29 August 2024

Markus Tiedemann: Postaufklärungsgesellschaft

Vorstellung des Buches in einem Podcast des WDR (unter Berücksichtigung von Stellungnahmen von Hörern)

Die folgenden Themen werden behandelt (in Klammern der Zeitpunkt des Beginns der Behandlung):

  • Erste Phase der Aufklärung: Attische Philosophie in der griechischen Antike (03:05)
  • Zweite Phase der Aufklärung: Streben nach Objektivität in der Neuzeit (04:43)
  • Autoritäre Regime in Europa: Ist die Idee der Freiheit am Ende? (08:33)
  • Populisten übertrumpfen Elitäre (11:16)
  • Ziel der Aufklärung: Alle in engagierte, selbstreflektierende Bürger verwandeln (12:47)
  • Warum die Aufklärung das Beste ist, was wir hervorgebracht haben (18:21)
  • Die Aufklärung: ein europäisches Projekt, aber trotzdem universell (22:05)
  • Erwachsen, aber nicht mündig: "Kind-Erwachsene" stehen der Aufklärung im Weg (30:45)
  • Sind wir zu faul, um vernünftig zu sein? (32:44)
  • Definition einer Post-Aufklärungs-Gesellschaft (42:07)
  • Warum die freiheitliche Demokratie immer in Gefahr ist (46:20)
  • Cancel Culture und Political Correctness: Fällt die Aufklärung dem Zeitgeist zum Opfer? (48:52)

  • Tiedemann betont seine Dankbarkeit für die Aufklärung und fordert, das Wissen über die Schönheit und Leistung der Aufmerksamkeit so lange als möglich zu bewahren.

    Nach kursorischer Lektüre hier ein vorläufiges Kurzurteil:

    Angesichts der ausführlichen Darlegungen zu den Bedingungen für Aufklärung wirkt die Begründung für ihr Schwinden auf mich nahezu so spekulativ aus der Entwicklung der letzten Jahre extrapoliert wie Fukuyamas Ende der Geschichte. Bereits für das Jahr 2040 ein primäres Leben in Virtualität zu prognostizieren, wodurch die Bevölkerung schon bis dahin an die Regenerationsfähigkeit der menschengerechten Umwelt angepasst ist, scheint mir noch spekulativer. 

    Auch bei Fukuyama war der historische Rückblick wesentlich gehaltvoller als die Vorausschau. 

    Die zwei Paradoxien humanistischer Bildung:

    1. Erziehung zur Mündigkeit kann "nie ohne ein Moment der Entmündigung organisiert werden" (S.96) 

    2. "Wir können uns in einem Akt der Freiheit für die Unfreiheit entscheiden." (S.97)

    Es ist durchaus möglich, dass eine Person von sich aus Urteilskraft erwerben und sich für Freiheit entscheiden. 

    Aber: "der Mensch ist nur vernunftbegabt, er ist nicht vernunftaffin." (S.97) 

    Es besteht also "das Potential sich in einem Akt der Freiheit über die Neigungen zu erheben." Doch: "Um diesem Hang [zum Bösen, den der Mensch laut Kant hat] zu widerstehen, müssen die Kraft und Entschlossenheit aus einem humanistischen Selbstbildungsprozess gewonnen werden." (S.97) Organisiert werden kann der aber nur über ein "Moment der Entmündigung". (S.97)

    "In Ländern ohne Bodenschätze ist Bildung die einzige Ressource!" (S.98) Das ist heute allgemein anerkannt. Aber nur, wenn Bildung instrumentell als Ausbildung verstanden wird und nicht "Schulung von Urteilskraft" (S.99) zum Zwecke der Kritikfähigkeit. Denn Wirtschaftslenkern wie Staatslenkern liegt nicht an grundsätzlichem Widerspruch. (Kapitalismus, China)

    Sprache ermöglicht Ermächtigung, weil über Sachverhalte gesprochen werden kann. (S.108) 'Ausbeutung' [...] 'Rassismus', 'strukturelle Gewalt': Begriffe wie diese stehen für wichtige Erweiterungen unserer Sprache, die es ermöglichen, Unrecht zu identifizieren und gezielt zu bekämpfen. Mit dem Verbot von Sprache ist bisher noch kein humaner Fortschritt erzielt worden. (S. 109)

    Von zentraler Bedeutung ist es, die Ebene der Metasprache klar von jener der direkten Kommunikation und der Verwaltungssprache zu unterscheiden. Das Sprechen über diskriminierende Sprache ist selbst keine Diskriminierung. Die Erwähnung rassistischer Bezeichnungen ist nicht das Gleiche wie deren normative Verwendung." (S. 111)
    Natürlich kann Sprache Machtstrukturen sowohl widerspiegeln als auch verfestigen. "Allerdings liegt eine traurige Verkürzung vor, wenn Sprache nur auf Macht reduziert wird. [...] Gleichwohl bleibt folgende Differenzierung bestehen: das Zitieren und Erwähnen verunglimpfenden Vokabulars kann sehr / unterschiedliche Ursachen haben. Zu diesen zählen versteckter Rassismus ebenso wie ein Mangel an Sensibilität oder wissenschaftliche Redlichkeit. Rassisten sind immer wissenschaftlich unredlich und unsensibel, aber unsensible Menschen können ebenso Antirassisten sein, wie Personen, die sich wissenschaftlicher Genauigkeit verpflichtet fühlen.
    Diese Differenzierung zu leugnen, bedeutet, zahlreichen Formen der Irrationalität, Tür und Tor zu öffnen." (S.112/13) 

    Alexander Wendt: Verachtung nach unten

     Alexander Wendt: Verachtung nach unten. Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht - und wie wir sie verteidigen können.

    Als Nutzer sozialer Medien stelle ich fest, dass viele Nutzer die AfD und ihre Wähler kollektiv abwerten mit Begriffen/Kürzeln wie noafd oder durch Verbindung mit schmutzigen Wörtern.

    Wer sich zur Antifa zählt, glaubt sich oft zu hoher Militanz gegen AfD-Anhänger berechtigt, die bei Gegendemonstrationen gegen rechte Demonstrationen bis zur Gewaltanwendung gehen kann. 

    Wendts Buch verspricht vom Titel her eine Erklärung solcher zur Schau gestellten Verachtung.

    Bei der Lektüre sah ich mich eine Zeit lang in meiner Vermutung bestätigt, bis ich darauf stieß, dass er zur Moralelite, die er ablehnt, auch Black lives matter, Fridays for Future und Letzte Generation zählt und auch die Verfechter einer moralischen Überlegenheit von LGBTQ-Menschen.  

    Hier meine Kurzfassung seiner Aussagen (aufgrund einer kursorischen Lektüre der ersten 344 Seiten):

    Die Moralelite bezeichnet er auch als Erleuchtete, Erwachte, Wohlmeinende und Wohlgesinnte. Von ihnen gehe ein Versuch aus, das Denken in einer bestimmten Richtung festzulegen.

    Zu dieser Gruppe, die Denkgebot erlassen, zählt er Vertreter der Identitätspolitik, der Kritischen Rassentheorie und des Postkolonialismus. Sie streben aus seiner Sicht eine Steuerung und Entindividualisierung und Beseitigung des selbstverantwortlichen Bürgers an. 'Sie öffnen das Denken nicht, sondern sie schließen es'. Sie vereinfachen grob in der Absicht, möglichst viele Follower zu finden.

    Der Antikapitalismus des solcherart gelenkten Moralbürgertums trete vor allem als Wachstumskritik auf. 

    Solche jugendlichen Vertretern von Fridays for Future entlarve sich freilich als Heuchelei, da gegenwärtig der Anteil von Jugendlichen bei Flugreisenden und Autobesitzer zunehme.  

    19 August 2024

    Interview mit Jenny Erpenbeck über "Kairos"

     "Die Sprache hat dazu beigetragen, dass die DDR untergegangen ist"

    Di 21.05.24 

      Im englischsprachigen Raum gilt Jenny Erpenbeck derzeit als die wichtigste deutsche Schriftstellerin. Mit "Kairos" ist die Berlinerin erneut für den International Booker Prize nominiert. Warum die Wertschätzung im Ausland anders ist, erzählt sie im Interview.

      rbb: Frau Erpenbeck, Sie sind Sie mit Ihrem Buch "Kairos" zum fünften Mal für den International Booker Prize nominiert, so häufig wie keine andere Deutsche. Damit haben Sie jetzt auch Daniel Kehlmann mit vier Nominierungen überholt. Und Sie haben 2015 den Vorgängerpreis, der damals noch Independent Foreign Fiction Prize hieß, gewonnen. Das hat vor Ihnen nur ein deutscher Autor geschafft, W. G. Sebald. Das ist schon was Besonderes.

