Franz Werfel: Der veruntreute Himmel
"[...] Die Argans waren Teta Lineks siebenter und letzter Posten. Das beweist, daß sie in ihrer fünfundfünfzigjährigen Dienstzeit nur ganz selten ihren Arbeitsort wechseln mußte und trotz der von Livia angedeuteten Untugenden sich die dauerhafteste Zufriedenheit ihrer Brotherren von Anfang an erwarb. Sie kam, wie so viele ihresgleichen, als fünfzehnjähriges Bauernmädel aus dem mährischen Lande in die Residenz der damaligen Monarchie. Ihr Geburtsdorf hieß Hustopec. Den Aufstieg vom Abwaschmädel zur »perfekten Köchin« und dann zur Diva ihrer Kunst hatte Teta außer ihrer Begabung verschiedenen Eigenschaften zu danken, die bei den strengen Hausgebieterinnen hoch in Gunst standen. Sie schmuggelte niemals Männer ins Haus, uniformierte Männer gar, auch in ihrer blühenden Jugend nicht. Sie kam niemals wie andere Dienstmädchen von ihren Ausgängen nach Mitternacht heim, in verwahrlostem Zustand, mit zerzausten Haaren, ein unordentliches Lachen auf den betrunkenen Zügen. Sie verzichtete zumeist auf diesen ihr allwöchentlich gebührenden Ausgang und verbrachte den Sonntag in ihrem Kämmerlein, immer zu Diensten stehend. Daß sie täglich um sechs Uhr zur Morgenmesse ging, störte keineswegs die Hausordnung, sondern brachte Teta schon sehr früh in den vertrauenerweckenden Ruf frommer Würdigkeit. Auch wurde sie nur ziemlich selten von Angehörigen heimgesucht. Davon gab es in der Hauptstadt eine ansehnliche Menge, die erst durch die Macht der Jahre auf zwei Frauenspersonen herabgemindert wurde, die beiden Schwestern Tetas. Sie aber besaß nur sehr wenig Familiensinn. Auch lag der Dienerin eine seltsam strenge Auffassung ihres Berufes seit Generationen im Blute. Sie empfand Familienbesuch im Hause der gnä' Herrschaft als ungehörig und der guten Sitte widersprechend.
Damals – sie hatte bereits ihr vierzigstes Jahr erreicht – war sie bei dem Herrn Sektionsrat im Unterrichtsministerium Slabatnigg in Dienst. Eines Sonntags im Juli, die Herrschaft war glücklicherweise ausgegangen, erschien ein ländlich gekleidetes Weib bei ihr, das einen zehnjährigen Jungen an der Hand führte. Sie erkannte nicht sofort die Witwe ihres jüngst verstorbenen Bruders Mojmir Linek. Kein Wunder, hatte sie doch diese Frau nur zweimal im Leben gesehen. Dem Bruder Mojmir wahrte Teta keine sehr achtungsvolle Erinnerung. Er war niemals über Hustopec hinausgekommen, hatte dort sicherem Vernehmen nach den ererbten Hof vertrunken und sich schließlich als gemiedener Ortsalkoholiker mit irgendwelcher Flickschusterei bis zum verdienten frühen Ende fortgebracht. Ohne Wohlwollen betrachtete die Tante den kleinen Neffen, der Mojmir hieß wie sein Vater und sie aus eigentümlich verschwollenen Schlitzaugen eindringlich abschätzte.
»Es ist ein Elend«, jammerte die Witwe, »mein Alter hat immer gewollt, daß aus dem Mojmir da was wird, ein Herr Doktor oder so, denn gescheit ist dir das Bübchen und zu gut fürs Land, und es war sein letzter Wunsch, der Arme, Gott verzeih' ihm, und du bist doch die Schwester und ledig und hast gute Stellungen und Ersparnisse ...«
»Woher weißt du, daß ich Ersparnisse hab'?« fuhr Teta auf. »Ich hab' keine Ersparnisse, mit Erlaubnis ...«
Die Mutter aber schob den Knaben vor, drückte mit der Hand sein bäurisch widerstrebendes Scheitelhaar nieder und nestelte erregt an seinem Feiergewand herum:
»Schau dir doch nur das Bübchen an, Schwägerin, den Sohn deines einzigen Bruders. – Was soll ich tun, daß der letzte Wunsch vom Seligen in Erfüllung geht? – Der Herr Lehrer sagt, so einen wie den Mojmir da gibt's in der ganzen Schul' nicht zweimal – er kann dir alles auswendig. – Steh grad, Bub, und sag dem Tantchen etwas auf.« [...]
