Drei sehr unterschiedliche Menschen, die nicht viel miteinander zu tun haben. Die "Knoten", die Münkler in ihren Lebensgeschichten feststellt, sind, was Marx betrifft, eher zufällige Berührungen. Die intensive Freundschaft und intensive Feindschaft von Nietzche und Wagner sind bekannt.
Nicht so üblich der Blick auf Wagner und Marx, wo Wagner als der Revolutionär erscheint, der Handgranaten im Garten versteckt und vom Kirchturm Truppenbewegungen beobachtet, während Marx stets Kommentator von der Seitenlinie bleibt, erst in Köln, dann Paris und schließlich, dauerhaft in London. Wagner will und erreicht eine Kunstrevolution, die von ihrem ideologischen Gehalt her von heute aus gesehen reichlich verstaubtes 19. Jahrhundert ist (nicht zufällig der Rückgriff auf die Antike (Gesamtkunstwerk, die Zeit der Völkerwanderung mit den germanischen Mythen und das Mittelalter mit Parzival/Parsifal). Bei ihm geht es um Gold, bei Marx um Kapital.
Marx dagegen gewinnt mit seiner Kapitalismusanalyse immer wieder neue Aktualität, etwa bei der Finanzkrise 2007/08 oder im Zusammenhang mit dem Klimawandel (vgl. Naomi Klein: Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima).
Nietzsches Umwertung aller Werte und Kritik der Moral war revolutionär in den Zeiten der viktorianischen Doppelmoral und bleibt höchst originell in Zeiten, wo die Profitlogik und die Wachstumsforderung des Kapitalismus herrschend geworden ist. Problematisch bleibt die radikale Sicht des Einzelnen, der Gerechtigkeit als Hemmnis der Selbstverwirklichung sieht.
Während deutlich ist, dass Marx mit Wagner und Nietzsche nichts anzufangen wusste, arbeitet Münkler bei hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Religionskritik und Religionsstiftung (S.209-288) interessante Gemeinsamkeiten und Gegensätze heraus.
Wagner und Nietzsche gehen von einer junghegelianischen und Feuerbachschen Religionskritik aus. Wagner lehnt die kirchlichen Institutionen ab und beschäftigt sich in seiner Kunstreligion (nicht künstlichen, sondern nur im Gesamtkunstwerk verwirklichbaren) intensiv mit dem Erlösungsgedanken (Fliegender Holländer, Tannhäuser, Tristan und Isolde, Parsifal). Nietzsche lehnt die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen völlig ab. Nötig sei, dass die Starken sich über das Allzumenschliche zum Übermenschen entwickelten. Für ihre Herrschaft über die schlechten kleinen Menschen sei ihnen Religion als Mittel (Sklavvenmoral) nützlich (S.288 ff.). Marx dagegen sieht die Möglichkeit, dass alle Menschen in einer von Menschen erschaffenen neuen Gesellschaft zur Selbstverwirklichung finden.
"[...] Herfried Münkler, selber gewiss kein Marxist im ideologischen Sinne, war seit 1993 mit der Fortführung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften betraut. In diese Zeit, besonders nach dem Finanzcrash 2007/2008, fällt das Wieder-Ernstnehmen von Marx als Beschreiber der Krisenanfälligkeit des Kapitalismus, bei allen Fehlern seiner Prophetie. Zugleich hat Münkler zusammen mit Musikwissenschaftlern Seminare über Richard Wagner an der Humboldt-Universität veranstaltet. Aus diesem Material ergeben sich die ergiebigsten Vergleiche in diesem Buch.
Bei Wagner entdeckt Münkler "klasseninterne Auseinandersetzungen"
So ist es faszinierend zuzuschauen, wie Münkler nicht nur Wagners Schriften, sondern auch dessen Musikdramen als politischer Denker durchforstet und etwa im mythischen Kosmos der Nibelungen "klasseninterne Auseinandersetzungen" entdeckt - ein schönes Changieren zwischen Opernführer und politischer Ideengeschichte. Zum Beispiel stellt Münkler Wagners "Ring" und Marx so gegenüber: "Wagners Bourgeoisie ist zu konservativ, um unter den von ihr geschaffenen Verhältnissen politisch überleben zu können; Marx' Bourgeoisie hingegen ist zu revolutionär, um nicht der von ihr selbst angestoßenen Entwicklung zum Opfer zu fallen."