      Jenny Erpenbeck: Es ist natürlich toll. Aber es ist ja nicht wie beim Sport, wo man jetzt sagt: 'Ja, der Kehlmann hat vier Nominierungen und ich habe fünf.' Es ist nicht so, als ob man jetzt eine Geschwindigkeit beim 100-Meter-Lauf schafft.

      Der englischsprachige Raum scheint gerade ein großes Interesse an Frauen aus dem Osten zu haben. Ihre Bücher werden mit Preisen geehrt und Sandra Hüller mit Filmen in Hollywood gefeiert. Erstaunt Sie das?

      Ja, vielleicht liegt das daran, dass wir weniger machen, was dort die meisten machen. Die Amerikaner haben diese Prinzipien erfunden 'How to write a novel' und 'How to do this and how to do that' - und vielleicht sind sie auch ganz froh, wenn sie da mal rauskommen.

      Zur Person

      Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Ost-Berlin geboren. Ihr Vater ist der Physiker, Philosoph und Schriftsteller John Erpenbeck. Auch ihre Großeltern väterlicherseits waren Autoren.

      Sie studierte u.a. an der HU Berlin und Hochschule für Musik "Hanns Eisler" Berlin. Neben der Arbeit als Theater-Regisseurin arbeitete sie ab 1997 parallel als Schriftstellerin. 1999 erschien ihr Debüt "Geschichte vom alten Kind". Es folgten u.a. die Romane "Heimsuchung" (2008), "Aller Tage Abend" (2012) und "Gehen, ging, gegangen" (2015).

      Für ihre Werke, die in über 30 Sprachen übersetzt worden sind, hat sie zahlreiche Nominierungen und Auszeichnungen bekommen, u.a. den "Independent Foreign Fiction Prize" (2015) und den Thomas-Mann-Preis (2016).

      In diesem Jahr steht sie mit "Kairos" (übersetzt von Michael Hofmann) auf der Shortlist des "International Booker Prize".

        Andererseits gibt es einen bestimmten Ton, der englischsprachige Leser besonders trifft.

        Es gibt vor allem in Amerika und auch in England ein Nachdenken darüber, ob man aus dem Kapitalismus rauskommt, ob es irgendwelche Alternativen gibt. Und es gibt tatsächlich ein großes Interesse daran zu verstehen, woran zum Beispiel diese vermeintliche Alternative DDR gescheitert ist. Ich glaube, die Leser wissen, dass in einem Moment des historischen Umbruchs Erfahrungen gemacht werden und diese intensiver sind, und man mehr von dem versteht, was Menschenleben vermag. Es geht in "Kairos" auch nicht nur um Ost-West. Es ist eine Liebesgeschichte, es geht um Missbrauch.

        Manchmal hatte ich auch das Gefühl, dass - sobald dieses Signalwort Ost-West auftaucht - die deutschen Leser eher zu machen oder das Interesse ein anderes ist, zumindest in der westlichen Hälfte von Deutschland. Es ist auch schwierig in einem Land, wo beide Hälften in das Problem verwickelt sind, aber nicht die gleichen Erfahrungen gemacht haben. Es ist etwas anderes, wenn man von außen auf diese Erfahrungen schaut.

        Es ist auch total spannend, wie die Sprache das widerspiegelt.

        Das hat mich immer interessiert, dass Sprache eigentlich auch so eine Art Oberfläche ist. Ich habe Theater studiert und auch als Regisseurin gearbeitet. Da schaut man sehr genau: Was ist der Text und was ist der Untertext? Was wird nach außen hin gesagt, aber was wird eigentlich erzählt? Solche Sachen sind interessant und haben natürlich auch viel mit Manipulation zu tun, mit Verbergen.

        Ich habe mich in dem Buch auch gefragt, wo kommt die falsche Sprache her? Ab wann wird die Sprache plötzlich domestiziert und kontrolliert und so reflektiert, dass sie nicht mehr frei ist? Das sind ja interessante Fragen, sowohl für Privatleben als auch für das politische Leben.

        Und die, sage ich jetzt mal, falsche Sprache hat, glaube ich, auch einen Großteil dazu beigetragen, dass die DDR untergegangen ist, weil es einfach keinen wirklichen Austausch mehr gegeben hat. Zwischen der Regierung und den Leuten hat es keinen wirklichen Dialog mehr gegeben. Das ist viel schlimmer, als man denkt. Die Wirtschaft war natürlich auch marode, aber auch diese Sprache hat die Idee des Aufbruchs, die es am Anfang gab, nach dem Krieg, wirklich ruiniert.

        In Deutschland ist die Kritik generell anders als im englischsprachigen Raum. Es wird generell mehr mit kritischem Bewusstsein als mit Neugier und Euphorie auf die Bücher und auf die Autoren geschaut.

        Jenny Erpenbeck

        Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Sie im Ausland quasi als Weltstar gesehen werden und hier in Deutschland sind die Kritiken doch noch eher zurückhaltend?

        In Deutschland ist die Kritik generell anders als im englischsprachigen Raum. Es wird generell mehr mit kritischem Bewusstsein als mit Neugier und Euphorie auf die Bücher und auf die Autoren geschaut. Aber ich habe auch eine lange Preisliste in Deutschland. Ich habe auch für das Buch "Kairos" sehr gute Kritiken bekommen. Und "Heimsuchung", mein früheres Buch von 2008, ist Schullektüre geworden. Die Deutschen behandeln mich auch nicht so schlecht.

        Aber die "New York Times" sieht Sie als Literaturnobelpreis-Kandidatin. Sind solche Gedankenspiele irgendwie komisch? Verändert sich das Schreiben bei Ihnen dadurch?

        Das Schreiben wird natürlich nicht automatisch besser. Das wäre eher praktisch. Beim Schreiben hilft es eigentlich nicht, weil jedes Buch auch ein Buch ist, was es vorher nicht gibt. Man steht vor Fragen, die es in der Weise vorher auch noch gar nicht geben konnte. Und man muss sich mit immanenten Problemen, die den Stoff betreffen, rumschlagen. Da hilft auch leider kein Preis.

        Vielleicht ist es eher ein bisschen komisch, wenn die Leute mich plötzlich mit so einem Blick anschauen: 'Hey, die soll den Nobelpreis kriegen? So gut schreibt sie ja nun wieder auch nicht' oder was weiß ich. Es ist ein bisschen absurd. Ich habe eher die Befürchtung, dass ich bis ich 95 bin, falls ich so alt werde, damit rumlaufen muss, dass ich eine große Hoffnung für den Nobelpreis war und ihn nicht bekommen habe. Und das ist dann vielleicht doch eher sogar eine Belastung oder eine Luxusbelastung, aber auch ein bisschen absurd.

        https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2024/05/jenny-erpenbeck-autorin-berlin-kairos-international-booker-prize.html

        Leseprobe aus Kairos

        15 August 2024

        Douglas R. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach

         Das Buch ist großartig, weil es so viel Einsichten ermöglicht, auch wenn man kein zureichendes Verständnis für die dahinter stehenden Überlegungen hat. 

        Meine beiden älteren Kinder haben es mit großer Freude gelesen, bevor sie 13 Jahre alt waren. Natürlich haben sie das meiste überschlagen. Ich habe zwar weniger überschlagen. Aber als mein Sohn es während seines Informatikstudiums las, fand er auch Stellen, die er überschlug, weil er die Einsicht, auf die das Informatikkapitel hinzielte, auch ohne volles Verständnis aller Einzelheiten gewann.

        Hier der Text des Buches als pdf.

        Und hier eine Erläuterung der Vorzüge des Buchs von einem Kenner. Beides auf Englisch. 

        Die beste Erläuterung der Aussageabsicht des Buches stammt aber von Hofstadter selbst und ist hier auf Deutsch zu lesen. Im dort anschließenden Text ordnet Gero von Randow das Buch in die sich seitdem ergebende Forschung zu KI ein. Nicht ganz so einsichtig wie Hofstadters Buch aber weit kürzer und auf unseren gegenwärtigen allgemeinen Wissensstand bezogen. 

        14 August 2024

        Nicht "ich" sagen können

         Yoko Tawada berichtet, dass sie sich bei der Lektüre der Odyssee mit Odysseus identifizierte, aber als Kind und Jugendliche nicht "ich" sagen durfte und konnte, weil im Japanischen Jungen "boku" sagen und Mädchen "atashi", wenn sie von sich sprechen. Als Mädchen, das sich als Junge fühlte, wollte sie von sich als sie-selbst und nicht als atashi oder boku sprechen und hätte sich gewünscht, eine Sprache zu haben wie das Deutsche, wo man von sich selber sprechen kann, ohne sich in eine Schublade zu stecken, weil man ich sagen kann.

