"Die Tage verflossen wie die in den vergangenen Jahren. Nur eine einzige Ausnahme trat ein. Man begann nach und nach von den Bildern zu sprechen, man sprach von der Marmorgestalt, welche auf der schönen Treppe des Hauses stand, man ging öfter in das Bilderzimmer und besah verschiedenes, und man verweilte manche Augenblicke in der dämmerigen Helle der Treppe, auf welche von oben die sanfte Flut des Lichtes hernieder sank, und vergnügte sich an der Herrlichkeit der dort befindlichen Gestalt und der Pracht ihrer Gliederung. Ich erkannte, daß Mathilde in der Beurteilung der Kunst erfahren sei, und daß sie dieselbe mit warmem Hetzen liebe. Auch an Natalien sah ich, daß sie in Kunstdingen nicht fremd sei, und daß sie in ihrer Neigung etwas gelten. Ich machte also jetzt die Erfahrung, daß man in früherer Zeit, da ich mein Augenmerk noch weniger auf Gemälde und ähnliche Kunstwerke gerichtet hatte, und dieselben einen tiefen Platz in meinem Innern noch nicht einnahmen, mich geschont habe, daß man nicht eingegangen sei, in meiner Gegenwart von den in dem Hause befindlichen Kunstwerken zu sprechen, um mich nicht in einen Kreis zu nötigen, der in jenem Augenblicke noch beinahe außerhalb meiner Seelenkräfte lag. Mir kam jetzt auch zu Sinne, daß in gleicher Weise mein Vater nie zu mir auf eigenen Antrieb von seinen Bildern gesprochen habe, und daß er sich nur in so weit über dieselben eingelassen, als ich selber darauf zu sprechen kam und um dieses oder[425] jenes fragte. Sie haben also sämtlich einen Gegenstand vermieden, der in mir noch nicht geläufig war, und von dem sie erwarteten, daß ich vielleicht mein Gemüt zu ihm hinwenden würde. Mich erfüllte diese Betrachtung einigermaßen mit Scham, und ich erschien mir gegenüber all den Personen, die nun durch meine Vorstellung gingen, als ungefüg und unbehilflich; aber da sie immer so gut und liebreich gegen mich gewesen waren, so schloß ich aus diesem Umstande, daß sie nicht nachteilig über mich geurteilt, und daß sie meinen Anteil an dem, was ihnen bereits teuer war, als sicher bevorstehend betrachtet haben. Dieser Gedanke beruhigte mich eines Teiles wieder. Besonders aber gereichte es mir zur Genugtuung, daß sie mit einer Art von Freude in die Gespräche eingingen, die sich jetzt über bildende Kunst entspannen, daß also das nicht unsachgemäß sein mußte, was ich in dieser Richtung jetzt äußerte, und daß es ihnen angenehm war, mit mir auf einer Lebensrichtung zusammen zu treffen, welche für sie Wichtigkeit hatte.
Eines Tages, da die Blüte der Rosen schon beinahe zu Ende war, wurde ich unfreiwillig der Zeuge einiger Worte, welche Mathilde an meinen Gastfreund richtete, und welche offenbar nur für diesen allein bestimmt waren. Ich zeichnete in einer Stube des Erdgeschosses ein Fenstergitter. Das Erdgeschoß des Hauses hatte lauter eiserne Fenstergitter. Diese waren aber nicht jene großstäbigen Gitter, wie man sie an vielen Häusern und auch an Gefängnissen anbringt, sondern sie waren sanft geschweift, und hatten oben und unten eine flache Wölbung, die mitten gleichsam wie in einen Schlußstein in eine schöne Rose zusammenlief. Diese Rose war von vorzüglich leichter Arbeit, und war ihrem Vorbilde treuer, als ich irgendwo in Eisen gesehen hatte. Außerdem war das ganze Gitter in zierlicher Art zusammengestellt, und die Stäbe hatten nebst der Schlußrose[426] noch manche andere bedeutsame Verzierungen. Es war fast gegen Abend, als ich mich in einer Stube des Erdgeschosses, deren Fenster auf die Rosen hinausgingen, befand, um mir vorläufig die ganze Gestalt des Gitters, die außen zu sehr von den Rosen verdeckt war, zu entwerfen. Die einzelnen Verzierungen, deren Hauptentwicklung nach außen ging, wollte ich mir später einmal von dorther zeichnen. Da ich in meine Arbeit vertieft war, dunkelte es vor dem Fenster, wie wenn die Laubblätter vor demselben von einem Schatten bedeckt würden. Da ich genauer hinsah, erkannte ich, daß jemand vor dem Fenster stehe, den ich aber der dichten Ranken willen nicht erkennen konnte. In diesem Augenblicke ertönte durch das geöffnete Fenster klar und deutlich Mathildens Stimme, die sagte: »Wie diese Rosen abgeblüht sind, so ist unser Glück abgeblüht.«
Ihr antwortete die Stimme meines Gastfreundes, welche sagte: »Es ist nicht abgeblüht, es hat nur eine andere Gestalt.«
Ich stand auf, entfernte mich von dem Fenster und ging in die Mitte des Zimmers, um von dem weiteren Verlaufe des Gespräches nicht mehr zu vernehmen. Da ich ferner überlegt hatte, daß es nicht geziemend sei, wenn mein Gastfreund und Mathilde später erführen, daß ich zu der Zeit, als sie ein Gespräch vor dem Fenster geführt hatten, in der Stube gewesen sei, der jenes Fenster angehörte, so entfernte ich mich auch aus derselben und ging in den Garten. Da ich nach einer Zeit meinen Gastfreund, Mathilden, Natalie und Gustav gegen den großen Kirschbaum zugehen sah, begab ich mich wieder in die Stube und holte mir meine Zeichnungsgeräte, die ich dort liegen gelassen hatte; denn der Abend war mittlerweile so dunkel geworden, daß ich zum Weiterzeichnen nicht mehr sehen konnte."
(Adalbert Stifter: Der Nachsommer, 2. Band, 2. Die Annäherung, S.424-26)
sieh auch: 2. Band 3. Der Einblick S.456-85
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