14 Februar 2023

Oded Galor: Einheitliche Wachstumstheorie und die segensreiche Investition in Humankapital

Weil ich meinen Artikel zunächst hier gesucht und nicht gefunden habe, nehme ich ihn auch hier auf.

Oded Galor "ist vor allem als Schöpfer der Unified Growth Theory bekannt" (Wikipedia) 

Auch für Laien gut lesbar geschrieben ist:

"The Journey of Humanity. Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende: Über die Entstehung von Wohlstand und Ungleichheit. dtv durch die Jahrtausende: Über die Entstehung von Wohlstand und Ungleichheit." dtv April 2022 (Perlentaucher

Wolfgang Schneider berichtet über das Buch Galor komme "zu der Erkenntnis, dass das Humankapital ein entscheidendes Element in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte sei. Denn seit der industriellen Revolution investierten Unternehmer vermehrt in die Bildung potentieller Arbeitskräfte und Familien beschränkten sich auf weniger Kinder, denen sie eine bessere Ausbildung zukommen ließen, jeweils um den eigenen Wohlstand beziehungsweise Gewinn zu steigern".

Gustav Seibt "freut sich über den höchst optimistischen Blick auf die Menschheitsgeschichte und -zukunft"  (beide Perlentaucher)

Ich finde vor allem bemerkenswert, dass er ernsthaft versucht, die Produktivitätssteigerung infolge Industriellen Revolutionen primär aus 'vermehrter Humankapitalbildung' (S.151 und passim) zu erklären. Zwar verschweigt er fossile Energien, den atlantischen Dreieckshandel (Sklaven) und die weitgehende Ausrottung indigener Völker nicht ganz. Aber dem malthusianischen Zeitalter (mit dem er die Menschheitsgeschichte von vor der Neolithischen Revolution bis zur ersten Industriellen Revolution zusammenfasst) sei die Menschheit primär durch gesteigerte Investition in Humankapital entkommen. 

Dass statt der Begrenzung regionaler Bevölkerungen durch die mathusianische Katastrophe jetzt eine Gefährdung der gesamten Weltbevölkerung durch die Klimakatastrophe droht, spielt er herunter, indem er so tut, als ob nicht ein Jahrzehnt, sondern viele Jahrzehnte zur Umsteuerung und Entwicklung neuer Technologien zur Verfügung stünden. Dabei zitiert er selbst Bill Gates von 2021: "Wir müssen uns im nächsten Jahrzehnt massiv auf Technologien, Maßnahmen und Marktstrukturen fokussieren, die uns auf den Weg bringen, die Treibhausgase bis 2050 zu eliminieren." (S.158/59)

Dass das scheitern muss, wenn wie in den vergangenen Jahrzehnten die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung an ihrer Lebensweise festhalten*, übergeht er geflissentlich.

"Zwar hat also die industrielle Revolution eine globale Erwärmung ausgelöst, doch könnte der mit ihr zeitgleich einsetzende demographische Übergang deren Folgen auch wieder abschwächen und so den potentiellen Zielkonflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz die Spitze nehmen. Ein anhaltendes Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger Verringerung weiterer Umweltzerstörung und Vermeidung der Wahrscheinlichkeit eines Kollapses wird im wesentlichen von genau denselben Schlüsselfaktoren abhängen, die uns in diese missliche Lage geführt haben: technologische Innovation, die uns aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffe herausführt und den Übergang zu umweltfreundlichen Technologien erleichtert, und einen Rückgang der Geburtenrate, wodurch sich die Belastung der Umwelt durch die Bevölkerung verringert und weiteres Wirtschaftswachstum angeregt wird." (S.158)