Doch wie man's auch nimmt, das Leben war, was es ist. Vor allem war's aber gar nicht das eigentliche Leben, sondern nur eine sonderbare Unterbrechung, eine Art Ausflug oder Urlaub, in den man zu unbekanntem Zweck gesandt wurde. Das lehrten die geweihten Männer, die hoch über allen anderen Menschen standen und die es daher wissen mußten. Das eigentliche Leben begann nachher.
Für dieses wahre Leben nun galt es klug vorzusorgen, denn was bedeuteten siebzig immer kürzere Jahre gegen den dauernden und unkündbaren Posten, den der Mensch anzutreten hatte, wenn es soweit war? In die Ewigkeit nämlich konnte man vom Urlaub nicht ohne weiters heimkehren, so, als sei nichts Wichtiges vorgefallen. Gewisse Hindernisse stellten sich dieser Heimkehr in den Weg. Die drei Aufenthaltsorte drüben standen der Wahl des Heimkehrenden nicht frei. Von dem untersten, dem feuerpeinlichen, schützte in hohem Grade Beicht und Buße und Kommunion. Teta wußte genau, daß sie keine schneeweiße Seele habe und alle Tage unverbesserlich ihre Köchinnensünden begehe. Doch sie empfing fleißig die heiligen Gnadenmittel, die sie zeitweilig von den unerbittlichen Folgen lossprachen, und hoffte fest, daß sie nicht für so schlecht erkannt sei, daß der Tod ihr werde in unabsolviertem Zustand auflauern dürfen. Immerhin! Etwas ganz Bestimmtes konnte man nicht wissen und mußte sich daher vorsehen jederzeit. – Was den mittleren Ort, das Fegfeuer, betrifft, so war es klar, daß keine arme Seele dieser vermutlich sehr unbehaglichen Reinigungsstätte entgehen konnte. Teta besaß darüber traumhafte, aber doch ziemlich ausgebildete Vorstellungen. Eine ungeheure Badeanstalt mochte sich an jenem Orte befinden, wo anstatt des Wassers hellblau flüssiges Feuer wie von Weingeist in die Wannen läuft und aus den Duschen sprüht, wobei die betroffenen Seelen mächtige elektrische Bürsten ausgiebig zu spüren bekommen. Der Gedanke an diese unumgängliche Notwendigkeit war ihr durchaus nicht erwünscht, aber Wirksames ließ sich dagegen nicht unternehmen, und schließlich war die Reinigung der Seelen zeitbegrenzt und setzte deren ungehinderten Aufstieg in die dritte, einzig erstrebenswerte Wohnstätte voraus. Denn nur um den Himmel dort oben ging es. Ihn mußte man, solange es noch Zeit war, hier unten verdienen und den endgültigen Sitz gegen alle Gefahren sichern. Was aber war dieser Himmel, an dessen Blau man sich tagsüber freute und dessen Sternenmantel man nachts mit einer heimlichen Furcht betrachtete? Der Mensch besitzt, seiner düsteren Veranlagung gemäß, weit mehr Vorstellungsgabe für das Grausige als für das Wonnige. Bekanntlich ist Dantes Hölle viel plastischer geraten als sein Paradies. Auch Teta hatte von dem seligen Wohnort in der blauen Höhe, um den sie mit kluger Umsicht bemüht war, nur ein sehr unbestimmtes Bild. Am ehesten noch dachte sie an eine schwebende, licht gebaute Großstadt mit einer unermeßlichen Anzahl hübscher Pensionen mitten in weiten Gartenanlagen, wo jede Seele ein klösterliches, aber komfortables Zimmerchen besaß, in dem man sich des nunmehr unverwundbaren Daseins freuen durfte. Alle Verstorbenen ihrer Art waren somit Pensionäre Gottes, die weder an Erwerb denken noch Miete bezahlen mußten. Ob im Himmel immer nur Sonntag herrschte oder ob dort wegen des Zeitvertreibs auch eine Werkwoche eingeführt war, das blieb dahingestellt. Die Hauptsache aber, um die es ging: Das liebe Ich war dort für alle Ewigkeit gerettet. Teta, wie sie leibte und lebte, die vollzählige, die vollinhaltliche Teta ohne den geringsten Abstrich, die leiseste Änderung, Teta, wie sie an sich selbst gewöhnt war von Kind auf, sie würde drüben aufgehoben sein, ohne befürchten zu müssen, auch nur die kleinste Kleinigkeit ihres Wesens zu verlieren. So besehen, büßte der irdische Tod, der ja nur das unterbrochene eigentliche Leben wiederherstellte, all seine Schrecken ein.
