Der Weg bis zur Kirche war ganz nah. Und nun standen sie dem Portal gegenüber.
Rex, zu dessen Ressort auch Kirchenbauliches gehörte, setzte sein Pincenez auf und musterte. „Sehr interessant. Ich setze das Portal in die Zeit von Bischof Luger. Prämonstratenser-Bau. Wenn mich nicht alles täuscht, Anlehnung an die Brandenburger Krypte. Also sagen wir zwölfhundert. Wenn ich fragen darf, Herr von Stechlin, existieren Urkunden? Und war vielleicht Herr von Quast schon hier oder Geheimrat Adler, unser bester Kenner?“
Dubslav geriet in eine kleine Verlegenheit, weil er sich einer solchen Gründlichkeit nicht gewärtigt hatte. „Herr von Quast war einmal hier, aber in Wahlangelegenheiten. Und mit den Urkunden ist es gründlich vorbei, seit Wrangel hier alles niederbrannte. Wenn ich von Wrangel spreche, mein’ ich natürlich nicht unsern ‚Vater Wrangel‘, der übrigens auch keinen Spaß verstand, sondern den Schillerschen Wrangel… Und außerdem, Herr von Rex, ist es so schwer für einen Laien. Aber Sie, Krippenstapel, was meinen Sie?“
Rex, über den plötzlich etwas von Dienstlichkeit gekommen war, zuckte zusammen. Er hatte sich an Herrn von Stechlin gewandt, wenn nicht als an einen Wissenden, so doch als an einen Ebenbürtigen, und daß jetzt Krippenstapel aufgefordert wurde, das entscheidende Wort in dieser Angelegenheit zu sprechen, wollte ihm nicht recht passend erscheinen. Überhaupt, was wollte diese Figur, die doch schon stark die Karikatur streifte. Schon der Bericht über die Bienen und namentlich was er über die Haltung der Königin und den Prince-Consort gesagt hatte, hatte so merkwürdig anzüglich geklungen, und nun wurde dies Schulmeister-Original auch noch aufgefordert, über bauliche Fragen und aus welchem Jahrhundert die Kirche stamme, sein Urteil abzugeben. Er hatte wohlweislich nach Quast und Adler gefragt, und nun kam Krippenstapel! Wenn man durchaus wollte, konnte man das alles patriarchalisch finden; aber es mißfiel ihm doch. Und leider war Krippenstapel – der zu seinen sonstigen Sonderbarkeiten auch noch den ganzen Trotz des Autodidakten gesellte – keineswegs angethan, die kleinen Unebenheiten, in die das Gespräch hineingeraten war, wieder glatt zu machen. Er nahm vielmehr die Frage ‚Krippenstapel, was meinen Sie‘ ganz ernsthaft auf und sagte:
„Wollen verzeihen, Herr von Rex, wenn ich unter Anlehnung an eine neuerdings erschienene Broschüre des Oberlehrers Tucheband in Templin zu widersprechen wage. Dieser Grafschaftswinkel hier ist von mehr mecklenburgischem und uckermärkischem als brandenburgischem Charakter, und wenn wir für unsre Stechliner Kirche nach Vorbildern forschen wollen, so werden wir sie wahrscheinlich in Kloster Himmelpfort oder Gransee zu suchen haben, aber nicht in Dom Brandenburg. Ich möchte hinzusetzen dürfen, daß Oberlehrer Tuchebands Aufstellungen, so viel ich weiß, unwidersprochen geblieben sind.“
Czako, der diesem aufflackernden Kampfe zwischen einem Ministerialassessor und einem Dorfschulmeister mit größtem Vergnügen folgte, hätte gern noch weitere Scheite herzugetragen, Woldemar aber empfand, daß es höchste Zeit sei, zu intervenieren, und bemerkte: nichts sei schwerer als auf diesem Gebiete Bestimmungen zu treffen – ein Satz, den übrigens sowohl Rex wie Krippenstapel ablehnen zu wollen schienen – und daß er vorschlagen möchte, lieber in die Kirche selbst einzutreten, als hier draußen über die Säulen und Kapitelle weiter zu debattieren.
Man fand sich in diesen Vorschlag, Krippenstapel öffnete die Kirche mit seinem Riesenschlüssel, und alle traten ein.
Theodor Fontane: Der Stechlin, Schloss Stechlin, 5. Kapitel, S.72-74
Norberto42 berichtet begeistert über seine Stechlinlektüre und bietet zusätzlich viele Links zur Interpretation
Monika Maron: Flugasche (1977) – gelesen
vor 3 Stunden
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