        Mit LGBTQ gibt es mehr Möglichkeiten, aber doch wieder Schubladen. Wenn man gegen die bösen cis-Menschen wettert, die nur zwei Möglichkeiten zulassen, sperrt man die aus der Gendergemeinschaft, in der man ist, aus, obwohl man selbst ja in der umfassenden vielfältigen Gendergemeinschaft und also normal sein will, was man den cis-Personen abspricht, weil sie sich nicht als LGBTQ+ fühlen. 

        Yoko Tawada: Eine Zungengymnastik für die Genderdebatte.

        sieh auch: Orpheus oder Izanagi


        13 August 2024

        Geschlechtsidentität

        "Eine CSD-Demo wurde von hunderten Rechtsextremen angegriffen. Sie riefen queerfeindliche, menschenverachtende und rassistische Parolen und versuchten, die Teilnehmenden und unsere gesamte Gemeinschaft einzuschüchtern. Diese erschütternden Bilder zeigen einmal mehr, wie dringend unser Einsatz für ein solidarisches Miteinander und den Schutz von Minderheiten ist.

        Gerade jetzt ist es wichtiger denn je, ein sichtbares Zeichen für die Stärkung der LGBTI-Rechte zu setzen. Fragst du dich, wie das geht? Das geht ganz einfach. Und zwar mit unserem kostenlosen Pride-Armband!"

        Damit es kostenlos sein kann, muss natürlich gespendet werden:

        "Die Angriffe auf Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Geschlechtsidentität oder ihres Geschlechtsausdruck sind leider noch immer zahlreich. Queere und trans Menschen erleben tagtäglich Diskriminierungen. Um weiterhin aktiv für LGBTI-Rechte zu kämpfen, benötigen wir deine finanzielle Unterstützung. Deshalb möchte ich dich bitten, die Produktionskosten für dein Pride-Armband zu übernehmen. [...]"

        Rupert Haag, Sprecher von Queeramnesty

        Ob Geld hilft Gewalttätigkeit zu bekämpfen? 
        Das Ziel ist richtig, aber ob das Mittel Armband ausreicht?

        Dennoch möchte ich auf die Initiative aufmerksam machen.

        Fürst Pückler-Muskau über seine Besichtigung ägyptischer Altertümer

        Im Zusammenhang mit den Königsgräbern in Theben

         Denn sehr richtig sagt Prokesch: «Griechische und ägyptische Kunst stehen nicht unter-, noch über-, sondern nebeneinander.»

        "[...] englische Ungerechtigkeit gegen Champollion; denn obgleich er in einigen Phrasen nicht umhin kann, mit der ganzen gebildeten Welt dessen hohes Verdienst anzuerkennen, so möchte er doch gern insinuieren, daß es eigentlich der Doktor Young und die Engländer seien, welche zur Entzifferung der Hieroglyphenschrift das Eis gebrochen hätten und durch ihre «früheren Entdeckungen» die Winke gegeben, nach welchen Champollion nur weiter geforscht – was ungefähr ebensoviel sagen will, als dem Erfinder des Teekessels einen höheren Ruhm als dem der Dampfmaschine beizulegen. Es ist aber auch eine schon an sich höchst unrichtige Behauptung, da das eigentlich Wesentliche, nämlich die Entdeckung des phonetischen Elements in der Hieroglyphenschrift Champollion ganz allein zu verdanken ist und nur dadurch endlich eine systematische Analyse der letztern möglich ward, die uns in wenigen Jahren besser belehrt hat als die früheren Bemühungen der Gelehrten zu demselben Zweck in vielen Jahrhunderten.[Fußnote: Bekanntlich behauptete Young fortwährend, daß die Hieroglyphenschrift nur figurativ und symbolisch sei, selbst der demotische Text der Tafel von Rosette nur aus Zeichen von Ideen bestünde, höchstens, setzt er hinzu, «mit Ausnahme jener wenigen Gruppen, die griechische Namen enthalten.» ] Später aber gibt Herr Wilkinson sogar nicht undeutlich zu verstehen (S. 55, 56 und 57), daß er sich selbst nicht für viel weniger als einen zweiten Champollion halte (wenn er auch, als façon de parler, sich vor einer solchen Arroganz verwahren will), denn er freut sich bei seinen eignen Forschungen, so häufig dieselben Resultate mit Herrn Champollion aufgefunden zu haben, «obgleich er nie mit diesem in irgendeiner Verbindung gestanden». Das kann doch nur heißen, daß er ihn nie gesehen, noch mit ihm korrespondiert habe, aber nicht, daß ihm Champollions Entdeckungen unbekannt geblieben seien," (S. 258)

        "[...] Die Kunst zu charakterisieren besaßen überhaupt die Ägypter in hohem Grade, und ein humoristischer Hang zur Karikatur wird nicht weniger in ihren Kompositionen sichtbar. So fand ich eine Hinrichtung, wo der Scharfrichter, über sein Opfer gebeugt, ganz die Stellung und den sentimentalen Ausdruck eines Vaters hatte, der seine Kinder segnet, während er sie in die andere Welt zu befördern im Begriff ist. Ein anderer seiner Kollegen hieb dagegen so furchtbar mit seinem breiten Schwerte zu, daß drei schon vorher expedierte Verbrecher noch ruhig auf den Knien lagen, ohne daß irgendwo eine Spur ihrer Köpfe am Boden sichtbar ward, als seien diese zu weit weggeflogen, um sie auf demselben Bilde noch mit darstellen zu können. [...] 

        Großes war in diesen Tagen an uns vorübergegangen, doch Größeres noch stand uns bevor! Vor Luxor und Karnak muß der stolzeste Geist sich beugen. Man glaubt Werke von Halbgöttern zu erblicken, denn die jetzigen Menschen sind ihrer nicht mehr fähig. [...]

        Schon der Palast von Luxor findet seinesgleichen nicht mehr in der übrigen Welt, und doch ist er nur klein noch gegen die Riesenwerke von Karnak! (S. 261)

        "Und doch sieht man, daß, als sie die höchste Staffel, deren sie fähig war, erstiegen hatte, sie, ob aus Weisheit oder aus einer Notwendigkeit ihrer Natur, anhielt und das Gewonnene, es gleichsam versteinernd, durch einen heiligen Stil, durch eine feste Norm, die nicht nur die Kunst, sondern das ganze Leben umfaßte und von dem keine Abweichung mehr gestattet wurde, durch lange Jahrhunderte noch zu erhalten wußte, dadurch aber vielleicht das einzige Mittel fand, einem nie endenden Streben nach unerreichbarer Vollkommenheit zuvorzukommen, jener ewigen Unzufriedenheit mit dem Bestehenden, die unsere Zeit namentlich so auffallend charakterisiert und ihr bis jetzt mehr Stützen zu rauben als neue zu schaffen scheint. Jede Art menschlicher Ausbildung hat im einzelnen, bei Nationen wie Individuen, wohl ihre Grenze, über die sie nicht hinaus kann. Ist dieser Kulminationspunkt erreicht, so muß sie ihn vielleicht durch irgendeine angewandte positive Macht zu fixieren suchen, und gelingt ihr dieses nicht, sich mit Resignation auf den unvermeidlichen Rückgang aller menschlichen Dinge vorbereiten. (S.263)

        "In Griechenland war dagegen die Form eben alles, man diente der Kunst nur um der Kunst willen. In Ägypten war sie nur ein mächtiges Mittel, den Gedanken zu verkörpern. Die geringste Zierde ägyptischer Architektur hat ihre eigne Bedeutung und steht in direktem Bezug zu der Idee, die der Gründung des ganzen Gebäudes zum Grunde lag, während die Ausschmückungen griechischer und römischer Tempel zu oft nur dem Auge zu schmeicheln suchen und für den Verstand stumm bleiben. " (S.265)

        "[...] traten wir endlich unerwartet von innen durch das Pylonentor des Eingangs hinaus und befanden uns plötzlich im hellsten Scheine des Vollmondes grade zwischen den verstümmelten Ramseskolossen und sahen uns rechts zur Seite den schönsten aller Obelisken, dem die Franzosen seinen Gefährten raubten, so schwarz und schlank gen Himmel aufschießen, als sei er ein Pfeil, der sich eben anschicke, von der Erde nach dem Monde zu fliegen. Dieser überraschende Anblick, alle Maße der uns umgebenden Gegenstände noch durch den Dämmerschein nächtlicher Beleuchtung fast verdoppelt, gehörte zu denen, die sich dem Gedächtnisse für immer einprägen. [...]" (S.271)

        "Die Grazie, die wahrhaft bezaubernde Schönheit vieler dieser Schildereien ist meines Erachtens nirgends überboten worden. Weder die Antike noch die Zeit Raphaels haben auf ihrem Standpunkt Vollendeteres hervorgebracht. Ich fand hier die Abbildung eines jungen Königs – der Porphyrpforte gegenüber, die aus der Galerie, welche den kleinen Saal des Allerheiligsten umgibt, in ein zerstörtes Nebengemach führt –, deren unbeschreibliche Herrlichkeit mich im Innersten ergriff." (S.271)

        an die Stelle des Vaterlandes, für das man sich sonst opferte, scheint jetzt das Publikum getreten zu sein, welches jedoch eine ganz andere Idee repräsentiert, als die alte res publica.[...]

