Die Geschichte von Hauptmann Kopejkin
»Nach der Campagne von 1812, mein sehr verehrter Herr,« begann der Postmeister, obwohl im Zimmer nicht ein Herr, sondern ihrer sechs saßen, »nach der Campagne von 1812 wurde mit den anderen Verwundeten auch der Hauptmann Kopejkin heimgeschickt. Ein Hitzkopf, launisch wie der Teufel, hatte schon auf der Hauptwache und im Arrest gesessen und alles gekostet, was es nur auf der Welt gibt. Bei Krasnoje oder bei Leipzig hatte ihm ein Geschoß, denken Sie sich nur, einen Arm und ein Bein weggerissen. [...]
Nun entschloß sich der Hauptmann Kopejkin, mein sehr verehrter Herr, nach Petersburg zu gehen, um sich bei der vorgesetzten Behörde zu bemühen: so und so, er habe gewissermaßen und sozusagen sein Leben geopfert und sein Blut vergossen . . . [...]
Er erkundigt sich, wohin er sich zu wenden habe. ›Ja, das ist eine Frage!‹ sagt man ihm: ›Die höchsten Behörden sind noch nicht in der Hauptstadt;‹ Sie verstehen, alles war noch in Paris, die Armee war noch nicht zurückgekehrt; ›es gibt aber‹, sagt man ihm, ›eine provisorische Kommission. Versuchen Sie es dort, vielleicht kann die für Sie etwas tun.‹ [...]
Es versteht sich von selbst, daß er lange genug stehen mußte, denn er kam zu einer Stunde, als der Vorsitzende gewissermaßen noch kaum aufgestanden war und sein Kammerdiener ihm so eine silberne Schüssel zu allerlei Waschungen reichte. Mein Kopejkin wartet an die vier Stunden, als der diensthabende Beamte eintritt und meldet: ›Gleich erscheint der Vorsitzende.‹ [...]
Endlich kommt er, mein sehr verehrter Herr, zum Kopejkin. Kopejkin sagt: ›Soundso, habe mein Blut vergossen und gewissermaßen einen Arm und ein Bein verloren: ich kann nicht arbeiten; darum erlaube ich mir die Anfrage, ob ich nicht auf eine Unterstützung rechnen darf, ob nicht eine Verfügung wegen einer sozusagen Gratifikation oder Pension zu erwarten ist.‹ Sie verstehen es doch. Der Vorsitzende sieht: vor ihm steht ein Mann mit einem Holzbein, und der rechte Ärmel ist leer an den Waffenrock festgesteckt. ›Gut,‹ sagt er, ›fragen Sie in einigen Tagen wieder nach.‹ Mein Kopejkin ist ganz begeistert: ›Nun,‹ denkt er sich, ›die Sache ist gemacht!‹ Er ist, Sie können es sich wohl denken, in bester Laune, hüpft auf dem Trottoir, macht einen Sprung ins Restaurant Palkin, um einen Schnaps zu nehmen, ißt im Gasthause zur Stadt London zu Mittag, läßt sich ein Kotelett mit Kapern geben, dann eine Poularde mit allerlei Kram, dazu eine Flasche Wein, geht abends ins Theater – mit einem Worte, er macht sich einen guten Tag. [...]
So hatte er an einem Tage, wollen Sie es beachten, beinahe die Hälfte seines Vermögens durchgebracht. Nach drei oder vier Tagen kommt er, mein sehr verehrter Herr, wieder in die Kommission zum Vorsitzenden. Jawohl! ›Ich komme,‹ sagt er, ›um mich zu erkundigen: soundso krankheitshalber und infolge meiner Verwundungen ... habe gewissermaßen mein Blut vergossen ...‹ und so weiter, Sie verstehen wohl, in amtlichem Ton. ›Ach was‹, sagt der Vorsitzende: ›vor allen Dingen muß ich Ihnen mitteilen, daß wir in Ihrer Sache ohne Genehmigung der höchsten Stelle nichts machen können. Sie sehen doch selbst, was jetzt für eine Zeit ist. Die militärischen Operationen sind, sozusagen, noch nicht endgültig abgeschlossen. Gedulden Sie sich bis zur Ankunft des Herrn Ministers. Sie können überzeugt sein, daß man Sie nicht übersehen wird. Und wenn Sie inzwischen nichts zum Leben haben, so nehmen Sie dies, das ist alles,‹ sagt er, ›was ich für Sie tun kann.‹ Sie verstehen, er gab ihm nicht viel, aber doch so viel, daß Kopejkin damit bei einiger Sparsamkeit doch noch bis zu der Entscheidung hätte auskommen können. Kopejkin strebte aber nach etwas anderem. Er stellte sich vor, man würde ihm schon morgen einige Tausende auszahlen: ›Hier hast du es, mein Lieber, trink und amüsiere dich;‹ statt dessen sagt man ihm aber: ›Wart!‹ und gibt ihm sogar keinen Termin an. Im Kopfe hat er aber die Engländerin und allerlei Souplettes und Kotelettes. Düster wie ein Uhu tritt er auf die Straße, oder wie ein Pudel, den der Koch mit Wasser begossen hat – hat den Schwanz eingeklemmt und läßt die Ohren hängen. [...]