"Diese Strategien und Strukturen sollten weltweit die Gleichstellung der Geschlechter fördern, den Zugang zur Bildung erleichtern, die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln sicherstellen und so zu einer Verringerung der Geburtenrate auf der ganzen Welt beitragen. Indem sie den gegenwärtigen Trend der globalen Erwärmung abschwächen, verschaffen Sie uns wertvolle Zeit für die Entwicklung der bahnbrechenden Technologien, die wir für diesen Kampf benötigen. [...] Dann sollte die unglaubliche Kraft menschlicher Innovation, die im Zeitalter des Fortschritts so spektakulär entfesselt wurde, in Verbindung mit dem Rückgang der Geburtenrate – beides befördert durch die Bildung von Humankapital – die rechtzeitige Entwicklung der benötigten revolutionären Technologien möglich machen. Gelingt dies, wird die Klimakrise in den kommenden Jahrhunderten nur noch eine allmählich verblassende Erinnerung sein." (S.159)

Im Jahr 1992 hätte man das als blauäugigen Optimismus durchgehen lassen können. Im Jahr 2022 stellt es eine Verleugnung des Scheiterns der Bemühungen der letzten drei Jahrzehnte dar. 

* "Die obersten 10 Prozent der Weltbevölkerung sind für etwa 50 Prozent aller Treibhausgasemissionen verantwortlich, während die untere Hälfte der Weltbevölkerung lediglich 12 Prozent aller Emissionen beiträgt." (Piketty in Das Klima-Buch, S.445)

Mit seinem Konjunktiv "könnte" versucht er zu verschleiern, dass inzwischen ohne eine Änderung der Lebensweise der oberen zehn Prozent alle Bemühungen von 90 Prozent der Weltbevölkerung zur Erfolglosigkeit verdammt wären. (vgl. dazu auch S. 167: "Die Fähigkeit zur Innovation und ein Rückgang der Geburtenrate bergen möglicherweise das Potenzial, den Zielkonflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz zu verringern. [...] eröffnen vielleicht die Möglichkeit, dass auch unter Beibehaltung des derzeitigen Tempos der Wirtschaftswachstums der Trend zur Erderwärmung abgeschwächt wird".

So sichert sich Galor ab. Eine 'Abschwächung des Trends' ist ja durchaus möglich, nur muss der Trend unterbrochen und umgekehrt werden. Das ist beim 'derzeitigen Tempo' des Wachstums leider nicht möglich.

Der demographische Übergang hat einerseits schon weitgehend stattgefunden, doch angesichts des Mehrverbrauchs der wirtschaftlichen "Eliten" ist er ohnehin nahezu bedeutungslos. Das hat die Entwicklung Chinas, das trotz Ein-Kind-Politik dabei ist, die USA als größten Treibhausgasemittent zu überholen, gezeigt. 

Dass nicht nur die wirtschaftliche Situation des Mittelstandes (insbesondere in China) sich verbessert hat, sondern auch die absolute Armut über mehr als ein Jahrzehnt abgenommen hat, damit hat Galor freilich recht.

Claudia Goldin hat deshalb das 20. Jh. als "das Jahrhundert des Humankapitals" bezeichnet.

Zitate:

"Zu den größten technologischen Errungenschaften dieser Ära gehören die Nutzung der Atomenergie, die Einführung von Computern, die Entwicklung von Antibiotika, das Automobil und das Flugzeug, der Rundfunk, das Fernsehen und natürlich das Internet. Neben all diesen Neuerungen hat der technologische Wandel jedoch auch unsere ältesten und wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse verbessert. Die Entwicklung besonders ertragreicher und krankheitsresistenter Arten von Getreide, Mais und Reis hat in kürzester Zeit die Produktion der Landwirtschaft erhöht. Die als 'Grüne Revolution' deklarierte Einführung solch neuer, ertragreicher Sorten hatte enorme Erntesteigerungen zur Folge und reduzierte weltweit den Hunger. Mexiko konnte sich so in den 1960er-Jahren zum Selbstversorger mit Getreide und Mais entwickeln, während Indien und Pakistan ihre Ernten in den Jahren 1965-1970 fast verdoppelten und 1974 schließlich nicht mehr auf Einfuhren angewiesen waren." (S. 150)