Beide, Marx und Wagner, erlebten das Scheitern der deutschen Revolution von 1848/49 als prägende Erfahrung ihrer Generation. (Für den jüngeren Nietzsche waren es die Einigungskriege und die Reichsgründung 1871, die er erst patriotisch begrüßte, aber sehr bald als Bedrohung der Kultur ablehnte.) Dieses Trauma - Wagner war selbst in Dresden gegen die Fürstenherrschaft auf die Barrikaden gegangen - verarbeiteten beide aber sehr unterschiedlich: "Wagner hat auf den Umsturz der Gesellschaft verzichtet", schreibt Münkler, "um an der Revolutionierung der Kunst festhalten zu können; Marx dagegen hat an der sozialen Revolution festgehalten, indem er den Umsturz in kleine Portionen zerlegte und in den sozioökonomischen Prozess einschrieb." "
"Auch wenn sich die drei nie wirklich nahegekommen sind, kann der Autor anhand "zentraler Themen" und Ereignisse (Antisemitismus, Fortschritt, "Ring"-Uraufführung etc.) ein Gespräch der drei untereinander entfachen und sie in einem Spiel aus Distanz und Nähe zueinander ins Verhältnis setzen, staunt Thomä." (FAZ)
Münkler: Vortrag über sein Buch (Youtube) (mit Einführung 1h 40 min)
Zitate aus dem Buch:
"Volk ist für Wagner ein semantischer Container, den er braucht, um für die Einheit vor Beginn von Arbeitsteilung und sozialer Diversifikation einen Begriff zu haben." (S. 68)
"Nietzsche hat in Ecce homo [...] davon gesprochen [...] dass Zarathustra das verkörpert, was er sonst ex negativ wo – nämlich gegen den Menschen abgesetzt – beschreibt. "Hier ist in jedem Augenblick der Mensch überwunden, der Begriff 'Übermensch' ward hier höchste Realität, - in einer unendlichen Ferne liegt alles das, was bisher gross am Menschen hieß, unter ihm. In Zarathustra sei "die höchste Art alles Seienden" verkörpert, und das bezeichnet Nietzsche als den "Begriff des Dionysischen selbst". [...] Im Zarathustra hat Nietzsche einen neuen Mythos erfunden: den des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr. Dahinter verbirgt sich eine psychologisch-pädagogische Absicht: die Menschen zum vollen ihrer selbst zu erziehen. Aber nicht nur das: der Mythos ist zumindest für den frühen Nietzsche, auch die belebende und erneuernde Kraft einer jeden Kultur: "Ohne Mythos [...] geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab." Das war ganz aus dem Geiste Wagners gedacht." (S. 307)
"Wagner erfindet keine neuen Mythen, aber er übernimmt die in der Edda und in den deutschen Heldensagen aufgefundenen auch nicht einfach, sondern ordnet und erzählt sie neu. Dabei orientiert er sich zumeist am Vorbild der griechischen Tragödie, die ja ebenfalls verbreitete Mythen der griechischen Vorstellungswelt aufgegriffen und für die Bühne aufbereitet hat. [...] Die Mythen werden von Wagner als eine Forterzählung durch das Volk verstanden, das er als deren eigentlichen Schöpfer ansieht. Nicht einzelne Ereignisse sind das Thema des Mythos, sondern das Wesen der sozialpolitischen Konstellationen, auf denen die Mythen basieren [...] In Oper und Drama schreibt Wagner: "Aller Gestaltungstrieb des Volkes geht im Mythos somit dahin, den weitesten Zusammenhang der mannigfaltigsten Erscheinungen in gedrängtester Gestalt sich zu versinnlichen [...Es ] wird das Volk im Mythos daher zum Schöpfer der Kunst; denn künstlerischen Gehalt und Form müssen notwendig diese Gestalten gewinnen, wenn, wie es wiederum ihre Eigentümlichkeit ist, sie nur dem Verlangen nach faßbarer Darstellung der Erscheinungen, somit dem sehnsüchtigen Wunsche, sich und sein eigenstes Wesen [...] selbst in dem dargestellten Gegenstande wieder zu erkennen, ja überhaupt erst zu erkennen, entsprungen ist." " (S.308)
