12 Juni 2018

Roger Willemsen: Die Enden der Welt - Gibraltar

Gibraltar

Der Erzähler ruft von Tokio eine Bekannte in Deutschland an und fühlt sich aufgrund dieses Kontakt auf Distanz in der fremden Umgebung weit besser. Sie machen aus, wenn er wieder in Europa ist, eine gemeinsame Fahrt zu unternehmen. Falls es sich ergibt. Der Erzähler ist enttäuscht, als die Bekannte nicht am Zug auftaucht, doch kurz vor Abfahrt kommt sie dann doch.
An der Fahrt genießen beide, dass sie nicht allein sind, aber auch eine gewisse Distanz bleibt. 
"Beim Frühstück sagte Christa:
»Tanger! Das Nonplusultra
Non plus ultra, »Nicht darüber hinaus«, lautet die Inschrift, die sich auf den Säulen des Herkules finden soll, von ihm selbst dort angebracht. Die eine der beiden Säulen steht der Legende zufolge auf dem Felsen von Gibraltar, die andere auf dem Berg Dschebel Musa in Marokko. Andere Quellen nennen [...]"
Die beiden tragen sich gegenseitig ihre Kenntnisse über die Säulen des Herkules und ihre Bedeutung als Ende der Welt vor, bis sie schließlich zu diesem Gedankenaustausch kommen:
" »Aber wenn man sagt: Bis hierher und nicht weiter«, wandte Christa ein, »hat man zwar eine Grenze gesetzt, doch zugleich alle Aufmerksamkeit auf das konzentriert, was hinter dieser Grenze liegen könnte. Eigentlich hat man damit ihre Überschreitung vorstellbar gemacht, oder?«
»Man hat die Phantasie sogar magisch auf diesen Akt der Überschreitung verpflichtet. Nacheinander wurde Sokrates, Tertullian und Epikur die Maxime zugeschrieben: >Quae supra nos, nihil ad nos: Was über unser Erkenntnisvermögen hinausgeht, hat keine Bedeutung für uns.<«
»Damit wäre die geographische Grenze der erkennbaren Welt zugleich eine Grenze des Erkennens.«
»Eine Grenze der Neugier«, sage ich."
Auf dem Felsen von Gibraltar fällt dem Erzähler etwas ein:
"Ich erinnerte mich, auf dem Titelblatt einer Schrift von Francis Bacon das Schiff des Odysseus hinter den Säulen des Herkules gesehen zu haben. Odysseus, der bei Dante auf der untersten Stufe des Infernos zu finden ist und als Einziger nicht bereut, kreuzt als Symbolfigur der Neugier jenseits der Grenzen der bekannten Welt.
»Faszinierend, oder?«
»Aber damit ist die Grenze des Nonplusultra doch schon überwunden«, widersprach Christa.
»Genau, und deshalb lautete die Devise von Karl V auch Plus ultra! Und das, seit klar war, dass das Nonplusultra eben nicht das Ende der geographischen Welt bedeutete. Also: Plus ultra!«, rief ich noch und schnalzte mit der Zunge.
»Dann ist dies jetzt der richtige Augenblick, dir zu sagen, dass ich hier umkehren werde«, antwortete sie und betrachtete mein verblüfftes Gesicht wie ein Exponat. "
Die letzten Sätze der Episode lauten:
" Es gibt kein Nonplusultra. Man kann die bekannte Welt nicht verlassen."

Der Himalaya
Im Nebel des Prithvi Highway

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