Vorstellung des Buches in einem Podcast des WDR (unter Berücksichtigung von Stellungnahmen von Hörern)
Die folgenden Themen werden behandelt (in Klammern der Zeitpunkt des Beginns der Behandlung):
Erste Phase der Aufklärung: Attische Philosophie in der griechischen Antike (03:05)Zweite Phase der Aufklärung: Streben nach Objektivität in der Neuzeit (04:43)Autoritäre Regime in Europa: Ist die Idee der Freiheit am Ende? (08:33)Populisten übertrumpfen Elitäre (11:16)Ziel der Aufklärung: Alle in engagierte, selbstreflektierende Bürger verwandeln (12:47)Warum die Aufklärung das Beste ist, was wir hervorgebracht haben (18:21)Die Aufklärung: ein europäisches Projekt, aber trotzdem universell (22:05)Erwachsen, aber nicht mündig: "Kind-Erwachsene" stehen der Aufklärung im Weg (30:45)Sind wir zu faul, um vernünftig zu sein? (32:44)Definition einer Post-Aufklärungs-Gesellschaft (42:07)Warum die freiheitliche Demokratie immer in Gefahr ist (46:20)Cancel Culture und Political Correctness: Fällt die Aufklärung dem Zeitgeist zum Opfer? (48:52)Tiedemann betont seine Dankbarkeit für die Aufklärung und fordert, das Wissen über die Schönheit und Leistung der Aufmerksamkeit so lange als möglich zu bewahren.
Nach kursorischer Lektüre hier ein vorläufiges Kurzurteil:
Angesichts der ausführlichen
Darlegungen zu den Bedingungen für Aufklärung wirkt die
Begründung für ihr Schwinden auf mich nahezu so spekulativ aus der
Entwicklung der letzten Jahre extrapoliert wie Fukuyamas Ende der Geschichte. Bereits für das Jahr 2040 ein primäres Leben in
Virtualität zu prognostizieren, wodurch die Bevölkerung schon bis
dahin an die Regenerationsfähigkeit der menschengerechten Umwelt
angepasst ist, scheint mir noch spekulativer.
Auch bei Fukuyama war der historische
Rückblick wesentlich gehaltvoller als die Vorausschau.
Bildung ohne Humanismus S.94ff.
Die zwei Paradoxien humanistischer Bildung:
1. Erziehung zur Mündigkeit kann "nie ohne ein Moment der Entmündigung organisiert werden" (S.96)
2. "Wir können uns in einem Akt der Freiheit für die Unfreiheit entscheiden." (S.97)
Es ist durchaus möglich, dass eine Person von sich aus Urteilskraft erwerben und sich für Freiheit entscheiden kann.
Aber: "der Mensch ist nur vernunftbegabt, er ist nicht vernunftaffin." (S.97)
Es besteht also "das Potential sich in einem Akt der Freiheit über die Neigungen zu erheben." Doch: "Um diesem Hang [zum Bösen, den der Mensch laut Kant hat] zu widerstehen, müssen die Kraft und Entschlossenheit aus einem humanistischen Selbstbildungsprozess gewonnen werden." (S.97) Organisiert werden kann der aber nur über ein "Moment der Entmündigung". (S.97)
"In Ländern ohne Bodenschätze ist Bildung die einzige Ressource!" (S.98) Das ist heute allgemein anerkannt. Aber nur, wenn Bildung instrumentell als Ausbildung verstanden wird und nicht "Schulung von Urteilskraft" (S.99) zum Zwecke der Kritikfähigkeit. Denn Wirtschaftslenkern wie Staatslenkern liegt nicht an grundsätzlichem Widerspruch. (Kapitalismus, China)
Falscher Einsatz für das Richtige
Sprache ermöglicht Ermächtigung, weil über Sachverhalte gesprochen werden kann. (S.108) 'Ausbeutung' [...] 'Rassismus', 'strukturelle Gewalt': Begriffe wie diese stehen für wichtige Erweiterungen unserer Sprache, die es ermöglichen, Unrecht zu identifizieren und gezielt zu bekämpfen. Mit dem Verbot von Sprache ist bisher noch kein humaner Fortschritt erzielt worden. (S. 109)
"Von zentraler Bedeutung ist es, die Ebene der Metasprache klar von jener der direkten Kommunikation und der Verwaltungssprache zu unterscheiden. Das Sprechen über diskriminierende Sprache ist selbst keine Diskriminierung. Die Erwähnung rassistischer Bezeichnungen ist nicht das Gleiche wie deren normative Verwendung." (S. 111)
Natürlich kann Sprache Machtstrukturen sowohl widerspiegeln als auch verfestigen. "Allerdings liegt eine traurige Verkürzung vor, wenn Sprache nur auf Macht reduziert wird. [...] Gleichwohl bleibt folgende Differenzierung bestehen: das Zitieren und Erwähnen verunglimpfenden Vokabulars kann sehr / unterschiedliche Ursachen haben. Zu diesen zählen versteckter Rassismus ebenso wie ein Mangel an Sensibilität oder wissenschaftliche Redlichkeit. Rassisten sind immer wissenschaftlich unredlich und unsensibel, aber unsensible Menschen können ebenso Antirassisten sein, wie Personen, die sich wissenschaftlicher Genauigkeit verpflichtet fühlen.