"Diese Herausstellung des Bürgers als Citoyen, nicht zu verwechseln mit dem Bourgeois, findet sich auch, wenn Max im Rückblick auf Abraham Lincoln zu sprechen kommt. Und, ganz im Hegelschen Tonfall, dessen geschichtliche Rolle zusammenfasst: "Die Vernunft siegt dennoch in der Weltgeschichte." Lincoln werde "in der Geschichte der Vereinigten Staaten und der Menschheit unmittelbar Platz nehmen nach Washington." Max beschreibt den amerikanischen Präsidenten als genaues Gegenteil von Louis Bonaparte, als einen der ganz ohne historische Draperie Paris auskommt. "Zögernd, widerstrebend, unwillig singt er die Bravour- Arie seiner Rolle, als ob er um Verzeihung bäte, dass / die Umstände ihn nötigen, 'Löwe zu sein'. Die furchtbarsten geschichtlich ewig merkwürdigen Dekrete, die er dem Feind entgegenschleudert sehen alle aus und bestreben sich auszusehen wie alltägliche Ladungen, die ein Anwalt dem Anwalt der Gegenpartei zustellt, Rechtsschikanen, engherzig verklausulierte actiones juris [Rechtsakte]. Denselben Charakter trägt seine jüngste Proklamation, das bedeutendste Aktenstück der amerikanischen Geschichte seit der Gründung der Union, die Zerreißung der alten amerikanischen Verfassung, sein Manifest für die Abschaffung der Sklaverei." Fast sieht es so aus, als würde Max hier von seinem Geschichtsmodell der sozialen Klassen als Träger des revolutionären Fortschritts Abstand nehmen, Um an deren Stelle den zielstrebig handelnden Einzelnen zu setzen [...] der weder Uniform noch historisches Kostüm trägt, sondern bescheiden und unscheinbar daherkommt." (S. 417/418)
Nietzsche sieht in seiner Basler Zeit als Voraussetzung für Kultur eine besondere Art von Gesellschaftsaufbau (das Nietzschezitat in heutiger Rechtschreibung):
"Nietzsche hingegen war bereits zu seiner Basler Zeit zu der Auffassung gelangt, eine Ethik des Mitleids könne politisch nicht folgenlos bleiben. Deswegen forderte er dazu auf, sich vom Elend nicht erweichen zu lassen, sondern es eher noch zu verstärken, um die Möglichkeit von Kultur offen zu halten. Eine Politik der Macht wie eine Ethik des Mitleids saugten die Aufmerksamkeit und die Energie der Menschen auf, die der Kultur dann fehlten. Deren Höherentwicklung erfordere Grausamkeit und Härte: 'Deshalb dürfen wir auch die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger vergleichen', erklärte er seinem Basler Publikum, 'der bei seinem Triumphzuge die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt: als welchen eine wohltätige Macht die Augen verblendet hat, so dass sie, von den Rädern des Wagens fast zermalmt, doch noch rufen: 'Würde der Arbeit!' 'Würde des Menschen' [...] Aus der Verzärtelung des neueren Menschen sind die ungeheuren soziale Notstände der Gegenwart geboren, nicht aus dem wahren und tiefen Erbarmen mit jenem Elende' - welches für Nietzsche offenbar nur dann 'wahr und tief' war, wenn es politisch folgenlos blieb. Deswegen fährt er fort: 'Wenn es wahr sein sollte, dass die Griechen an ihrem Sklaventurm zu Grunde gegangen sind, so ist das andere viel gewisser, dass wir an dem Mangel des Sklaventums zu Grunde gehen werden.' " (S.422)
Zum Gesellschaftsaufbau:
Zunächst zu denen ganz oben, an der Spitze der Gesellschaft. Bei Nietzsche sind das nicht die Mächtigen und Reichen, sondern 'die Geistigsten', die um der Vergeblichkeit großer Mühen und Anstrengungen wissen und diese dennoch auf sich nehmen, die das Leben bejahen, obwohl ihnen klar ist, wie es verläuft, Die somit soziologisch dem am nächsten kommen, was in philosophische Hinsicht von Nietzsche 'Übermensch' genannt wird. Was er hier vorträgt, ist keine wie auch immer empirisch rückgebundene Betrachtung der tatsächlichen gesellschaftlichen Ordnung, sondern eine an Platons Politeia und deren ständischen Vorstellungen angelegte Projektion, mit der er die Tiefenstrukturen der zeitgenössischen Gesellschaft sichtbar machen will." (S.424)
Ich habe mich daran gewöhnt, Nietzsche gegen die auf den Willen zur Macht von seiner Schwester zugespitzten Überlieferung in Schutz zu nehmen. In der Tat hat sich seine Vorstellung von Gesellschaft noch gewandelt (Münkler, S.425). Diese frühen Zitate lassen sich durchaus als Vorbereitung der Terrorherschaftt im Nationalsozialismus verstehen.
