Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, frz. 2009, suhrkamp TB 2023
"[...] Eribon beschreibt am Beispiel seiner Eltern, dass das Linkssein der unteren Schichten darin bestanden habe „ganz pragmatisch das abzulehnen, worunter man im Alltag litt. Es ging um Protest, nicht um ein von globalen Perspektiven inspiriertes politisches Projekt.“[17] Durch die Wandlung der linken politischen Kräfte, die „fortan nicht mehr die Sprache der Regierten, sondern jene der Regierenden“[18] gesprochen hätten, sei eine Lücke der politischen Repräsentation der unteren Schichten entstanden, die von rechts gefüllt werden konnte: „Wer erfüllt heute die Funktion, die damals ´die Partei´ innehatte? Von wem dürfen sich die Ausgebeuteten und Schutzlosen heute vertreten und verstanden fühlen? An wen wenden und auf wen stützen sie sich, um politisch und kulturell zu existieren, um Stolz und Selbstachtung zu empfinden, weil sie sich legitim, da von einer Machtinstanz legitimiert, fühlen?“[19]
Es sei naiv, dem Arbeitermilieu eine automatische Linksorientierung zu unterstellen: Das „spontane Bewusstsein“ sei immer widersprüchlich und labil und werde erst durch eine bestimmte begriffliche Strukturierung zu einer linken oder rechten politischen Orientierung.[20] Der Diskurs der Rechten habe das spontane Bewusstsein der populären Schichten geschickt angesprochen und sie mit neuen, eher inkompatiblen Schichten zu einem neuen Historischen Block geformt.[21] Den politischen Rechtsschwenk verstehe er auch als eine Bewegung der Notwehr, der Verteidigung der Würde und des Stolzes in einem nun nationalen „Wir“.[22] Ohne dieses Verständnis der Logik bzw. der Mechanismen der spontanen Selbstreproduktion der Unterordnung sei eine Änderung des politischen Klimas nicht möglich. [...]" (Wikipedia Rückkehr nach Reims)
Ergänzung Fontanefan: "Es wäre wohl kaum übertrieben, die Banlieus der französischen Städte als Schauplätze eines verkappten Bürgerkrieges zu bezeichnen. Die Lage in dieser urbanen Gettos ist das perfekte Beispiel dafür, wie man mit einer gewissen Bevölkerungsgruppe umzuspringen pflegt, die man im gesellschaftlichen und politischen Leben an den Rand drängt, in Armut, Prekarität und Perspektivlosigkeit. Die in diesen Vierteln regelmäßig aufflammenden Aufstände sind das spontane Kondensat einer Vielzahl fragmentierter Konflikte, deren Grollen nicht enden wird. Ich bin versucht hinzuzufügen, dass sich auch andere statistische Kennzahlen wie jene zur Benachteiligung 'bildungsferner' Schichten im Schulsystem kaum anders als im Sinne der Kriegsthese interpretieren lassen." (S.112)
Wikipedia: "Eine Umkehrung des Trends sei nur möglich, wenn die Linke es wieder lerne, um politisches Bewusstsein und den Aufbau einer linken Hegemonie zu kämpfen. Wesentlich sei eine Neu-Strukturierung des labilen spontanen Bewusstseins: oben und unten, rechts und links seien wichtigere politische Kriterien als die Unterscheidung nach Ethnien oder Hautfarbe oder Geschlecht. Den spontanen Erzählungen von unten (Chauvinismus, Rassismus, Patriarchalismus, Homophobie...) müsse ein kohärenter linker Diskurs entgegengesetzt werden."
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