Diese Differenzierung zu leugnen, bedeutet, zahlreichen Formen der Irrationalität, Tür und Tor zu öffnen." (S.112/13)
Rasse statt Klasse.
"Gemeint ist die Reduktion sämtlicher sozialer, ökonomischer und politischer Missstände auf rassistische Diskriminierung. Die Identifikation rassistischer Strukturen ist bitter notwendig. Sie darf jedoch nicht die mindestens ebenso notwendige Kritik an sozialen, ökonomischen und politischen Missständen verdrängen. [...] Bekanntlich besteht ein Teufelskreis zwischen sozialem Status, Anfälligkeit für Kriminalität, Vorverurteilung und geringen Ausstiegschancen. Wer allein auf den Aspekt der rassistischen oder chauvinistische Vorurteile fokussiert, greift zu kurz und wer allein auf sprachliche Korrektheit achtet, könnte sich auf einem bequemen Nebenschauplatz niedergelassen haben, um dem Kern der
strukturellen Gewalt aus dem Weg zu gehen." (S.120)
"Die zunehmend einseitige Darstellung des Sklaverei ist ein weiteres prominentes Beispiel. Wenn weiße, männliche Kapitalisten, die einzigen rassistischen Ausbeuter der Geschichte gewesen wären, bestünde die Hoffnung, dieses Übel als Minderheitenphänomen zu beseitigen. Leider sprechen historische Quellen eine andere Sprache.
Die Versklavung von Millionen Afrikanern, sowie deren Verschleppung auf die beiden amerikanischen Kontinente ist eines der größten Menschheitsverbrechen. Leider handelte es sich aber nur hinsichtlich der ökonomischen Organisation und der erreichten Quantitäten um eine Singularität. Sklaverei bestand zuvor, und sie besteht bis heute. Rassistischer Überlegenheitswahn bezüglich des eigenen Stammes, der eigenen Religion, der eigenen Nation ist leider aus zahlreichen Kulturkreisen überliefert und führte auf allen Kontinenten ebenso zur Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen wie pures Eigeninteresse. Leider sind wir eine zu Ungerechtigkeit und zur Irrationalität/neigende Gattung. Erinnerungskultur kann so gestaltet werden, dass die Überlieferung den eigenen Wunschvorstellungen entspricht, besser zu ertragen ist oder leichte Problemlösungen suggeriert. Allein die Chancen aus der Geschichte zu lernen, werden somit verbaut. [...]" (S.124/125).
Aktuelle Stressfaktoren 128
Die Geschichte belegt, dass Aufklärungsbewegungen wiederholt aus Krisenerfahrungen hervorgegangen sind. Leider bedeutet dies aber nicht, dass / ihre Prinzipien selbst krisenresistent sind. Ihre Dominanz war im antiken Griechenland ebenso wenig von Dauer, wie nach der französischen Revolution. Allein in den USA, vermochten Aufklärungsprinzipien gleich nach der ersten politischen Revolution eine dauerhafte Wirkung auf die Verfassung und das öffentliche Leben zu entfalten. Gleichwohl blieb das Projekt unvollkommen. Die Prinzipien der Aufklärung vermochten es nicht, Verbrechen an der indigenen Bevölkerung, Sklaverei, völkerrechtswidrig Kriege und einen bis heute andauernden Rassismus zu überwinden. Immerhin gelang es, eine freiheitliche Rechtsordnung zu etablieren und deren Grundrechte Schritt für Schritt auch auf bisher unterdrückte Bevölkerungsgruppen auszudehnen.