Kap. 8
Die europäischen Juden bei Marx, Wagner und Nietzsche (S 435ff.)
Im Allgemeinen geht man davon aus, dass es in Deutschland einen Antisemitismus im strikt rassistischen Sinn er ist seit 1879, dem Gründungsjahr der Antisemiten-Liga durch Wilhelm Marr, gegeben habe, doch steht das Jahr 1879 vor allem für die politische vor Formierung des Antisemitismus. Antisemitisches Denken., also eine Judenfeindschaft, die sich nicht auf das religiöse Bekenntnis und die zeremonielle Praxis konzentriert, sondern eine selbst durch die christliche Taufe nicht ablösbare Identität der Juden behauptet, hat es schon lange davor gegeben. 1879 wird freilich auch deswegen als die entscheidende Zäsur angesehen, weil im Jahr darauf der Berliner Antisemitismusstreit stattfand, eine im wesentlichen unter Universitätsprofessoren ausgetragene Kontroverse, die für erhebliches Aufsehen sorgte und auf die dann eine breite Welle antisemitischer Schriften auch und gerade aus dem akademischen Milieu folgte." (S. 437)
In Marxens Schrift 'Zur Judenfrage' von 1843, so kritisch er sich dort über die Juden äußert, ist aber nach Münkler kein rassistischer Antisemitismus zu finden, vielmehr kritisiert er an den Juden, dass sie die ihnen aufgedrängte Rolle als Kapitalisten akzeptiert hätten und dass es ihnen nur um 'Schacher' gehe, also um Profit und kapitalistische Akkumulation. Privat konnte Marx freilich, wenn er ein Ressentiment gegen jemanden hatte freilich sehr scharfe Formeln des Alltagsantisemitismus verwenden. Insbesondere gegen den 'jüdischen Nigger Lasalle' (S.648), mit dem er wegen dessen Rednergabe aber zusammenarbeiten musste. Aber den Juden Moses Heß (S.450) akzeptierte er ohne weiteres.
Bei Wagner aber findet sich 'manifester Antisemitismus' (S.453)
Wenn die im Sinne der Wagnerschen Definition als Juden Bezeichneten ihre Fähigkeiten in die Kultur des Landes einbringen, dann verderben sie, so Wagners Vorwurf, diese Kultur nur. Sie seien dabei, wie Wagner am Beispiel von Mendelssohn Bartholdy und Meyerbeer meint zeigen zu können, die gewachsene Kultur Europas zu 'zersetzen' " (S.460)
Bei Wagner war das in vieler Hinsicht genau umgekehrt: er hat sich im Frühjahr 1849 mit einer Intensität am revolutionären Kampf beteiligt, wie das bei Max nie der Fall war. Marx hat immer die Distanz des kommentierenden Beobachters zum gewaltsamen Geschehen gewahrt. [...im Gegensatz zu Wagner:] Während der Dresdner Mai-Revolution 1849 spielte Wagner bei der Bereithaltung von Waffen und der Koordinierung von Maßnahmen zur Verteidigung der Revolution eine zentrale Rolle." (S.495)
Unterschiedlich reagierten Wagner und Marx auf die Einsicht, dass die Revolution nicht so zustande kam, wie angenommen:
"Mit der Konsolidierung der Herrschaft Louis Bonapartes wurde Wagner skeptisch und konzentrierte seinen revolutionären Impuls zunehmend aufs Ästhetische, wo er das Musiktheater zu einem Ort für das machte, was in der sozialpolitischen Welt nicht mehr zu erwarten war. Marx dagegen ließ sich auf den mühsamen Weg der Umarbeitung seiner revolutionären Naherwartung in eine enttäuschungsresistente Theorie lange währender revolutionäre Prozesse ein. In ihr wurde die Revolution als ein Vorgang beschrieben, der sich fortwährend in den sozioökonomischen Konstellationen und nur gelegentlich an der politischen Oberfläche vollzog." (S.501)
"Für die Absicherung seiner Theorie hatte Max also einen hohen Preis zu entrichten. Insofern kommt es nicht von ungefähr, dass die 'Wiederentdeckungen' der Marxschen Theorie und die 'Revitalisierungen' des Marxismus im Verlauf des 20. Jahrhunderts unter Rückgriff auf den jungen Marx erfolgten." (S.503)