Er ist aber ein frischer, lebhafter Mensch und hat einen richtigen Wolfshunger. Wenn er an so einem Restaurant vorübergeht, so ist der Koch, Sie können sich wohl denken, ein Ausländer, ein Franzose mit solch einem offenen Gesicht, hat holländische Wäsche an und eine Schürze, die sich sozusagen nur mit Schnee vergleichen läßt; er arbeitet an irgendeinem fines-herbes, an einem Kotelett mit Trüffeln, mit einem Worte, an einer solchen Delikatesse, daß man vor lauter Appetit sich selbst auffressen möchte. Und wenn er an den Miljutinschen Läden vorbeigeht, so schaut aus einem Fenster sozusagen irgendein Räucherlachs heraus, Kirschen zu fünf Rubeln das Stück, oder ein Omnibus von einer Wassermelone, die nur auf einen Dummkopf wartet, der für sie hundert Rubel bezahlt; mit einem Wort, auf Schritt und Tritt Versuchungen; das Wasser läuft ihm, bildlich gesprochen, im Munde zusammen, er muß aber warten. Versetzen Sie sich nur in seine Lage; einerseits sozusagen der Räucherlachs und die Wassermelone, und andererseits reicht man ihm ein bitteres Gericht unter dem Namen ›Morgen‹: – ›Sollen sie dort machen,‹ sagt er sich, ›was sie wollen, ich gehe aber hin, bringe die ganze Kommission und alle Vorsitzenden auf die Beine und sage ihnen: Nein, ganz wie Sie wollen, aber so geht das nicht!‹ Und in der Tat: er ist zudringlich und frech, hat nicht zuviel Grütze im Kopf, dafür aber Keckheit mehr, als man braucht. Er kommt also in die Kommission. ›Was gibt's?‹ fragt man ihn: ›Was kommen Sie schon wieder? Man hat Ihnen doch schon mal gesagt ...‹ – ›Ach was,‹ sagt er, ›ich kann mich so nicht durchschlagen. Ich muß‹, sagt er, ›auch ein Kotelett essen und eine Flasche französischen Wein trinken; auch muß ich mich ein wenig zerstreuen, will auch mal ins Theater gehen‹, Sie verstehen schon. – ›Da müssen Sie schon entschuldigen‹, sagt der Vorsitzende: ›Dazu hat der Mensch gewissermaßen, sozusagen, die Geduld. [...]
Er erhob ein großes Geschrei und ließ an der ganzen Gesellschaft kein gutes Haar! Er begann auf alle die Amtsvorstände, Sekretäre und sonstigen Beamten zu schimpfen. ›Sie sind‹, sagt er, ›dies‹, sagt er, ›und Sie sind jenes! Sie‹, sagt er, ›kennen Ihre Pflichten nicht! Sie sind‹, sagt er, ›Gesetzverächter!‹ sagt er. Alle bekamen von ihm was ab. Ganz zufällig war dort, wissen Sie, ein General von einem ganz anderen Ressort anwesend, und auch der bekam von ihm, mein sehr verehrter Herr, was ab! Es war ein richtiger Aufruhr. Was soll man nur mit einem solchen Satan anfangen? Der Vorsitzende sieht, daß man, gewissermaßen, sozusagen, zu strengen Maßregeln greifen muß. ›Gut‹, sagt er, ›wenn Sie sich damit nicht begnügen wollen, was man Ihnen gibt, und nicht geneigt sind, hier in der Hauptstadt gewissermaßen ruhig auf die Entscheidung Ihrer Sache zu warten, so werde ich Sie nach Ihrem Wohnort spedieren. Man hole‹, sagt er, ›einen Feldjäger her, damit er ihn nach seinem Wohnort transportiert!‹ Der Feldjäger aber, wissen Sie, steht schon hinter der Tür: ein drei Ellen langer Kerl mit einer Hand, wissen Sie, die schon von der Natur selbst bestimmt ist, um den Postkutschern die Rücken zu bearbeiten, mit einem Worte so ein Dentist ... So setzt man den Knecht Gottes in den Wagen und schiebt ihn mit dem Feldjäger ab. ›Nun,‹ denkt sich Kopejkin, ›so brauche ich wenigstens kein Fahrgeld zu zahlen, ich bin auch dafür dankbar.‹ So fährt er, mein sehr verehrter Herr, mit dem Feldjäger, und wie er so, gewissermaßen, mit dem Feldjäger fährt, überlegt er sich: ›Schön,‹ sagt er sich, ›du sagst mir, ich solle mir selbst die Mittel verschaffen und mir selbst helfen; gut,‹ sagt er, ›ich werde mir schon die Mittel verschaffen!‹ Nun, wie man ihn an den Bestimmungsort befördert und wohin man ihn eigentlich gebracht hat, darüber ist nichts Sicheres bekannt. So versanken alle Nachrichten über den Hauptmann Kopejkin in den Strom der Vergessenheit, in so eine Lethe, wie es die Dichter nennen. Aber, gestatten Sie, meine Herren, hier fängt eben der Faden unseres Romans an. Was aus dem Kopejkin geworden ist, das weiß niemand; aber es vergingen keine zwei Monate, als in den Wäldern von Rjasan eine Räuberbande auftauchte, und der Hauptmann dieser Bande war, mein sehr verehrter Herr, niemand anders als [...]
Nikolai Gogol: Die toten Seelen, 10. Kapitel
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