Freilich, dieses himmlische Ziel sich auf Erden zu verdienen, das konnte nur einem Schwachkopf leicht erscheinen. Eine mißtrauische und berechnende Seele war sich der unaufhörlich vom Bösen Feind entsandten Gefahren bewußt, die sie ins Verderben zu reißen suchten. Wie aber diesen Gefahren begegnen? Da gab es vor allem als bestes Hilfsmittel die pünktliche Erfüllung der religiösen Pflichten, die man womöglich noch um freiwillige Lasten vermehrte. Gut! Diese Pflichten gingen in Fleisch und Blut über mit der Zeit. Daß sie dies aber taten und im Lauf der Jahre, anstatt ein Opfer zu bedeuten, sich in eine unentbehrliche Gewohnheit, ja zu einer stetigen Freudigkeit entwickelten, das verminderte in den Augen eines skrupelhaften Gewissens den Wert ihres Verdienstes. Es standen daher noch die sogenannten »guten Werke« als Hilfsmittel des Heils zur Verfügung. Mit diesen guten Werken aber war es schlimm bestellt. Zum ersten: Die Gelegenheit, solche zu vollbringen, zeigte sich äußerst selten. Und zweitens: Bot sich einmal diese seltene Gelegenheit, so versagte zumeist das schwache Fleisch. Welchen Kraftverbrauch kostete es schon, eine Sünde nicht zu begehen, der Hausfrau zum Beispiel die frischen Erdbeeren zum richtigen Marktpreis anzurechnen, ohne ein paar Groschen aufzuschlagen? Dieses negative Exempel beweist schon, was für unerschwinglichen Aufwand eine echte, aktive, gute Tat voraussetzt. Da muß der Verstand sich verdunkeln, das Herz überlaufen und gegen den eigenen stets aufbegehrenden Vorteil handeln. Die alte Jungfrau konnte ihre guten Taten an den Fingern einer Hand abzählen. Sie genügten nicht. Nein, um sich des Himmels gegen die unaufhörliche Gefährdung zu versichern, galt es, einen radikaleren, einen praktischeren Weg einzuschlagen. Hatte nicht der Herrgott selbst einen Mittler herabgesandt, um den Menschen, die sich mit den vielen Sünden und den wenigen guten Taten abplagten, zu Hilfe zu kommen? Konnte man diesem großen Beispiel nicht folgen und sich durch einen privaten Mittler im Himmel gewissermaßen einkaufen?
Diesen Einfall hatte Teta freilich nicht den obigen Worten gemäß, doch sie hatte ihn der Sache nach, als sie das leere Bubengesicht Mojmir Lineks musterte. (War's übrigens so leer, dieses Gesicht? Hatte nicht aus den verschwollenen Schlitzaugen Verständigkeit und allerlei Wissen gefunkelt? Und die Stimme war hell und schallend und zu beschwörender Rede wohl geeignet.) Teta beschloß: Dieser Neffe soll mein Mittler werden, damit mir der Himmel nicht verlorengehe. Sie wollte all ihre Ersparnisse dreingeben und knapsen und knausern noch mehr als bislang, um ihn zu nähren und zu kleiden, um für das Studium aufzukommen bis zum Tag seiner Primiz. Das war ein frommes Werk und eine gute Tat in einem. Zu guter Letzt aber hoffte sie, in Mojmir einen ihr persönlich zugeteilten Priester zu besitzen, der in unermeßlicher Dankbarkeit und Treue bis zu seinem eigenen späten Hinscheiden für sie lesen werde zahllose hl. Seelenmessen, diese Aufrichtung und köstliche Labe der Toten, solange sie ihren endgültigen Wohnsitz noch nicht bezogen haben. Damit aber würde auch das bittere Schicksal aller alten Junggesellen und Jungfrauen für sie abgewendet sein: die heillose Vergessenheit und Verlassenheit nach dem Absterben.