        Auch war es Philae – gewiß eins der lieblichsten Wunder im fabelhaften Reiche der Pharaonen und, wenngleich nur mit den wenigsten seiner Bauwerke noch aus ihrer Zeit herstammend, doch einer der Glanzpunkte Ägyptens und das schönste Denkmal der kunstliebenden Ptolemäer,

        Seite 284

        Wenn Großes dem Kleinen verglichen werden darf, so möchte ich sagen: Philae verhalte sich zu Theben wie die Farnesina zum Palast Farnese. Es ist nicht mehr die fast göttliche Erhabenheit, der fast schauerliche Ernst der Tempel von Karnak und Luxor – dafür aber tritt uns eine noch erhöhte Zierlichkeit, mehr Abwechslung, eine behaglichere Lieblichkeit, wenn ich mich so ausdrücken darf, in den vorliegenden Räumen entgegen, die erste Spur des beginnenden Überganges zum verhältnismäßig Modernen. [...]

        Wenn ich in Theben geistig anbetete, so genoß ich hier in irdischer Behaglichkeit. Theben ist ein Aufenthalt für Götter, Philae erscheint nur wie der Palast eines epikureischen Einsiedlers.

        Seite 285

        "das Peristil des Haupttempels, welcher vielleicht eine deutlichere Vorstellung als irgendwo von der ehemaligen Pracht ägyptischer Tempel durch die in einem so offnen Raume, wie schon gesagt, fast wunderbare Erhaltung der lebendigsten Kolorierung gibt. Keine der herrlichen Säulen dieser Halle ist der andern gleich, jede schimmert in verschiednem Farbenglanze; jede entfaltet andre überraschende Zierden der Form, alle aber vereinigen sich dennoch als ein Ganzes in vollständigster Harmonie. Die riesenmäßigen Figuren außerhalb auf den Wänden der Pylonen, deren ganze Höhe sie fast erreichen, sind zwar größtenteils durch den Fanatismus vandalischer Religionsschwärmer mühsam mit dem Eisen ausgemeißelt worden, doch leidet der Totaleffekt nur wenig dadurch, und einige der Götter und Helden prangen noch unversehrt in aller ihrer alten Schönheit. So leicht das Zerstören im Vergleich mit dem Schaffen ist, so scheiterte doch in Ägypten an den Riesenwerken dieser Giganten bis jetzt der persische wie der christliche Wahnsinn, immer wenigstens zur Hälfte," (S. 286)

        In der Pforte, welche durch diese Pylonen führt, ließen die Chefs der französischen Expedition sowie die Gelehrten, welche sie begleiteten, eine lange Inschrift auf die linke, von Hieroglyphen freie Wand eingraben, und ein späterer Reisender dieser Nation hat alle anderen neueren Inschriften daneben vertilgen, die Wand glätten und mit schwarzer Farbe darüber schreiben lassen: «Une page de l'histoire ne doit pas rester barbouillée par des noms insignifiants.» – Wieviel englische Touristen mögen bei dieser diktatorischen Handlung zugrunde gegangen sein! Man hat indes bis jetzt die Anordnung respektiert, zu wünschen bliebe nur übrig, daß die Charaktere der eingemeißelten Namen der französischen Generale und Gelehrten, eben jene «page de l'histoire», von einer geschickteren Hand ausgeführt worden wären, da solche, Gänsepfoten mehr ähnliche Buchstaben, den kunstreichen Hieroglyphen und Bildern der Alten grade gegenüberstehend, einen Begriff von Barbarei hervorrufen, der mit dem hochtrabenden Inhalt der Inschrift zu komisch kontrastiert, um nicht ein unwillkürliches Lächeln zu erregen – um so mehr vielleicht, da jene ephemere Expedition so gar keine Folgen zurückließ. (S. 286)

        "um beim Untergang der Sonne die Aussicht von der obersten Plattform zu genießen, die gewiß zu den originellsten in der Welt gehört. Unter uns breiteten sich, von den Fächern der Palmen umwogt, der Säulenwald und alle die Pforten, Pylonen, Höfe und Mauern Philaes aus, bedeckt mit tausend Götter- und Heroenbildern, von welchen einige, mit dem Fuß fast auf der Erde ruhend, doch mit dem Haupte noch bis zu uns hinaufreichten. Genau ersichtlich war hier der Plan des ganzen Baues wie auf einer Karte, umzogen vom Nil, der nach Ägypten zu einen toten See voll dunkler, abenteuerlicher Granitfelsen bildet. Einer unter diesen, auf welchen in den Stein gehauene Stufen hinanführen, gleicht einem kolossalen Königsthrone. Zur Lehne dient ihm eine mit Hieroglyphen und Bildern geschmückte Tafel, und ein ungeheurer, wie in der Luft schwebender Block formt seinen Baldachin. Von Nubien aus strömt dagegen der mächtige Fluß mit eiligem Laufe im eng zusammengedrängten Bette heran, von wenigen Palmengruppen eingefaßt, zwischen welchen sich links einige verlaßne weiße Moscheen, rechts, auf der grotesk gezackten Steininsel Bithié, die Ruinen eines andern antiken Tempels zeigen, wie denn überhaupt in ältester Zeit hier wahrscheinlich eine ganze Masse davon verteilt waren, daher es auch sehr problematisch bleibt, wo der Gott oder vielmehr nur, wie die Fabel sagt, der wesentlichste Teil desselben begraben wurde. Dicht hinter den schmalen Uferstreifen erheben sich dunkle Felsenmauern in fast gleicher Höhe auf beiden Seiten des Stroms, in deren Spalten…"(S.289)

        Der Nil nimmt nun immer mehr einen von dem bisherigen sehr verschiednen Charakter an, der jedoch bald ebenso einförmig wird als der frühere. Während er in Unterägypten durch ewig flache grüne Ufer, fruchtbare Ebnen und weit hingedehnte Palmenhaine fließt, in Oberägypten meistens in einem zwar gleich fruchtbaren, aber schon weit engeren Tale strömt, das rechts und links die niedrigen Ketten des libyschen und arabischen Gebirges begrenzen, ist er jetzt im schmalsten Bette andauernd von schwarzen, chaotisch übereinander geworfnen Felsen eingeschlossen, die aus lauter einzelnen, von den Fluten aufgetürmten Blöcken zu bestehen scheinen, und an deren Saume nur selten hinlänglicher Raum für einige Kultur und Palmengruppen übrigbleibt. Gewöhnlich erblickt man dann zwischen diesen ärmliche Dörfer mit schwarzen nackten Gestalten, die wenig Teilnahme an dem zeigen, was um sie her vorgeht; oder man wird in der Öde durch die kolossalen Trümmer antiker Tempel überrascht, die in ungestörter Einsamkeit ihre dunklen Säulen gegen den blauen Himmel abzeichnen und durch ihre Menge verkünden, welch reges Treiben einst diese jetzt so verlassenen Ufer belebt haben muß.

        Seite 291

        Weit anziehender als diese Massen ohne Kunstwert ist ein Speos (kleiner in den Felsen eingehauener Tempel), der sich eine Viertelstunde nördlich von hier tiefer im Lande befindet und die Ringe des Sesostris trägt. Der einzige Saal wird nur von zwei aus dem Felsen selbst herausgearbeiteten, kurzen flach kannelierten Säulen getragen, derengleichen man nur in den ältesten Bauten Ägyptens und Nubiens findet und die vielleicht das erste Vorbild des späteren dorischen Stiles gewesen sind. Die Hieroglyphen auf den Säulen wie an der Decke sind nur gemalt und die sitzenden Figuren in den Nischen gänzlich verstümmelt. Die schönsten Skulpturarbeiten aber schmücken die Felswände des sonst ganz einfachen Vorhofes.