Die Verbreitung von Technologien über den Globus während des 20. Jahrhunderts erhöhte wie immer nicht nur die Nachfrage nach Humankapital und steigerte dessen Wert, sie brachte auch den Demographischen Übergang bis in den letzten Winkel des Planeten. Der weltweite Anstieg der Investitionen in das Humankapital führte zwischen 1976 und 2016 zu einem Anstieg der Alphabetisierungsrate unter der erwachsenen Weltbevölkerung von 61 Prozent auf 83 Prozent bei Frauen und von 77 Prozent auf 90 Prozent bei Männern. Unterdessen sank der Anteil von Mädchen die keine Grundschule besuchten, von 35 Prozent im Jahr 1970 auf 10 Prozent im Jahr 2016, bei den Jungen entsprechend von 20 Prozent auf 8 %. In Ländern, deren Bevölkerung laut Weltbank nur ein geringes Einkommen erzielt, fiel der Anteil der Mädchen, die keine Schule besuchen, sogar von 70 Prozent im Jahr 1970 auf 23 Prozent im Jahr 2016, bei Jungen entsprechend von 56 Prozent auf 18 %.

Und wie Sie sich inzwischen sicher denken können, hatte die vermehrte Humankapitalbildung überall einen Rückgang der Geburtenrate zur Folge [...]. Im Zeitraum von 1970 bis 2016 sank die Geburtenrate von einem weltweiten Durchschnitt von 5 Kindern pro Frau auf 2,4 Kinder. Der Rückgang vollzog sich flächendeckend, wenn auch regional unterschiedlich stark. In Ländern mit hohen Einkommen fiel die Geburtenrate von 3 Kindern pro Frau auf 1,7, in Ländern mit niedrigen Einkommen von 6,5 auf 4,7  Im subsaharischen Afrika von 6,6 auf 4,8, in der arabischen Welt von 6,9 auf 3,3, in China – hauptsächlich aufgrund der seit 1979 propagierten Einkindpolitik – von 5,7 auf 1,6, in Indien von 5,9 auf 2,3." (S.151/12)

Die "Tsetsefliege [...] ist der Hauptüberträger eines tödlichen Parasiten, der bei Menschen die Schlafkrankheit [...] auslöst, die in ähnlicher Form auch bei Ziegen, Schafen, Schweinen, Pferden und anderen Nutztieren auftritt. [...] Neuere Forschungen auf der Grundlage anthropologischer Daten, die 1967 von fast 400 bereits im vorkolonialer Zeit existierenden ethnischen Gruppen dieser Region Afrikas zusammengetragen wurden, lassen den Schluss zu, dass die Tsetsefliege die Einführung von Viehzucht und den Einsatz landwirtschaftlicher Methoden, die auf Nutztiere angewiesen waren, wie etwa das Pflügen, weitgehend verhindert hat.

Der Schaden, den sie anrichtet, war sogar so groß, dass die von der Fliege befallenen Gebiete seit dem Übergang zur Landwirtschaft in ihrer Entwicklung dauerhaft hinter den benachbarten Regionen zurückgeblieben sind. [...]

Die Tsetsefliege ist allerdings nicht das einzige Insekt, das die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas behindert hat. Anopheles, die Malariamücke, die ebenfalls unter ganz bestimmten klimatischen Bedingungen gedeiht, hat den Menschen des Kontinents ihrerseits einen hohen Tribut abverlangt. Die Bevölkerung in den von Malaria betroffenen Regionen Afrika südlich der Sahara, Südostasiens und Südamerikas leidet unter einer hohen Kindersterblichkeit und Kinder, die die Krankheit überleben, haben oft mit kognitiven Beeinträchtigungen zu kämpfen. Aufgrund der hohen Kindersterblichkeit sehen sich die Eltern zudem gezwungen, mehr Kinder in die Welt zu setzen, wodurch sie weniger in der Lage sind,  in deren Humankapital zu investieren. [...] doch solange es keinen effektiven Impfstoff gegen Malaria gibt, bleibt diese Krankheit in allen betroffenen Regionen ein Hemmnis für die Bildung von Humankapital und den Wachstumsprozess." (S. 236/37)

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