn
Varna, 2. Mai 1837 
Ich schrieb dir im vorigen Monat, dass ich vom Großherrn den Befehl erhalten habe ihn auf einer Reise durch Bulgarien und Rumelien zu begleiten. Heute benutze ich die erste freie Stunde, um dir eine Nachricht über diese Reise zu geben, und obgleich ich meinen Brief vorerst nicht absenden kann, so will ich doch wenigstens fertig sein, um die erste Gelegenheit zu benutzen, mit der es geschehen kann. Am 24. April, 10¼ Uhr vormittags, hatte die glückliche Stunde für den Antritt der Reise Seiner Hoheit des Großherrn geschlagen; die Gelehrten hatten diese Stunde richtig genug bestimmt, denn das regnerische Wetter der letzten Tage war durch den heitersten Himmel ersetzt und der Südwind, den wir für unsere Fregatte nötig hatten, blies frisch von den asiatischen Bergen herunter. Ich hatte mich schon abends zuvor an Bord der »Nusrethieh« oder »Siegreichen« begeben, welche den Kanal bis Bujukdere hinaufgegangen war. Um nicht als Franke in der Umgebung des Sultans anstößig aufzufallen, hatte ich die rote Mütze und einen türkischen Anzug angelegt, den der Großherr mir zugeschickt hatte. Um Mittag sahen wir das grüne Kaik des Sultans mit seinen vierzehn Paar Ruderern schnell wie einen Delphin heranschießen; die Marinesoldaten traten unters Gewehr; die Musik spielte. Die Anker waren fast gelichtet, die Segel halb entfaltet. Se. Hoheit trugen eine scharlachrote Husarenuniform mit goldenen Schnüren, den roten Fes, weiße Beinkleider mit Goldtressen und schwarze Samtstiefel. Sein Gefolge trug blaue Husarenuniform. Man hatte mir meinen Platz in der Parade zwischen den Paschas und den Obersten angewiesen, wo ich mit den Übrigen mein Taminah oder den Gruß mit der Hand zur Erde, auf die Brust und Stirn machte. Se. Hoheit schickte den Kapudan-Pascha ab, um mir sagen zu lassen, »dass das Wetter gut sei«, und dieser brachte glücklich »parfaitement bon le temps« heraus. Dies war eine besondere Gnade und Auszeichnung, welche später noch erhöht wurde, als der Sultan die Bemerkung machte, dass mein roter Fes sehr kleidsam sei, eine Behauptung, mit der ich bisher durchaus nicht einverstanden war. Jetzt hallten die steilen Bergwände des Bosporus von dem Donner der Geschütze unserer Fregatte und der Batterien am Ufer wider. Die mächtigen Segel entfalteten sich, und mit zunehmender Schnelligkeit ging's hinaus in den gefürchteten Euxin. Die Nusrethieh führt 68 Geschütze und ist vielleicht die schönste und größte Fregatte. Bald ließen wir nicht nur die Leuchttürme an der gefahrvollen Mündung des Bosporus, sondern auch die beiden vortrefflichen österreichischen Dampfschiffe, die uns begleiten sollten, hinter uns, und gegen Abend sah man in der Ferne nur noch ihre Rauchstreifen aufsteigen. [...]
Der Moment des Ausschiffens gewährte einen schönen Anblick. Sobald der Großherr sich in sein Kaik begeben hatte, feuerten die Batterien der Festung und der Fregatte, bunte Wimpel wehten von allen Masten und die Schiffsmannschaft in ihrer roten Uniform paradierte auf den Rahen des Schiffs bis zur schwindelnden Höhe des Mastes. [...]

Ich bin im erzbischöflichen Palast einquartiert, worunter du dir eine sehr bescheidene Bretterbude vorzustellen hast. Mein Wirt führt auf Griechisch den etwas seltsamen Titel: Despot, ein Prädikat, das sich schlecht mit der tief gebeugten Stellung und dem Küssen des Rockzipfels eines türkischen Paschas verträgt. Der Despot hat aber einen trefflichen Wein, das Essen ist schmackhaft und alles reinlich und gut.


Schumla, den 5. Mai 1837
Der Großherr verließ Varna am 3., blieb die Nacht in einem Dorf, wo man binnen zwölf Tagen einen Kiosk für ihn erbaut und vollständig möbliert hatte. Er frühstückte am 4. in einem anderen Dorf, wo ebenfalls ein Haus für diesen viertelstündigen Aufenthalt aufgeführt und eingerichtet war, und traf mittags hier ein. Ich war schon am 2. in der Nacht vorausgereist, um mich vorher zu orientieren.