        Seite 294

        Der Felsentempel von Yerf-Hussein ist mir als einer der merkwürdigsten im ägyptischen Reiche vorgekommen, da ich nach der Belehrung des Augenscheins überzeugt bin, daß er trotz der Ringe des dritten Ramses oder Sesostris, die man auf den Kolossen des Vorbaues und auf den zerstörten Sphinxen und Statuen findet, welche die von der Flußseite hinansteigende großartige Treppe zierten, doch einer ungleich älteren Epoche angehört und vielleicht tausend Jahre vor Ramses schon existierte. Es scheint unmöglich, daß ein und dieselbe Zeit Werke von so heterogener Natur, als die Monumente von Theben und dem nahen Ypsambul mit diesem Tempel darbieten, hätte hervorbringen können – dort an beiden Orten die Vollendung höchster Kunst, hier nur ihr plumper, noch unbeholfner, aber bereits alle Elemente düstrer Großartigkeit in sich enthaltender Anfang. (Seite 301)

        Während unsres Aufenthalts langten drei ganz mit Sklaven angefüllte Barken von Dongola hier an. Es ist dies schon die vierte Karawane schwarzer Sklaven beiderlei Geschlechts, der wir seit Assuan begegnen, sonst nur den erwähnten Franzosen, welche die einzigen Touristen auf dem Nil waren. (Seite 302)

        Ypsambul Den 10. April Wir sahen uns genötigt, wieder zum Ziehen der Barke durch Menschen und zum notwendigen Pressen der Eingebornen zu diesem Dienst unsre Zuflucht zu nehmen, womit man freilich nicht schnell vorwärts kommt. Auch entwischten häufig die Gepreßten unserm Kawaß, was langen neuen Aufenthalt verursachte. So erreichten wir erst spät nach Mittag den Tempel von Hamada, der von geringem Umfang, aber größter Schönheit aller Details und aus der besten Zeit der Pharaonen ist. Schade, daß der Sand der Wüste ihn so tief verschüttet hat, daß man bequem vom Boden auf sein Dach steigen kann, das hier aus doppelten übereinander liegenden Steinblöcken, jeder von zwei Fuß Dicke, besteht.

        Seite 302

        In der Mitte dieser soliden Decke haben die Kopten, welche den Tempel eine Zeitlang als Kirche benutzten, ein weites Loch gebrochen, um eine Art weißgetünchter Kuppel aus Erdziegeln darauf zu stülpen, die einem Taubenhause gleicht, wie die meisten dieser Arbeiten aber schon wieder zur Hälfte eingefallen sind. Man bemerkt in diesem Tempel, dessen Inneres (in das man durch ein enges Loch kriechen muß) weniger mit Sand angefüllt ist, als es die äußere Verschüttung erwarten läßt, ähnliche kannelierte Säulen ohne Kapitäl mit bloßer Deckplatte wie in dem Speos zu Kalabsche und findet nur die Ringe ältester Pharaonen darin, vom Geschlechte Thutmosis' III., der für den König Moeris des Herodot gehalten wird, Ammenophis' II. und einiger andern. Mit Champollions Tafel in der Hand ist es jetzt jedem leicht geworden, der sich nur die Mühe der Vergleichung geben will, die meisten dieser Ringe zu erkennen, frühere Reisende hatten es nicht so bequem. (Seite 304)

        Der Sonnenuntergang spielte an diesem Abend unter Doerrs hohen Palmen mit unnachahmlichen Farben. Der ganze Himmel schien ein zerflossner Regenbogen, in dessen Mitte die junge Mondessichel, nicht gelb wie bei uns, «gleich einem Eierdotter», wie Schefer singt, sondern brennend smaragdgrün wie ein Goldkäfer glänzte. Auch der Nil rollte heut nur bunte Wellen, und selbst der graue Wüstensand hatte sich in Rosa- und Silbersand verwandelt. (S.305)

        Nicht ohne gespannte Neugierde nahten wir den alten Denkmälern von Ypsambul, oder eigentlicher Abu-Simbel. Seit Burkhardt diese erhabensten aller Felsentempel in Afrika aufgefunden und Belzoni mit unermüdlicher Geduld sie geöffnet, wobei er wochenlang zubrachte, um das Riesentor des größten nur zur Hälfte vom Sande zu befreien – in welchem Zustande es auch noch jetzt ist –, setzen die beharrlichsten der Touristen ihre ägyptische Expedition häufig bis hierher und auch wohl bis zu den nicht mehr weit entfernten Katarakten von Ouadi-Halfa fort, aber darüber hinaus dringt seltner ein Fremder. (Seite 306)

        Die Wirkung der gegen siebenzig Fuß hohen vier Kolossen an der Fassade des größten Tempels, die in majestätisch heitrer Ruhe, die Hände behaglich auf die Knie gelegt, in ihrer 100 Fuß hohen, 115 Fuß breiten und 24 Fuß tiefen geglätteten Felsennische dicht am Wasser sitzen und als des unterirdischen Heiligtums treue Wächter hier schon über dreitausend Jahre lang unverrückt harren und sich das Spiel der Wellen beschauen, ergreift vielleicht manche Einbildungskraft noch gewaltiger als die Säulen- und Obeliskenwälder Thebens.

        Seite 307

        Die Kompositionen nähern sich oft dem naiven Sinne unsrer altdeutschen Maler, einige erreichen die Vollkommenheit der Antike. [...] 

        Die innere Einrichtung dieses zweiten troglodytischen Monuments ist der des andern gleich, und die außerhalb an die Wand gelehnten Kolosse des Königs und der Königin schienen mir noch vollendeter gearbeitet als die des größern Tempels, besonders sind die üppigen und zarten Formen der weiblichen wie die Durchsichtigkeit und der schöne Faltenwurf der Gewänder merkwürdig gelungen bei so kolossalen Verhältnissen. Eine liebliche Wirkung macht es auch, daß an den Knien der Eltern Söhne und Töchter gruppiert sind. Diese Anordnung bereichert das Ganze und mildert den strengen Ernst der Riesenbilder durch gemütlichere Gefühle." (S.309)

        Empörend ist es aber zu sehen, wie schamlos neuere Besucher diese Bildwerke durch die obszönsten Zusätze, mit Kohle und selbst mit schwarzer Ölfarbe sorgsam gezeichnet, herabgewürdigt haben. Wahrlich, der niedrigste der Eingebornen würde sich keine solche Gemeinheit zuschulden kommen lassen, und es ist schmachvoll zu denken, daß Menschen, die so weit aus dem gebildeten Europa hierherkommen, solche Spuren ihrer Anwesenheit zurücklassen können!

        Seite 310

        Die letzte derselben, ganz abgesonderte, enthält eine wunderbar erhaltene, völlig unbeschädigte Figur, die mir zu den reizendsten Schöpfungen ägyptischer Kunst zu gehören scheint. Es ist ein junges aufrecht stehendes Mädchen von rührender Schönheit mit einem tief schwermütigen Ausdruck im Antlitz; die gefalteten Hände ruhen herabgesunken in ihrem Schoß und, wie über ihren eignen frühen Tod trauernd, schaut sie, ein Bild klagender, aber engelgleicher Unschuld, sinnend vor sich nieder in die rastlos vorüberströmende Flut. Auch die Gegend um Abu-Simbel hat den eigentümlichen Charakter durch die besondere Form ihrer Felsen, (S. 311)

        Ritt durch die Wüste nach Dongola, Samneh, Dal, Saki-el-Abd

        "Unweit davon liegen die Reste einer alten Stadt, die man für Tasitia hält." (S. 317)

        Eine Siedlung mit primitiven Hütten:

        Sie sind sämtlich aus in der Sonne getrockneten Erdziegeln gebaut, und zwischen ihnen steht auf einem isolierten Felsen ein kleiner, aber zierlicher Tempel mit den Ringen der Pharaonen Ortoasen III. und Thutmosis IV. Gegenüber an dem rechten Ufer des Nils erblickt man die Trümmer eines andern größeren, aber weit mehr zerstörten Tempels, die wir aus Mangel eines Kahns zum Übersetzen diesmal nicht besuchen konnten und für später aufhoben. Die Skulpturen und Hieroglyphen des kleinen Tempels, der nur ein einziges, korridorähnliches Zimmer enthält (denn Saal kann man es nicht nennen), sind zum Teil sehr graziös, auch einige Farben, namentlich das Blau der Decke mit ihren gelben Sternen noch leidlich erhalten, doch hat man in späterer Zeit mitten auf die alten Figuren der äußern Fassade eine lange Hieroglyphenschrift eingemeißelt, die so elend gearbeitet ist, daß koptische Christen sie nicht schlechter hätten machen können. Auch hier findet man zwei jener kannelierten altägyptischen Säulen wieder, welche den dorischen gleichen. Es sind die einzigen, welche der Tempel gehabt zu haben scheint, der auf der Flußseite auch noch mit einer Art Galerie, von vier Pfeilern gestützt, verziert ist. Eine Reihe Felseninseln zieht sich von hier quer durch den Fluß bis zu dem andern Tempel hin, und die meisten derselben tragen Reste alter Mauern, wahrscheinlich befestigte Schlösser, die hier den Fluß mit Leichtigkeit zu sperren vermochten. Ein englischer Reisender ist dadurch auf die Vermutung gebracht worden, daß dies die vom Wasser umgebenen Schlösser seien, welche auf einem der Schlachtbilder in Theben vorkommen. Obgleich diese Bestimmung etwas gewagt erscheint, so ist doch so viel gewiß, daß des Ramses Eroberungen sich nicht nur bis hierher, sondern auch noch ungleich weiter nach Süden erstreckt haben müssen, wovon mehr Beweise übrig geblieben sind als von den nach Norden gerichteten. (S.318)

        Gleich Herrn Cadalvene begegneten wir aber auch auf diesem Punkte einer großen Sklavenkarawane aus dem Innern. Doch konnten wir darüber nicht dieselben Bemerkungen machen als er. Herr Cadalvene sah, nach seiner ihn in Ägypten selten verlassenden trüben Stimmung, alles dabei ebenso schwarz wie die Farbe der Sklaven selbst und diese daher nur gleich verzweiflungsvollen Jammergestalten vorüberziehen, während wir sie lachend und uns in ihrer Sprache Scherze zurufend wohlgenährt, hinlänglich für dies Klima, wo die meisten nackt gehen, gekleidet und ohne alle Spuren von Kummer oder Sorge ihren Weg rüstig verfolgen sahen. Warum die Sachen so übertrieben und anders darstellen, als sie wirklich sind? Sklaverei, abstrakt genommen, ist bei einem gebildeten Zustande der Gesellschaft gewiß etwas Empörendes – niemand widerspricht dem. Aber daß das individuelle Los der hiesigen Sklaven – den Zustand ihrer Bildung und ihrer Gewohnheiten ins Auge gefaßt – so unsäglich traurig und jammervoll sei, selbst während der schlimmsten Periode, der ihres Transports nach Kahira, muß ich nach allem, was ich so vielfach selbst davon sah, gänzlich bestreiten. Denn daß sie halb nackt sind, daß sie da, wo sie nicht auf dem Nile fahren können, wenn sie nicht krank sind (wo man sie reiten läßt), zu Fuß gehen müssen und daß sie nur Durrabrot und hie und da etwas Gemüse oder Datteln mit Nilwasser zur Nahrung erhalten, ist nur dasselbe, was allen diesen ebenso mäßigen als armen Völkern hier überall gemein ist. Sobald sie aber verkauft sind, wird im Orient ihr Los in der Regel weit besser, ja oft glänzend." (S.318)

        "Ich sage freie Sklavenarbeit, weil unser Industrieland an vielen Orten Europa, die Leiden der Sklaverei vollkommen aufwiegt, ja sie oft noch übertrifft und ebenso demoralisierend wirkt. Ich bin dem ungeachtet weit entfernt davon, der Sklaverei das Wort reden zu wollen, ich meine nur, daß der Orient in der Bildungsperiode, worin er steht, und bei seinen von den unsern so ganz abweichenden Verhältnissen auch hinsichtlich der dort bestehenden Sklaverei nicht zu einseitig von uns beurteilt werden darf." (S. 320)

        Ein erfrischendes Bad im Nil mit einem natürlichen schwarzen Granitthron daneben, um mich darauf aus- und anzuziehen, beschloß mein idyllisches Tagewerk; ich war aber nicht wenig betreten, als ich den Fluß verlassend dicht neben der gewählten Badestelle die ganz frische Spur eines enormen Krokodils erblickte, so schön wie eine ägyptische Hieroglyphe auf dem glatten und weichen Ufersande abgedrückt. [...]

        Es werden jetzt jährlich viele tausend Kamele aus den äthiopischen Ländern für Ägyptens Gebrauch geliefert und die Konsumtion der Sklaven ist noch größer. [...]

        Der dieser kühlen Nacht folgende Tag war der heißeste, den wir bisher gehabt, 35 Grad Reaumur im Schatten."  (S.321)

        "Das belustigendste Schauspiel für mich jeden Abend ist das Aufladen der Kamele, welches in der Regel von vier bis sechs Uhr andauert. Die Manieren dieser originellen Tiere mit ihrem Giraffenkopf, ihrem Schwanenhals, ihrem Hirschleib und Kuhschwanze nebst dem grotesken Höcker und den Hinterbeinen, die sie, wie mit Scharnieren versehen, so geschickt und taktmäßig in drei Teile zusammenlegen, sind zu komisch, um sie ohne Lachen mit ansehen zu können. Wie ungezogene Kinder schreien und quieken diese Tiere bei jeder Berührung, sehen immer im höchsten Grade melancholisch und empört aus, verlieren aber doch während ihres Ärgers keinen Augenblick, um dazwischen wieder emsig zu käuen, welche Operation, da sie nur die untere Kinnlade dazu in gleichem Tempo mit großer Ernsthaftigkeit rechts und links bewegen, ihnen ganz die Allüre eines alten Weibes gibt, das mit schlechten Zähnen vergeblich eine Brotrinde zu kauen versucht. Ihre Zähne sind indes nur zu gut, und wenn sie sich in der Brunst befinden, ist ihr Biß so fürchterlich, daß man uns in Kahira erzählte: im vorigen Jahre habe ein Kamel dem Offizier der Wache am Tore des Friedens den Kopf abgebissen. Ich selbst sah sie nur mit Verwunderung die Äste der Mimosen samt deren eisenfeste, fünf Zoll lange Stacheln so unbesorgt abbeißen und kauen, als seien es Salatblätter." (S.328)

         "Noch immer begegneten wir Karawanen von Kamelen und von Sklaven. Eine der letzteren hatte sich sehr malerisch in einem Garten neben den Ruinen von Sedenga gelagert und belustigte uns, als wir mitten durch sie hinzogen, durch eine Gruppe ausgelassner Mädchen, die uns auf alle Art und Weise verspotteten, wozu unsre weiße Farbe und unser fremdartiges Kostüm ihnen die beste Gelegenheit gaben. Auf unsre Frage: ob eine der mutwilligsten und hübschesten darunter zu verkaufen sei? – ward nur mit einem barschen «Nein!» geantwortet, denn die Sklavenhändler aus dem Innern schienen einen ebenso großen Abscheu vor den ungläubigen Christenhunden zu haben als die Sklaven selbst. Ich bin überzeugt, daß kein Individuum dieser ganzen Gesellschaft, wenn wir es ihm hätten anbieten können, mit uns getauscht haben würde. – Alles in der Welt beruht auf Meinung!" (S.333)

        (Fortsetzung)

        Arthur Schopenhauer: Eristische Dialektik oder die Kunst, Recht zu behalten

         Mich beeindruckt an der Schrift "Eristische Dialektik oder die Kunst, Recht zu behalten" zweierlei. Einerseits die Offenheit, mit der er darauf hinweist, dass Recht behalten zu wollen, ein ziemlich niedriges Bedürfnis des Menschen ist und wie fragwürdig es ist, wenn das gelingt, und andererseits, in welchem Umfang und in welch eindrucksvoller Gliederung ihm das gelungen ist. Hinzu kommt, was ich lange nicht wusste, dass er diese Schrift zwar sehr eindrucksvoll ausgearbeitet, sie aber nicht vollendet und auch nicht veröffentlicht hat. 

        Freilich hatte ich mich schon immer über den Titel, "Die Kunst, Recht zu behalten" gewundert, weil das doch nicht das Ziel eines ernsthaften Philosophen sein könne. Insofern beruhigt die Tatsache, dass er die Schrift nicht veröffentlich hat, etwas. Freilich passt dazu, dass die Wikipedia ihm "eine gewisse Rechthaberei" nachsagt. Dann hätte hm wohl daran gelegen, nicht allzu deutlich zu machen, wie wichtig ihm diese Kunst war.