Unverzüglich ging Teta mit der ihr eigenen zielbewußten Zähigkeit an die Verwirklichung des großen Lebensplanes, der ihre bescheidene Person bis über den Jüngsten Tag hinaus vor der Vernichtung bewahren und ohne Abbruch in der ihr gewohnten Form verewigen sollte. Von Stunde an kaufte sie ihre Gewänder und den dazugehörigen Stoff nicht mehr selbst, sondern kleidete sich aus den Weihnachtsgeschenken und aus der altersmürben Garderobe ihrer Gebieterinnen, denen sie dies und jenes abzubetteln verstand. Oft saß sie bis in die Nacht auf, um mit ihren eigenen Händen diese Kleidungsstücke für sich umzuschneidern. Sie verzichtete auf die kleinen Vergnügungen und Erleichterungen des Lebens, als da sind ein Bierchen oder ein Schnäpschen nach der Morgenmesse und die Benützung der Trambahn, um auf den Markt zu fahren. Kein Bettler und kein Leiermann erhielt mehr sein in Papier gewickeltes Kupferstück in den Hof hinabgeworfen wie früher, er mochte selbst ihre Lieblingsstücke singen und dudeln, solange er wollte. Teta brachte es zustande, keinen Heller auszugeben. Die nichtigsten Gegenstände bekamen einen aufgeblähten Wert für sie. Jeder Fetzen und jeder Faden wurde aufgehoben, und sie mußte mit sich kämpfen, bevor sie eine leere Schachtel oder Blechdose fortwarf. Mit der umsichtigen Findigkeit eines zünftigen Räubers ließ sie vom Tisch der Herrschaft einen erklecklichen Anteil verschwinden und verstaute ihn in ihrem Kasten oder unterm Bett. Die haltbaren Speisen sandte sie wohlverpackt nach Olmütz. Ihr künftiger Vertreter vor dem Thron des Höchsten sollte wohlgenährt sein und stark, wie es sich geziemte. (Das Porto der Post aber zählte nicht zu den Unkosten ihres hiesigen, sondern ihres jenseitigen Lebens.) Die leicht verderblichen Speisen, die sie selbst nicht bezwingen konnte, verschimmelten im Versteck. Teta kam schnell in den Ruf eines beispiellosen Geizes und einer wüsten Raffgier. Mit Unrecht. Die Verwandlung eines armen Proleten oder Bauernjungen in einen studierten Herrn kostet unglaublich viel Geld, selbst wenn der Staat den Kandidaten vom Schulgeld befreit und ihn in einem Internat notdürftig verköstigt. Am Ersten jedes Monats mußte Teta mindestens vierzig alte gute Goldkronen bereitstellen. Wenn man bedenkt, daß zu dieser Zeit ihr Lohn aus fünfzig oder höchstens sechzig solcher Kronen bestand, wird man ihren Geiz ganz anders beurteilen. Dazu kam noch, daß der Neffe Mojmir neun Jahre brauchte, um die acht Klassen des Gymnasiums zu vollenden. Die vierte mußte er wegen völligen Versagens in mehreren Fächern und wegen einer bedenklichen Sittennote wiederholen. Er war nach Vorschrift der Schulordnung in hochnotpeinlicher Gefahr, seinen Freiplatz zu verlieren, und nur der Intervention des guten Hofrates Slabatnigg gelang es, Tetas Lebensplan vor einem allzu frühen Scheitern zu bewahren. – Welche mütterliche Liebe einer Kinderlosen zu dem Sohne einer andern, dachte der Hofrat gerührt, der im Nebenamte kleine Novellen in der »Salonzeitung« und im »Fremdenblatt« zu veröffentlichen pflegte. Er konnte freilich nicht wissen, daß Teta für ihren Neffen nicht nur keine Liebe empfand, sondern überhaupt kein persönliches Interesse. So bangt im Kriege ein Befehlshaber für den Untergebenen, nicht um seiner selbst, sondern um des Auftrags willen, den dieser auszuführen hat.
