04 April 2023

Zitate aus Nooteboom: Allerseelen

"Was willst du bloß in Deutschland?", fragten niederländische Freunde ihn regelmäßig. Meist klang das dann, als habe er sich eine schwere Krankheit zugezogen. Er hatte sich eine stereotype Antwort zurechtgelegt, die in der Regel ihre Wirkung tat.

"Ich bin gern da, es ist ein ernsthaftes Volk." (Seite 11)

" 'Schau mal, siehst du die Einschusslöcher da...' So begann oft ein Berlin-Spaziergang mit Victor. In solchen Augenblicken schien es, als sei er selbst der Bürgersteig geworden und erinnere sich an etwas, einen politischen Mord, eine Razzia, eine Bücherverbrennung, die Stelle am Landwehrkanal, an der Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen worden war, den Punkt, bis zu dem die Russen 1945 vorgedrungen waren. Er las die Stadt wie ein Buch, eine Geschichte über unsichtbare, in der Historie verschwundene Gebäude, Folterkammern der Gestapo, die Stelle an der Hitler das Flugzeug noch hatte landen können, alles erzählt in einem kontinuierlichen, fast skandierten Rezitativ." (S.21)

" 'Schau mal', sagt der Victor in diesem Augenblick vor sechs Jahren, 'siehst du die Figuren da oben am Dachrand? [...] Sie haben keine Gesichter, siehst du das nicht?'

'Hat man Ihnen die abgeschlagen? Waren das die Russen?' fragte die Interviewerin.

'Die Russen waren nicht hier, Schätzchen, die Figuren waren von Anfang an so. Kegel ohne Augen. Wie bei Chirico. Wer etwas darstellt, braucht kein Gesicht, da sieht man’s mal wieder. ' "(S. 43)

"Aufbewahren, das auf jeden Fall." (S.65)

"Hegels Schuld", dass wir uns zwar vielleicht bewusst sind, dass wir über Vergangenem laufen. Archäologie. Aber dass wir uns immer irgendwie als das Ende, das worauf es hinausläuft, verstehen, statt daran zu denken, wer später über uns laufen wird. (S.92)


"Es war unwichtig, ob irgendwann jemand noch je die Nebenlinie des aragonischen Adels im zehnten Jahrhundert erforschen wollte ..., es ging viel mehr darum, daß sich die Vergangenheit als Vergangenheit irgendwo befand und damit weiter existierte, bis die Beschreibung der Welt, gemeinsam mit der Welt, aufgehört hatte." (S.157)

"Heidegger war die Angst, und wir [die Mönche von Beuron] waren die Hoffnung. Vielleicht besucht die heldenhafte Angst ja von Zeit zu Zeit gern mal die ängstliche Hoffnung, vor allem, wenn dabei noch gesungen wird." (S.175)

(NooteboemAllerseelen)

 Einen "Vorschuß auf die Vergangenheit der Zukunft nehmen" nennt Noteboom das Bauen von Ruinen, wie es in der Romantik so gern geübt wurde, oder die Großbauten Speers im Auftrag Hitlers, von denen geplant war, dass sie so gigantisch würden, dass sie "nach tausend Jahren selbst als Ruine noch" schön wären.

Vergangenheit der Zukunft hat bei Google über 9000 Nennungen.

 Zukunft ohne Vergangenheit ist auch sonst im Gespräch.

"... Womit sie und alle diese Leute sich beschäftigen, ist, ein Loch in der Zeit zu füllen, das da ist und nicht da ist.«
»Da ist und nicht da ist? Mein Gott! «
»Nein, hör doch mal zu. So schwer ist es nicht. Die Welt, so wie sie ist, ist das Resultat bestimmter Ereignisse. Von denen kann man folglich nichts mehr ausklammern, selbst wenn man sie nicht kennt. Sie haben stattgefunden.«"

"Die Welt, mit der wir zu tun haben, ist, wie auch immer, die Summe all dessen, was sich ereignet hat, obgleich wir häufig nicht wissen, was das ist, oder sich herausstellt, daß etwas, von dem wir glaubten, es habe sich so und so abgespielt, sich in Wirklichkeit ganz anders zugetragen hat ... und das, dieses Finden von etwas, was wir noch nicht wußten, oder dieses Korrigieren von etwas, was wir falsch wußten, ist die Arbeit von Historikern, jedenfalls von einigen: so komischen Pusselfritzen, die sich ihr ganzes sterbliches Leben lang mit einer einzigen Person oder einem Spezialgebiet befassen. Ich finde das unglaublich."

Manchmal öffnet sich mitten in der heutigen Stadt Berlin ein Loch in die Vergangenheit.

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