Die Empfangsfeierlichkeiten scheinen überall dieselben zu sein. Se. Kaiserliche Majestät steigen eine Viertelstunde vor der Stadt in ein Zelt ab, um den blauen Überrock mit der bewussten roten Uniform zu vertauschen. Für wen er eigentlich diese Toilette macht, weiß ich nicht; bei uns ist man gewöhnt, die Pracht des Monarchen durch den Glanz der Großen und Mächtigen, die ihn umgeben, gehoben zu sehen. Hier ist nur ein Herr, die Übrigen sind Knechte. Sobald Se. Hoheit zu Pferde stiegen, ließ man eine Menge Minen in den Steinbrüchen auf den Bergen rings umher auffliegen. Zu beiden Seiten des Weges paradierten die Notabilitäten der Stadt, rechts die Muslime, links die Rajahs. Obenan stehen die Mullahs oder Geistlichen, welche noch immer den schönen weißen Turban tragen, dann folgen die weltlichen hoch stehenden Personen. Links paradierten erst die Griechen mit Lorbeerzweigen, dann die Armenier mit Wachskerzen und endlich die armen verhöhnten und misshandelten Juden. Die Moslems standen aufrecht mit über den Leib verschränkten Armen, die Rajahs aber, und selbst Bischof und Priester mit den geweihten Kirchengeräten, warfen sich nieder und blieben mit der Stirn an der Erde, bis der Sultan vorüber war; sie durften das Antlitz des Padischahs nicht schauen. An mehreren Stellen wurde beim Vorüberreiten des Großherrn der Kurban oder das Opfer an sieben Hammeln vollzogen, denen man die Hälse abschnitt. 
Heute, am Freitag (dem türkischen Sonntag), ging der Großherr mit zahlreichem Gefolge in die Moschee: Ich habe dagegen tüchtig mit meiner Aufnahme [Vermessung der bereisten Gebiete, insbesondere Festungsanlagen] zu tun. [...]


Der Großherr hielt nun durch seinen ersten Sekretär, Wassaf-Effendi, eine Rede, in der er den Versammelten sagte, dass er selbst gekommen sei, um sich von ihrem Zustand zu überzeugen, dass er ihre Stadt und Festung wieder aufzubauen und Ordnung und Wohlstand im Lande selbst zu befestigen gewillt sei, dass Gesetz und Recht nicht nur in der Hauptstadt, sondern im ganzen Reich gehandhabt werden sollen. »Ihr Griechen«, sagte er, »ihr Armenier, ihr Juden seid alle Diener Gottes und meine Untertanen so gut wie die Moslems; ihr seid verschieden im Glauben, aber euch alle schützen das Gesetz und mein kaiserlicher Wille. Zahlt die Steuer, die ich euch auferlege; die Zwecke, zu denen sie verwendet werden, sind eure Sicherheit und euer Wohl.« Zum Schluss fragte der Sultan, ob jemand unter den Rajahs Beschwerden habe und ob ihre Kirchen der Ausbesserung bedürfen. In diesem Land, wo der einfache Mann gewöhnt ist, alles umsonst, als Frondienst für den Mächtigen zu tun, bezahlt der Großherr die Kosten seiner Reise bar. Wie ich höre, führt er an Geld 2½ Millionen Gulden, außerdem eine Menge von Pretiosen mit sich; an keinem Armen oder Krüppel reiten wir vorüber, dem der Großherr nicht durch einen seiner Leute ein Goldstück schickt. Bei seiner Abreise hat er für die Armen in Schumla 10 000 Gulden hinterlassen und dabei ausdrücklich dafür gesorgt, dass das Geld wirklich an die ihm besonders namhaft gemachten Notleidenden kommt, und nicht allzu viel zwischen den Fingern der Austeiler kleben bleibt. Die Imame müssen darüber berichten. Sooft wir zurückkehren, sehe ich Gruppen von Weibern, welche Bittschriften über ihre Köpfe emporhalten. Ein Offizier reitet dann heran, rafft die Zettel zusammen, steckt die ganze Korrespondenz in seine Satteltaschen, um sie dem Almosenier zu überreichen. 
Silistria, den 11. Mai 1837 
Heute erst finde ich Muße, meinen Bericht wieder aufzunehmen. Am 9. ritt ich vor Sonnenaufgang zu einem Dorf auf der anderen Seite des Gebirges; mittags war ich zurück, fand frische Pferde und begleitete den Großherrn bis 5 Uhr; dann wurde ein treffliches Mittagsmahl eingenommen. Wir setzten uns in den Wagen und fuhren die Nacht durch; ich traf um 1 Uhr nachmittags hier ein und konnte noch am Abend und am folgenden Morgen vor Ankunft des Großherrn den Plan der Festung aufnehmen. Der Großherr hat in seinem Benehmen gegen seine Umgebung so viel gemütliche Geradheit und Gutmütigkeit, dass bei aller Strenge und Etikette ein jeder es bequem hat. Wenn man den Herrn so sieht, sollte man nicht denken, dass es derselbe Mann ist, der 20 000 Janitscharen köpfen ließ. Die Fürsten Ghika und Stourdza sind aus der Moldau und Walachei hier, um ihren Herrn zu begrüßen. Ich war neugierig ihren Empfang zu sehen: Er war eben nicht sehr schmeichelhaft; wohl zwei Stunden warteten diese Halbsouveräne im Sonnenschein, bis der Großherr eintraf, vor seinem Zelt abstieg und Toilette machte. Der Sultan empfing die beiden Vasallen unter einem Baldachin auf Samtpolstern sitzend; die Fürsten, gefolgt von ihren Bojaren, schritten mit über den Leib verschränkten Armen heran, warfen sich auf beide Knie und küssten den Zipfel des Gewandes Sr. Hoheit, welcher die Gnade hatte, ihnen zu gestatten, zehntausend Dukaten zu überreichen; dagegen erhielten sie heute ihre Ehrenpelze, Tabatieren und Schals.
Fürst Ghika hat mich heute Abend zu sich geladen, und da die türkische Uhr 12 schlägt, das heißt da die Sonne untergeht, so schließe ich für heute, um womöglich in Rustschuk fortzufahren.
Rustschuk, den 14. Mai 1837