Zudem gelang es einer Gesellschaft freiheitlicher Staaten, den faschistischen und totalitären Bedrohungen des 20. Jahrhunderts zu widerstehen und noch nie da gewesene Unrechtsregime zu bezwingen. Ein Prozess, der nicht ohne Widersprüche zu den eigenen ethischen Prinzipien realisiert wurde. (S.128/129)
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Zerstörung der natürlichen Ressourcen 129
Extremismus 133
Während der Corona-Pandemie gelang es rechtsextremen Bewegungen in zahlreichen demokratischen Ländern, die Proteste gegen die Seuchenschutzmaßnahmen zu infiltrieren und zu instrumentalisieren. Entgegen kam ihnen die unter Verschwörungstheoretikern und sogenannten "Querdenkern" verbreitete Irrationalität. Die Mehrheit derjenigen, die gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren, würden sich wohl kaum als Neonazis bezeichnen. Vielmehr wird wiederholt das Narrativ bedient, selbst Verteidiger von Demokratie und Rechtsstaat zu sein. Beispielsweise zogen selbsternannte Querdenker am 1. Mai 2021 vor das Amtsgericht in Bochum, zum Gedenken an den Rechtsstaat. Die Tatsache, dass bei Querdenker-Demonstrationen bekennende, Neonazis aktiv sind und wiederholt Polizist*innen verletzt wurden, scheint diesem Selbstverständnis keinen Abbruch zu tun. Vergleichbare Situationen wurden aus Holland, Belgien und Österreich berichtet. Auf beiden Seiten des Atlantiks breitet sich ein infantiles Verständnis von Rechtsstaatlichkeit aus, wonach jeder Zustand, jedes Ergebnis, das nicht den eigenen Wünschen entspricht, das politisches System in Gänze in Frage stellt. Dabei gehörte es zu den entscheidenden Errungenschaften, der Aufklärung zwischen persönlichem Interesse und systemischer Gerechtigkeit unterscheiden zu können. Aufgeklärte Bürgerlichkeit erweist sich nicht im Protest gegen politische Entscheidungen, die einen persönlich nicht behagen– das kann viele Motive haben –, sondern in der Akzeptanz dessen, sofern die Prozedere, die zu dieser Entscheidung führten, dem Gesellschaftsvertrag entsprechen. Der politische / Rechtspopulismus wertet hingegen die Gefühlslage der Unzufriedenen auf und erhebt diese zum legitimen Kriterium für Richtig und Falsch. [...] Die empfundene Bedrohung genügt als Bestätigung und als Rechtfertigung von Gewalt gegen das politisches System, Sachwerte und Menschen.
Während also zahlreiche rechtsextreme Terrorakte ihre Ziele verfehlten [...] kam es in anderen Teilen der Gesellschaft zu einem dramatischen Erstarken des Rechtspopulismus und einer infantilen Demokratiefeindlichkeit. Die Dramatik der Entwicklung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. [...] Auch das Schicksalsjahr 2017 wird gern aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Nehmen wir einmal an, in diesem Jahr wäre die Stichwahl um die französische Präsidentschaft nicht von Emmanuel Macron, sondern von Marine Le Pen gewonnen worden. Gleichzeitig hätte sich die SPD in Deutschland geweigert, nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, FDP und Grünen erneut Widerwillens in eine große Koalition einzutreten. Bei den anschließenden Neuwahlen wäre die AfD als stärkste Partei in den deutschen Bundestag eingezogen. In den USA hätten [sic!] bereits Donald Trump regiert und knapp zwei Jahre später wäre Boris Johnson in die Downing Street Nr. 10 eingezogen. Wo wäre er dann noch gewesen, der sogenannte freie Westen? Bereits ab 2026 können sich erneut vergleichbare Konstellationen ergeben.
Die zweite Variante der extremistischen Bedrohung entstammt dem fundamentalistischen Islam." (S. 136/137)
Die Wiederholung des Wortes 'infantil' spricht dagegen, dass der Autor den Ernst der Lage erkannt hat. Das Problem liegt darin, dass die Corona-Maßnahmen zu oft von Regierungsseite unter Schürung von Angst als alternativlos dargestellt wurden und selbst so seriöse Kritiker wie Heribert Prantl [34][35][36]mit ihrer Warnung vor Unverhältnismäßigkeit und Menschenrechtsgefährdung nicht zureichend ernst genommen wurden. Seine Einwände als "infantil" abzutun, zeugt von einer problematischen Selbstüberhöhung.
Migration 144
Der digitale Katalysator. 153
Die Ästhetisierung der Lebenswelt und das Problem der ungleichen Beschleunigung 154
Strukturverlust der Öffentlichkeit 160
Und jetzt? Die Post-Aufklärungs-Gesellschaft 169
Die Rückkehr der Klassiker, 169
Kind – Erwachsene 171
Autokratie 176
Randexistenz: Überleben an der Peripherie 184
Spekulativer Trost 185
Spekulation 1: Putin, der Retter des Westens. 185,
Spekulation 2: Schlecht für die Freiheit aber gut für das Klima. 187
Spekulation 3: digitale Optionen 188
Ciao Bella 192
Derzeit erleben wir den Niedergang einer Leitidee, die zwar großartig und erhaben ist, leider aber zu hohe Ansprüche stellt, um die Lebensform der Massengesellschaft zu dominieren. [...] Den Anhängern des Aufklärungsgedankens obliegt es, so viel Glut wie möglich zu bewahren, um die Flamme zu gegebener Zeit neu zu entfachen. Leider ist ungewiss, wie lange es dunkel bleibt.
Aufgeklärte Zeitgenossen mögen sich mit dem Vergleich zu einer großen Liebe trösten. Zurück bleibt die Dankbarkeit, etwas derart Schönes und Seltenes erlebt zu haben. Schade, dass wir sie nicht haben halten können. Sie geht und wir, die wir jetzt leben, werden sie nicht wieder sehen. (S.192)
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