Als nach der mit Ach und Krach bestandenen Reifeprüfung der Neffe in das Seminar der Prämonstratenser zu Prag eintrat, brach der Weltkrieg aus, und er wurde in den ersten Wochen »einrückend gemacht«. – Tragische Unterbrechung. Sie kostete Geld und Geld, mehr denn je. Teta durfte nicht dulden, daß der mit solchen Opfern erkaufte Mittler dem wahllosen Kriegstode ausgesetzt und ihre himmlische Zukunft von einer Granate zerrissen werde. Sie diente damals – es war ihr vorletzter Posten – bei einem bekannten Mediziner, der als Universitätsprofessor den militärischen Rang eines Stabsarztes bekleidete. Die Seufzer und Tränen der Magd wirkten auf diesen Mann nicht anders, als sie auf den guten Hofrat gewirkt hatten, obwohl der Arzt keine Novellen, sondern in der Medizinischen Wochenschrift Artikel über verschiedene Wurmleiden veröffentlicht hatte. Mojmir wurde nach einigen Monaten vor eine Musterungskommission gestellt, nicht mehr für frontdiensttauglich befunden und aus der Feuerlinie in irgendeine Kanzlei der Etappe versetzt. Teta atmete auf und sandte dem Schützling weiter »Liebesgaben« und Bargeld, denn es war Krieg, und ein angehender Priester sollte auch als Soldat gesund und standesgemäß leben.
Damit waren vier Jahre verloren, und das kostspielige Studium der Theologie mußte von vorn beginnen. Nach einiger Zeit erhielt Teta einen Brief, der wie alle Briefe des Neffen in einer begeisternden Schön- und Rundschrift abgefaßt war, deren Anblick die Magd stets mit Befriedigung erfüllte, bewies sie doch als ein äußeres Zeichen die gedeihliche Anwendung ihrer Opfer. In diesem Brief bekannte Mojmir, daß er das Alumnat der Prämonstratenser verlassen habe, um seine Studien auf eigene Faust zu vollenden. Er besitze, so hieß es wörtlich, eine freie und schwärmerische Seele, die nicht zum Ordensmanne und Stiftsherrn tauge, sondern dem Herrgott, der hl. Kirche und dem teuren Tantchen weit besser als Weltpriester und praktischer Seelsorger hoffe dienen zu können. Sein Ideal sei es, in einer weltverlorenen Pfarre oder in einer Arbeitergemeinde den armen Menschen in ihren Nöten beizustehen. Als nicht-inkorporierter Weltgeistlicher sei er ferner viel weniger an den Willen seiner Oberen gebunden und könne sich daher, sollte es einmal notwendig werden, der Pflege des teuren Tantchens mit ungeteilter Innigkeit widmen. Teta erschrak zwar anfangs über diese Eröffnung, da sie einen ausgesprochenen Eigensinn und Hang zur Unordnung bekundete, der ihr schon während des Neffen Gymnasialzeit mehrfach zu Ohren gekommen war. Andrerseits aber erschienen ihr die in dem Briefe angeführten Ideale recht lobenswert, und von der verzwickten Organisation des kirchlichen Lebens verstand sie nicht viel. Arg war's nur, daß Mojmirs Entschluß eine begreifliche Erhöhung der Monatskosten verursachte. Teta tat, was sie konnte, und sandte nunmehr das Geld regelmäßig an eine private Anschrift in einer Prager Vorstadt. Wie arme Leute so oft, war der Student von Pech verfolgt. Da er sich nur unzureichend ernähren konnte, erkrankte er an einem schweren Darmleiden und mußte sich im Allgemeinen Krankenhaus zweimal einer gefährlichen Operation unterziehen, die ihn, wie er verzweifelt schrieb, um volle zwei Semester zurückwarf. Da Teta aber wochenlang um sein Leben gezittert hatte, die Briefe aus dem Spital nur unter Stoßgebeten öffnend, war sie am Ende noch heilfroh, nur mit dem Verlust eines Studienjahres davonzukommen.