Nie habe ich ärger gefroren wie gestern Nacht auf der Reise hierher; meine türkischen Begleiter waren ganz erstarrt und der Araber, der die Handpferde führte, rief ein Aman – »Erbarmen« – über das andere und sehnte sich nach dem milderen Himmel des Sennars.
Seit langer Zeit sah ich jenseits in Gjurgewo zum ersten Mal wieder einen Kirchturm und der befreundete Schall der Glocken tönte durch die klare Abendluft zu uns herüber.
Rustschuk liegt auf einer Höhe, die an 50 bis 60 Fuß senkrecht zur Donau abstürzt; der Rand dieses Abhanges war mit zahllosen Frauen bedeckt, und da alle den weißen Schleier um Kopf und Schultern trugen, so sah es aus, als ob die Höhen beschneit wären. Unten am Gestade paradierten wie gewöhnlich die Landwehr, dann die Geistlichkeit der verschiedenen Nationen, die Notabeln des Orts und endlich das Volk.
Tirnowa, den 19. Mai 1837 
Was für ein wunderschönes Land ist doch dieses Bulgarien! Alles ist grün; die Wände der tiefen Täler sind mit Linden und wilden Birnbäumen bestanden, breite Wiesen fassen die Bäche ein, üppige Kornfelder bedecken die Ebene und selbst die weiten Strecken unangebauten Landes sind mit reichem Graswuchs geschmückt. Die vielen einzeln stehenden Bäume geben der Gegend einen besonderen Reiz und zeichnen ihren dunklen Schatten auf den lichtgrünen Flächen ab. In der Nähe der Donau habe ich fast nur türkische Dörfer gefunden; wahrscheinlich sind die christlichen Bewohner jenseits des Stromes in die Fürstentümer gezogen, von wo die Glocken herüberschallen und wo ihre Kirchtürme die Häupter in die blaue Luft zu erheben wagen. Gestern Mittag kamen wir hier in Tirnowa an. Da ich keine Sonderaufgaben mehr habe, folge ich jetzt mit den Übrigen Sr. Hoheit zu Pferde. Schon weit vor Tirnowa bildeten die Einwohner ein Spalier, die Landwehr paradierte und die griechischen Frauen standen auf den flachen Dächern und Terrassen, um den Basileus eintreffen zu sehen. Ich habe nie eine romantischere Lage als die dieser Stadt gefunden; denke dir ein enges Gebirgstal, in dem die Iantra sich ihr tiefes Felsbett zwischen senkrechten Sandsteinwänden gewühlt hat und wie eine Schlange in den seltsamsten Windungen fortfließt. Die eine Wand des Tals ist ganz mit Wald, die andere ganz mit Stadt bedeckt. Mitten im Tal erhebt sich ein kegelförmiger Berg, dessen senkrechte Felswände ihn zu einer natürlichen Festung machen; der Fluss schließt ihn ein wie eine Insel, und er hängt mit der übrigen Stadt nur durch einen 200 Fuß langen und 40 Fuß hohen natürlichen Felsdamm zusammen, der aber nur breit genug für den Weg und die Wasserleitung ist. Ich habe eine so abenteuerliche Felsbildung nie gesehen."