        Eine Darlegung der einzelnen Methoden/Kunstgriffe darf ich mir schenken, weil sie in der Wikipedia bereits zureichend vorgestellt werden. Doch eine Übersicht soll hier in einer dort vorgestellten Graphik gegeben werden.








        Bei der Lektüre der Schrift im einzelnen ist mir interessant, wie viele Beispiele er von Aristoteles hat. Wiederum ein Grund, die Gesamtleistung des Aristoteles zu würdigen.

        12 August 2024

        Bildung und Allgemeinbildung

        Schwanitz' Buch Bildung  verdient eine Ehrenrettung, denn es verweist mit dem Untertitel "Alles, was man wissen muss"  auf Allgemeinwissen. Zwar braucht man in Zeiten des Internets vieles nicht mehr zu wissen, aber man braucht Grundlagenwissen, um einordnen zu können. Dafür bietet er etwas mehr, als man unbedingt braucht, aber er 

        Aber er verweist im zweiten Teil seines Buches zu recht darauf, dass zu Bildung auch eine "Summe von Kenntnissen und Fähigkeiten" (S.395) gehört, andererseits freilich etwas so Komplexes beschreibt, dass es sich der Definition weitgehend entzieht. Darauf reagiert er, indem er Bildung als "soziales Spiel" (S.396) bezeichnet.
        Wegen der aufgrund der Mathematisierung, der konsequent aufeinander aufbauenden Grundlagen und der großen Spezialisierung der Naturwissenschaften eignen sich diese nicht für dieses 'soziale Spiel', bei dem man nur Teilkenntnisse braucht und das meiste schon vergessen haben kann, wenn man nur ein paar Grundkenntnisse hat und die Spielregeln kennt. Insofern ist es sogar konsequent, wenn Schwanitz das naturwissenschaftliche Wissen ausklammert.

        Was mir aber beim Hineinsehen rund 20 Jahre nach der Erstlektüre auffällt:
        die anschauliche Darstellung, die immer wieder anklingen lässt, dass es nicht um eine präzise Wiedergabe von Zusammenhängen, sondern nur um Vorverständnis schaffende Veranschaulichung geht und die Erläuterung zur Wissenschaftsentwicklung nach Thomas S. Kuhn, die verdeutlicht, dass alles wissenschaftliche Wissen nur vorläufig ist und dass es nach Kuhn keinen Weg zu immer besserer Erkenntnis darstellt, sondern eine Entwicklung, die immer wieder von kleinen Revolutionen unterbrochen wird, nach denen vorherige Gewissheiten aufgrund eines Paradigmenwechsels aufgehoben sind.

        Link zu einer Rezension 
        Meine erste Vorstellung des Buches

        Zur Ergänzung:
        Nicht für das soziale Spiel, wohl aber als Grundlagenwissen zur Eiordnung braucht man freilich sehr wohl auch mehr naturwissenschaftliche Kenntnisse, als es das Feuilleton im Regelfall bietet. Deshalb hier der Verweis auf:
        Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte (Rezension)
        sieh auch:

        Bei dieser Gelegenheit Maik Riecken zu Bildung (2013) als Inhalt und Struktur oder "Paket" und "Lager" :
        "Ich mochte Geschichte als Schüler nie, bemerke aber, dass ich einzelne Wissenspakete jetzt in eine Verbindung bringen, d.h. Strukturen mit Hilfe vorhandener Inhalte aufbauen kann, von denen ich lange Zeit nicht wusste, wo ich sie im Lager hinstellen sollte. Die Pakete waren zur Schulzeit also vollkommen sinnfrei und haben irgendwo in einer Ecke des Lagers gestanden, wo sie verstaubt sind. Dass sie einmal wichtig werden würden, wusste ich damals nicht. Leider ist es schwer vorauszusehen, für welche Pakete das im Leben eines Menschen gelten wird. Daher beruht so etwas wie „Bildungskanon“ im Grunde auf einer breit gestreuten Spekulation."

        Die im Anschluss an Maik Rieckens Blogbeitrag stattfindende Diskussion (unter dem Blogbeitrag zu finden) halte ich für ein schönes Beispiel dafür, wie viel Austausch 2013 noch über Blogeinträge möglich war.

        07 August 2024

        Weshalb es so schwer ist, eine realistische Weltsicht zu entwickeln ...

         glaubte Hans Rosling zu wissen und erklärte es in seinem Buch Factfulness, von 2018:

        (Zwar hat sich seitdem manches geändert, doch manches auch genau in der Richtung, auf die er damals hingewiesen hat: Erfreuliche Entwicklungen von 2023)


        Einige grundlegende Informationen erhält man aber schon hier:
        https://www.gapminder.org/

        Gibt es eine Kluft zwischen Entwicklungsländern und Industrieländern?

        Hier kann man an 13 Fragen üben, eine korrekte Einschätzung zu wichtigen Fakten zu gewinnen:
        http://forms.gapminder.org/s3/test-2018

        Es gibt auch anschauliche Graphiken, die die historische Entwicklung wichtiger Zusammenhänge aufzeigen:
        http://www.gapminder.org/whc

        sieh auch: Tweets zu factfulness

        Ist es gerechtfertigt, die Antworten auf die 13 Fragen zu akzeptieren und trotzdem der Grundaussage von Factfulness zu widersprechen?*

        Welche Argumente könnte man dafür anführen?
        Was spricht dafür, dass sie nur dazu dienen, an einer inkorrekten Weltsicht festzuhalten?
        Was ist der Grund für unsere skeptischere Weltsicht?

        Rosling weist zu Recht darauf hin, dass über den vielen Katastrophenmeldungen unterschätzt wird, wie viel sich zum Besseren verändert hat.*
        Denn das führt dazu, dass die hohe Bedeutung der Arbeit internationaler Institutionen für die weltweite Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse völlig verkannt wird. Die Flüchtlingskrise von 2015 ist auch darauf zurückzuführen, dass viele Staaten ihren freiwilligen Zahlungsverpflichtungen zur Unterstützung der UN-Flüchtlingshilfe (UNHCR) nicht nachgekommen sind.
        Die weltweite Verschlechterung der Klimabilanz auch darauf, dass die Mehrzahl der Staaten ihren Selbstverpflichtungen auf der UN-Klimakonferenz in Paris von 2015 zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes nicht nachgekommen sind. Deutschland insbesondere wegen der verschobenen Abschaltung und weiteren Subventionierung besonders umweltschädlicher Kohlekraftwerke.


        Trotz der eklatanten Unterschätzung der Leistungen der UNO für weltweite Verbesserungen ist freilich auch die skeptischere Weltsicht gut begründet. Denn während die Kluft zwischen den ärmeren Ländern und den reichen immer mehr abnimmt, bleibt die Kluft innerhalb der meisten Länder sehr hoch, ja sie nimmt in vielen Ländern sogar zu.
        Die Katastrophen von Syrien und Jemen sind sehr real, auch wenn sie statistisch durch den Einkommenszuwachs in China und Indien mehr als aufgewogen werden.
        Verbesserte weltweite Durchschnittswerte ändern nichts daran, dass die Verhältnisse in Afghanistan und Somalia sowie in der Zentralafrikanischen Republik katastrophal bleiben.

        Dennoch: Wer die weltweiten Verbesserungen nicht wahrnimmt, ist in Gefahr, sich einzureden, Hilfsanstrengungen brächten sowieso kaum etwas und es lohnte sich nicht, sie energisch zu verstärken.
        2015 war weltweit ein schwerer Rückschlag. Nicht weil ein (sehr) kleiner Teil der 60 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland gekommen ist, sondern weil die internationale Solidarität bei der UN-Flüchtlingsarbeit und bei der Reduzierung des COs-Ausstoßes zwar offiziell zugenommen hat, aber in Wirklichkeit abgenommen hat.
        Es ist eben keine Verbesserung, wenn die EU vor ihren Grenzen Lager zur Flüchtlingsabwehr errichtet und die UN-Flüchtlingslager unterfinanziert bleiben.

        Weshalb ist so schwer, eine realistische Weltsicht zu entwickeln?
        Weil positive und negative Entwicklungen parallel laufen und zu Recht immer wieder auf Katastrophen und Versäumnisse hingewiesen wird und es so unglaublich schwer ist, sich immer wieder aufs Neue ein differenziertes Bild zu machen. (Katastrophenmeldungen helfen dabei wenig.)
        Rosling gebührt das Verdienst, alles ihm mögliche getan zu haben, die positiven Tendenzen überhaupt erst erkennbar zu machen, bevor er 2017 seinen höchst individuellen Tod an Krebs gestorben ist. Zum Glück führen Anna Rosling Rönnlund und Ola Rosling sein Werk weiter.