"Im Unterschied zu Wagner und Marx war Nietzsche ein dezidierter Gegner politischer wie sozialer Revolutionen. Er hat sich von der Revolution nichts versprochen und sie sogar als Unglück und Verhängnis beschrieben, weil sie dem, was er als das eigentliche Problem seiner Zeit ansah – der Entstehung von Massengesellschaft –, nicht entgegenwirkte, sondern es im Gegenteil noch beförderte." (S.505)
Er glaubte nicht an die Revolutionäre als an eine Avantgarde, "die als Erste einen Weg beschritt, auf dem ihm die anderen dann folgen würden. Nietzsches neue Aristokratie pflegte vielmehr das 'Pathos der Distanz', hielt Abstand zu den Massen und ließ sich weder durch soziale Forderungen noch moralische Erwartungen beeindrucken. Aus dem Umsturz der Gesellschaft wurde bei Nietzsche das Projekt einer 'Umwertung aller Werte', bei der die überkommenden Vorstellungen von Gut und Böse geprüft und an ihren Folgen gemessen werden sollten. Was bei Marx die Expropiation der Expropiateure durch die Expropiierten war, war für Nietzsche die Evaluation des Evaluierten nach Austausch der Evaluateure. Seinen provokantesten Ausdruck fand das in seiner Feier des Papstsohns Cesare Borgia, der weder vor Lüge noch Betrug, weder vor Gewalt noch Verbrechen zurückgeschreckt war, wenn es um das Ausleben seiner Wünsche ging. Nicht die Gesellschaft sollte überwunden werden, sondern der auf Glücks- und Sinnsuche befindliche Mensch." (S.505/506)
Zur Situation der Konkurrenz von englischen und irischen Arbeitern: Die irischen Arbeiter, die zu weit niedrigeren Löhnen zu arbeiten bereit sind, drücken die Löhne für die englischen Arbeiter.
Marx: "Schließlich wiederholt sich im England unserer Tage das, was uns das Alte Rom in ungeheurem Maßstab zeigte. Das Volk, dass ein anderes Volk unterjocht, schmiedet seine eigenen Ketten." (S.562)
Sassulitsch-Brief (S.567-572) Nach Marx könnte "eine quasi sozialistische Revolution im ökonomisch rückständigeren Russland [...] die Voraussetzungen für einen historischen Sprung aus einer vor- in eine nachkapitalistische Gesellschaftsformation schaffen. Das ist eine weitere Variante der Revolutionsvorstellungen, über die Marx nach der Verabschiedung des französischen Models nachgedacht hat. Er scheint es jedoch für unwahrscheinlich gehalten zu haben, dass die von ihm aufgeführten Bedingungen erfüllt werden, so dass auch Russland den Gang werde gehen müssen, den die westlichen Gesellschaftsgeschichte gegangen ist. (S.572)
Landlordismus (S.581f.)
Zusammenfassung / Engführung (S.550-621)
Münkler hat bis hierher Marx, Wagner und Nietzsche zwar immer wieder verglichen und dabei wesentliche Unterschiede herausgestellt. In seiner Engführung betont er aber das Gemeinsame der drei antibürgerlichen und revolutionären Denker und unterstellt ihnen, dass sie auf ihrem jeweiligen Feld Ähnliches angestrebt hätten, was aber aufgrund des Arbeitsfeldes zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt habe. eine Engführung sieht Münkler auch insofern, als alle drei Denker ihre Vereinfacher gefunden hätten, die die Ergebnisse ideologiekompatibel gemacht und damit verfälscht hätten.
Mit meiner Darstellung verkürze ich Münklers Darstellung (notgedrungen) noch weiter und verfälsche sie insofern. Das versuche ich durch Rückbindung an Zitate und Textabschnitte wieder aufzubrechen, so dass Leser angerecht werden, zu Münklers und Marx', Wagners' und Nietzsches Texten selbst zurück zu gehen.
Marx' Revolutionierung des revolutionären Denkens: vom katastrophischen Umsturz zur strukturellen Umwälzung (S.550-572)
Marx stellte fest, dass seine Naherwartung eines politischen Umsturzes immer wieder enttäuscht wurde, deshalb erklärt er die politischen Umbrüche zu Oberflächenphänomenen, die auf die grundlegenden sozioökonomischen Veränderungen zurückzuführen seien, die sich ihrerseits relativ gleichmäßig in einer immer gleichen Richtung entwickelten.
Engels habe die sozio-ökonomische Theorie zu einer umfassenden Theorie der Entwicklung der Welt und damit ideologiefähig gemacht.