Merkwürdig genug ist's, daß Teta den mit der Wahrung ihrer himmlischen Zukunft Beauftragten nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte, damals nämlich, als er, ein sommersprossig-rotznäsiger Bauernjunge, sie an Mutters Hand in der Küche des Hofrates Slabatnigg heimgesucht hatte. Dafür aber gab's Gründe die Menge. Eine Magd, die nie auch nur einen Tag Urlaub nahm, konnte sich weite Reisen nicht leisten. Das sauer Erworbene und noch saurer Abgegeizte durfte wahrhaftig nicht überflüssig vertan werden. Wo hätte sie ferner den Jungen, wär' er zu ihr in die Stadt gekommen, unterbringen sollen? Es war ganz in der Ordnung, daß Mojmir seine Schulferien bei der Mutter in Hustopec verbrachte, in guter Luft also und zu bäurischer Arbeit angehalten, die Körper und Charakter festigt. Über all diese vernünftigen Gründe hinaus hegte Teta jedoch nicht den geringsten Wunsch, den Gegenstand ihrer Entbehrungen vor der Zeit zu begrüßen. Mojmir Linek war gewissermaßen nichts als eine Idee, die sich in ihm zu personifizieren hatte. Er sollte gehämmert und geschliffen werden in langen Jahren, damit er eines Tages durch die Weihe berufen sei, ihr im Sinne des Lebensplanes das Genossene abzugelten. Für weiche Empfindungen blieb in solch ernster Sache kein Raum, und daß der von ihr Berufene ein ganz bestimmter Mojmir und ihr eigener Neffe war, das ließ sie ziemlich kalt.
Nur in einem einzigen Punkte konnte sie einen heftigen Wunsch nicht unterdrücken. Wenn auch das Studium durch die bedauernswerte Anfälligkeit Mojmirs sich schon ins fünfte Jahr hinzog, einmal mußte doch die große Stunde der Ordination, der Priesterweihe, kommen, in der sich ein gleichgültiger junger Mann durch das Handauflegen des Oberhirten wundersam in ein fast überirdisches Wesen verwandelt, um daraufhin aus erschütterter Seele sein erstes heiliges Meßopfer darbringen zu dürfen. War's nicht eine verführerische Vorstellung, bei dieser ersten Messe sich gegenwärtig zu träumen und süßklopfenden Herzens sich des Werkes zu freuen, das man mit zäher Unnachgiebigkeit zustande gebracht hatte? Dann wird der dankbewegte Primiziant sein reinstes Gebet für die Wohltäterin einflechten, womit der eigentliche Teil des großen Lebensplanes ins Stadium der Erfüllung tritt. Sollte man sich das Geschenk einer solchen Feierstunde, die einzig im Leben ist, entgehen lassen, zumal nachher mit der Amtserhebung des jungen Priesters die Zeit der Opfer beendet sein und man sich wiederum ein bißchen wird rühren dürfen? Im Hinblick auf diese Stunde kämpfte in Tetas Seele die eingefleischte Sparsamkeit einen harten Strauß mit dem Wunsche, der Erstmesse eines Priesters beizuwohnen, der dieses nicht minder von ihren als von Gottes Gnaden war.
Der Neffe selbst bewies die Rücksicht, diesen Kampf aus eigenem zu entscheiden. Und er entschied ihn im Sinne der Sparsamkeit. Gegen Ende seines zwölften Semesters kündigte er seine nahe Ausweihung an, ließ aber Zeit und Ort im unklaren. Eines Tages in Grafenegg – Teta hatte längst schon ihren Posten bei den Argans angetreten – empfing sie in eingeschriebener Sendung das Bild des jungen Geistlichen im Chorrock, einen Rosenkranz, mehrere kleinere Heiligenbildchen und ein auf dem Papier des erzbischöflichen Ordinariats verfaßtes Zeugnis, worin dem Mojmir Linek von einer unleserlichen Unterschrift das Allerbeste nachgerühmt wurde. Ein prächtiger Brief lag bei, der für den Zartsinn des Geweihten kein schlechteres Zeugnis ablegte, als es das amtliche war. Das Tantchen sei nicht mehr jung, hieß es in dem schönen Brief, und abgeplagt und befinde sich mit der Herrschaft zur Zeit auf dem Lande, wohl mehr als zwanzig Schnellzugstunden von dem trauererfüllten Neffen entfernt. Er habe unter bitteren Tränen eine schlaflose Nacht verbracht, ehe er sich dazu entschloß, seinen großen Ehrentag zu begehen, ohne Tantchen vorher zu verständigen. [...]"
(Werfel: Der veruntreute Himmel, 2. Kapitel)
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