        *Hinweis: Ich habe Ihnen das Buch vorgestellt, sobald ich erkannt habe, dass es ein wichtiges Buch ist. Dabei war ich zu dem Zeitpunkt nicht einmal auf S.40 von 381 Seiten.
        Da die Autoren aber eine Webseite erstellt haben, wo sie das ihrer Meinung nach Wichtigste aus dem Buch vorstellen, brauche ich mich nicht darum zu sorgen, dass Sie einen falschen Eindruck gewinnen könnten. Sie haben immer die Chance, ihn zu korrigieren.
        https://twitter.com/DejanFreiburg/status/1012788839482609669
        Es folgt die Betrachtung der Fallen, die nach Rosling oft eine realistische Weltsicht verhindern.
        Die erste Falle ist nach Rosling die, dass man eine Kluft (englisch: gap) vermutet, wo in Wirklichkeit ein Kontinuum besteht, bei dem große Überlappungen zwischen den Gruppen bestehen, die miteinander verglichen werden. 
        Deshalb warnt er vor dem Vergleichen von Durchschnitten (also genau das, war er am Anfang seines Buches unternommen hatte und was ich daran kritisiert hatte).  Das erläutert er an Testergebnissen von Frauen und Männern sowie an einem Einkommensvergleich zwischen Mexiko und den USA. 
        Auch wenn der Durchschnitt von Tests in Mathematik bei Männern über dem entsprechenden Durchschnitt bei Frauen liegt, wird ein großer Teil der Frauen bessere Ergebnisse erzielt haben als der Durchschnitt der Männer. (S.56) Bei den Einkommen der Mexikaner im Vergleich mit den US-Bürgern ist die Überlappung zwar deutlich geringer, aber immer noch erheblich. Es gibt also im strengen Sinn keine Kluft. Auch wenn schon innerhalb der USA die Reichsten über 1000 x mehr verdienen als die ärmsten US-Bürger - von den ärmsten Mexikanern ganz zu schweigen. 

        Wichtig ist ihm insbesondere die Kluft, die viele traditionell noch zwischen den armen und den reichen Ländern sehen. In Wirklichkeit hat sich diese früher bestehende Kluft weitgehend geschlossen, bis auf einen relativ kleinen Teil der Länder befinden sich alle - im Vergleich zu früher -jetzt auf einem relativ ähnlichen Niveau [Sie erinnern sich: die Durchschnittseinkommen der Länder, die Kluft innerhalb der einzelnen Länder betrachtet er nicht, denn auch hier befindet sich die Mehrzahl der Bevölkerung im mittleren Einkommensbereich].


        Statt einer Zweiteilung in reich und arm empfiehlt er eine Einteilung in vier Einkommensstufen (S.47):

        Stufe 1 bis zu 2 US-$ (dazu gehören etwa 1 Mrd. Menschen)
        Stufe 2 bis zu 8 US-$ (dazu gehören etwa 3 Mrd. Menschen)
        Stufe 3 bis zu 32 US-$ (dazu gehören etwa 2 Mrd. Menschen)
        Stufe 4 über 32 US-$ (dazu gehören etwa 1 Mrd. Menschen)

        Die Leser des Buches und dieses Blogs befinden sich alle auf dieser Stufe 4; deshalb empfinden sie den Unterschied zu Milliardären als wesentlicher als den gegenüber Stufe 3. Weltweit gesehen ist er es aber insofern nicht, als uns jede Menge Segnungen der Zivilisation zur Verfügung stehen, die es unterhalb unserer Stufe gibt. Vor der Fixierung auf relative Armut warnt Rosling ausdrücklich. 

        Verständlich ist das, wenn man bedenkt, dass für ihn eine neue Einkommensstufe erst bei dem vierfachen Mindesteinkommen im Vergleich zum Mindesteinkommen der vorigen Stufe beginnt. 

        Die nächste Falle sieht er in dem "Instinkt der Negativität". (S.63ff.)

        Kurz gesagt: In den meisten Ländern der Welt ist für die meisten Bewohner der Welt der Lebensstandard angestiegen. 
        Speziell in Deutschland nehmen wir eine Abschwächung der Zuwachsrate oder gar eine Stagnation als negativ. Rosling empfiehlt, einen realistischen Blick auf die Zustände 50 Jahre vorher zu wagen und die Vergangenheit nicht zu verklären. 

        Falle 3: "Instinkt der geraden Linie" (Nichtberücksichtigung exponentieller Zusammenhänge, Kurven können verschiedene Formen haben) (S. 97ff.)


        Falle 4: Angst (Schätzen Sie die Risiken ein.)


        Furchterregende Risiken wie Terror oder Flugzeugunglücke sind meist relativ ungefährlich, weil sie nicht oft auftreten. 

        Falle 5: Dimension (Setzen Sie die Dinge in Relationen.)

        Falle 6: Verallgemeinerung (Hinterfragen Sie Ihre Kategorien.)


        Wer vor allem mit einer Kluft zwischen Armen und Reichen auf der Welt rechnet, dem entgehen nicht selten wichtige Geschäftsmodelle. Besser ist es, die Einteilung in weltweite Einkommensstufen  im Blick zu haben.
        "Jede Schwangerschaft führt zu einem bis zu zwei Jahre dauernden Ausbleiben der Menstruation. Wenn sie Hersteller von Damenbinden sind, ist das schlecht für Ihr Geschäft. Folglich sollten Sie wissen – und sehr froh darüber sein –, dass Frauen heute weltweit weniger Kinder gebären. Sie sollten auch wissen, dass die Zahl gebildeter Frauen zunimmt, die außer Haus arbeiten, und auch darüber sollten Sie froh sein. Denn diese Entwicklungen haben in den letzten Jahrzehnten einen explodierenden Markt für ihre Produkte geschaffen: Milliarden menstruierender Frauen, die jetzt in Ländern der Stufen 2 und 3 leben.
        Aber wie ich bei einer internen Besprechung eines der weltgrößten Produzenten von Sanitärartikeln feststellen konnte, ist dies den meisten Herstellern im Westen völlig entgangen." (S.182/83)

        Falle 7:  Schicksal (Langsamer Wandel ist dennoch Wandel.)


        Die großen Veränderungen, die sich in den letzten Jahrzehnten in einigen Ländern Schwarzafrikas (z.B. in Ghana) ergeben haben, sind den meisten Menschen in Europa und den USA nicht bewusst. Veränderungen, die Jahrzehnte brauchen, tauchen in den Nachrichten höchst selten auf.  So wurde zwar "der stärkste jemals registrierte Rückgang" der "Zahl der Geburten pro Frau von mehr als sechs Kindern pro Frau im Jahr 1984 auf weniger als drei Kinder pro Frau 15 Jahre später" (S.212) im muslimischen Iran erreicht. Doch: "Über den schnellsten Rückgang der Kinderzahl pro Frau in der Weltgeschichte wurde in keinem der freien westlichen Medien berichtet." (S. 213)

        Falle 8: Einzige Perspektive (Legen Sie sich einen Werkzeugkasten zu.)

        Falle 9: Schuldzuweisung (Suchen Sie nicht nach einem Sündenbock.)

        Falle 10: Dringlichkeit (Machen Sie kleine Schritte.) S.269ff.

        Rosling gibt sehr gute Beispiele als Begründung. So hat er in einem Fall, als unklar war, ob bei einer Reihe von Krankheitsfällen eine Vergiftung oder eine Epidemie die Ursache war, für Quarantäne mit Straßensperren plädiert. Das führte zu Panikreaktionen, die über 20 Menschenleben kosteten. (S.270) Bei der Ebola-Epidemie hat er deshalb gegen Quarantäne und für Überprüfung der Kontakte der Erkrankten plädiert. Und das hat sich trotz der weit größeren Zahl der Betroffenen bewährt.
        Bevor man eine "Patentlösung" weltweit anwendet, sollte man zunächst durch begrenzte Experimente sehr sorgfältig prüfen, was die negativen Folgen dieser Lösung sind. Die gibt es praktisch immer. 
        Das schließt nicht aus, dass man sehr ehrgeizige Ziele anstrebt (dazu Bernd Ulrich in der ZEIT: Wie radikal ist realistisch?) - Von großen Zielen reden (Pariser Klimagipfel 2015) und sie in der Praxis verleugnen, ist keine sinnvolle Lösung.

        Zusammenfassung der Fallen, S.308

        vgl. auch:
        Früher war es ganz bestimmt nicht besser  faz.net 26.9.18
        Zu Rosling sieh auch: Factfulness Evening Standard 2.7.2019