Auf der Höhe des scharfen Kamms hat man eine weite Aussicht über das Hügelland von Bulgarien und eine noch schönere auf der rumelischen Seite in das reizende Tal von Kasanlik. Wie eine Landkarte liegen die Felder, Wiesen und Dörfer da, die weißen Wege und die Bäche, deren Lauf an prächtigen Bäumen kenntlich ist; jenseits erhebt sich eine andere, aber niedrigere Bergkette, und das Ganze erinnerte mich lebhaft an das schöne Hirschberger Tal, vom Kynast aus gesehen. [...]
Von dem Wasserreichtum dieser Gegend kann man sich kaum eine Vorstellung machen. Ich fand eine Quelle am Wege, die 9 Zoll stark senkrecht aus dem Kiesgrund emporsprudelte und dann als kleiner Bach davoneilte. Wie in der Lombardei werden alle Gärten und Felder täglich aus dem Wasservorrat getränkt, der in Gräben und Rinnen dahinrauscht. Das ganze Tal ist ein Bild des gesegnetsten Wohlstandes und der reichsten Fruchtbarkeit, ein wahres gelobtes Land; [...]

Es ist selbst in Konstantinopel äußerst schwer, sich dieses Öl unversetzt zu verschaffen. Ich hatte mir einen Vorrat Rosenöl mitgenommen und da ich genötigt war, einen Tag mit der Flasche in der Tasche zu reiten, so dufte ich auch acht Tage wie ein Rosenstock. [...]
Die Lage Adrianopels erhält einen eigentümlichen Charakter durch den Zusammenfluss von vier beträchtlichen Strömen: Maritza, Arda, Tundscha und Usundscha; daher die weite, mit Maulbeerbäumen bedeckte Niederung, welche die Stadt einschließt. Adrianopel ist auf einem Hügel erbaut, dessen Gipfel von der prachtvollen Moschee Sultan Selims gekrönt ist. Zahlreiche große Steinbrücken von schöner Arbeit überqueren die vielen Wasserarme in allen Richtungen und der Anblick dieser Stadt von außerhalb ist höchst prachtvoll. Adrianopel war, nachdem die osmanischen Herrscher den europäischen Boden betraten, der Sitz ihrer Regierung, wie Brussa es zuvor gewesen und wie Konstantinopel es später wurde.
 [...]
Hoch über alle die vielen Moscheen erhebt sich die Kuppel Sultan Selims mit den vier schlanken Minaretts. Ich fand den Durchmesser der Wölbung hundert Fuß, also fast so groß wie irgendeine in Konstantinopel, selbst die Aya-Sophia nicht ausgenommen. Zweihundertundfünfundvierzig Stufen führten mich auf den obersten der drei Umgänge oder kranzförmigen Balkone eines der Minaretts. Die Höhe beträgt über 200 Fuß, bei einem Durchmesser von unten 11, oben nur 8 Fuß, am Schatten gemessen. Die Minaretts gleichen daher in der Tat eher Säulen als Türmen, und doch, so künstlich sind sie erbaut, winden sich in ihrem Innern drei vollkommen bequeme Treppen ineinander, sodass drei Menschen zugleich hinaufsteigen können. Ohne im Geringsten zum Schwindel zu neigen, schien mir der erste Blick von oben herunter schauerlich. Die breite Kuppel, der steinerne Vorhof mit der schönen Fontäne in der Mitte, die ausgedehnten Imarete oder Armenküchen, Medresseen oder Schulen und viele andere mit Bleikuppeln gedeckte Gebäude, welche zur Moschee gehören, das alles liegt tief und unmittelbar unter den Füßen des Beschauers. Man glaubt, die entsetzlich schlanke Steinsäule könne umschlagen, wenn man sich dem Rand der Galerie nähert. Die Kuppel erhebt sich bis beträchtlich über die halbe Höhe des Minaretts und mag im Innern 120 Fuß hoch sein. Konstantinopel, den 6. Juni 1837 Heute früh um 9 Uhr kamen wir vor Konstantinopel an und zogen durch das Tor Topkapu, das Tor der Kanone, vormals des heiligen Romanus', in die Hauptstadt ein. Es ist dasselbe Tor, durch welches Mohammed der Zweite in die Stadt der griechischen Kaiser drang und vor welchem der letzte Konstantin unter einer nahe stehenden Zypresse fiel.

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