Wagners Revolutionierung der Musik (S.572-590)
Wagner, im Unterschied zu Marx praktischer Revolutionär, wurde durch die Entwicklung der Revolution in Frankreich 1848 zum zweiten Kaiserreich unter Napoleon III. so enttäuscht, dass er nicht mehr die Gesellschaft, sondern sein spezifisches eigenes Feld Musik, Dichtung und Schauspiel revolutionieren wollte, indem er die unterhaltsame Bühnenkunst durch enge Verbindung von Dichtung, Musik und Schauspiel so umgestaltete, dass tiefste - in Worte nicht zu fassende - Erkenntnisse durch das Zusammenwirken der Künste im Gesamtkunstwerk den Hörer erreichen sollten. Er sah darin einen Rückgriff auf das Theater der griechischen Antike (weshalb er wie die frühen Tragödienschreiber auf Mythen, die sich in seinem Sinne umdeuten ließen, zurückgriff.
Cosima und in ihrer Nachfolge Winifred Wagner hätten sein Werk durch ihre Interpretation dauernd im Gespräch gehalten und ideologiefähig und für Hitler verwendbar gestaltet.
Nietzsches stille Revolution: Die Umwertung aller Werte (S.590-602)
Nietzsche wollte die paulinische Revolution rückgängig machen. (S.595) Nach Nietzsche (zumindest in Münklers Interpretation) war Paulus unglücklich, weil er das jüdische Gesetz nicht erfüllen konnte. In seinem Damaskuserlebnis hat er Jesus als 'Vernichter des [jüdischen] Gesetzes' (S.596) und insofern als Befreier erlebt. Was für Paulus Befreiung war, bedeutete für die Christen freilich Knechtschaft. Denn als Machtmittel der Kirche wurde die Unsterblichkeit zur 'Bekehrungswaffe'. Der Tod, der vielen Heiden gar nicht so beängstigend erschien, wurde durch die Unsterblichkeit auch der Sünder, die in der Hölle ewige Qualen zu erleiden hätten, tatsächlich unerträglich. Insofern menschliche Leidenschaften, insbesondere die Sexualität als streng zu vermeidende Sünde erklärt wurden und insofern jedes Unglück als göttliche Strafe interpretiert wurde, war damit drei wirksame Machtmittel geschaffen, mit denen Gläubige geknechtet werden konnten.
Nietzsches Umwertung aller Werte sollte die Menschen von diesen unnatürlichen Forderungen befreien. Da Nietzsches Schwester (dank Nietzsches Rückkauf der Rechte an seinem Werk) seine Werk ganz entsprechend ihrer Interpretation umordnen und damit interpretieren konnte, konnte sie ihrerseits dies Werk ideologiefähig machen.
Im Kapitel Nachspiel (S.603-621) spricht Münkler davon, Elisabeths Zusammenstellung von Äußerungen zu seinem - angeblichen - Hauptwerk Der Wille zur Macht sei "mehr als eine Verfälschung, das war eine feindliche Übernahme" (S.613)
"Auch darin sind alle drei, Max, Wagner und Nietzsche bei sich angekommen: Sie haben ihre Theorien, Aphorismen und kreativen Innovationen als Schutzschild gegen die eigenen Unsicherheiten genutzt. In einem Jahrhundert der schwindendenden Gewissheiten haben sie diese Unsicherheit durch gelegentliche Hyperaffimativität im Denk- und Sprechduktus verborgen. Aber gleichzeitig haben sie dann doch auch wieder die fortbestehende Unsicherheit erkennbar werden lassen: Marx in Gestalt der vielfältigen Revisionen seiner Theorie sowie den Korrekturen und Hinzufügungen seiner Schriften, die der Ausbildung eines Systems entgegenwirkten; Wagner durch die Polyperspektivität seiner Musikdramen, die den Sehenden und Hörenden in ein Psychodrama hineinzieht, das eher in Ratlosigkeit als in kathartisch gewonnener Selbstsicherheit endet; und Nietzsche durch die kataklysmische Steigerung eines Gedankens, die den nach Gewissheiten greifenden Leser gerade durch die wirbelnde Verdichtung dieses Gedankens in neuerliche Ungewissheit stößt. Nur wer die Gewissheiten des jeweiligen Werks dekonstruiert, gelangt zur Person des Autors; nur wer das Dekonstruierte nutzt, um die Gegenwart in ihrer irritierenden Vielgestaltigkeit zu erfassen, kann die Vorzüge dieser Wegbegleitung für sich in Anspruch nehmen." (S. 621)
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