Endlich war das Ziel erreicht. Die Equipage hielt vor einem gleichfalls hölzernen zweistöckigen Hause von dunkelgrauer Farbe mit kleinen weißen Basreliefs über den Fenstern, mit einem hohen hölzernen Gitter dicht vor den Fenstern und einem schmalen Vorgärtchen, hinter dessen Gitter die schmächtigen Bäumchen ganz weiß von dem sie immer bedeckenden Straßenstaub waren. In den Fenstern erblickte man Blumentöpfe, einen Papagei, der sich in seinem Käfig schaukelte, indem er sich mit dem Schnabel am Ring festhielt, und zwei Hündchen, die in der Sonne schliefen.
In diesem Hause wohnte eine intime Freundin der Dame, die soeben angekommen. Der Autor ist in Verlegenheit, wie er die beiden Damen so nennen soll, daß keine von ihnen ihm zürne, wie man es einst zu tun pflegte. Einen Familiennamen erfinden, wäre gefährlich. Welchen Namen man auch erfinden mag, immer wird sich in irgendeinem Winkel unseres Landes, das ja groß genug ist, jemand finden, der diesen Namen trägt; dieser könnte dem Autor ernsthaft böse werden und sagen, daß er absichtlich im geheimen hingereist sei, um alles auszuspionieren und zu erfahren, was für ein Mensch er sei, was für einen Pelz er trage, was für eine Agrafena Iwanowna er zu besuchen pflege und was er gern esse. Wollte man die Menschen aber mit ihrem Rang bezeichnen, so könnte es, Gott behüte, noch gefährlicher werden. Alle Stände und Rangklassen sind bei uns jetzt dermaßen gereizt, daß ihnen alles, was sie in einem gedruckten Buche finden, als eine persönliche Anspielung erscheint: diese Stimmung hängt einmal in der Luft.
Wenn man bloß sagt, daß in einer gewissen Stadt ein dummer Mensch wohnt, so wird das gleich als eine persönliche Beleidigung aufgefaßt: sofort tritt ein Herr von ehrwürdigem Äußeren vor und ruft: »Auch ich bin ein Mensch, folglich bin auch ich dumm«; mit einem Worte, er errät sofort den Zusammenhang.
Darum wollen wir die Dame, die eben den Besuch empfing, so nennen, wie sie fast einstimmig in der Stadt N. genannt wurde: »die in allen Beziehungen angenehme Dame«. Diesen Namen hatte sie auf eine rechtmäßige Weise erworben, denn sie hatte kein Mittel gespart, um als im höchsten Grade liebenswürdig zu erscheinen, obwohl durch diese Liebenswürdigkeit zuweilen eine unheimliche Gewandtheit des weiblichen Charakters hindurchschimmerte. In manchem ihrer angenehmen Worte steckte ein höchst gefährlicher Stachel! Und was erst in ihrem Herzen kochte gegen jede, die sich auf irgendeine Weise oder durch irgendein Mittel den ersten Platz zu erkämpfen suchte, davor möchte Gott einen jeden behüten! Dies alles war aber in den feinsten Anstand gehüllt, den man in einer Gouvernementsstadt überhaupt treffen kann. Jede ihrer Bewegungen war mit feinem Geschmack berechnet, sie liebte sogar Verse, sie hielt sogar zuweilen ihren Kopf träumerisch gesenkt, und alle waren sich darin einig, daß sie wirklich eine in allen Beziehungen angenehme Dame sei. Die andere Dame, d. h. die, die soeben gekommen war, hatte keinen so vielseitigen Charakter, und darum wollen wir sie »die einfach angenehme Dame« nennen. [...]
Die eben angekommene Dame wollte zur Sache schreiten und ihre Neuigkeit mitteilen; aber ein Ausruf, den die in allen Beziehungen angenehme Dame in diesem Augenblick von sich gab, lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.
»Ach, was für ein lustiger Kattun!« rief die in allen Beziehungen angenehme Dame, das Kleid der einfach angenehmen Dame betrachtend.
»Ja, er ist sehr lustig. Praskowja Fjodrowna findet aber, daß es schöner wäre, wenn die Karos etwas kleiner und die Punkte nicht braun, sondern blau wären. Meiner Schwester schickte ich neulich einen Stoff: das ist etwas so Entzückendes, daß man es mit Worten gar nicht sagen kann. Denken Sie sich nur: schmale, ganz schmale Streifchen, so schmal, wie sie sich die menschliche Phantasie nur ausmalen kann, der Grund ist blau, und zwischen je zwei Streifchen sind immer Äuglein und Pfötchen, Äuglein und Pfötchen, Äuglein und Pfötchen . . . Mit einem Worte, unvergleichlich! Man darf entschieden behaupten, daß es auf der Welt noch nichts Ähnliches gegeben hat.«
»Liebste, das ist doch zu bunt!«
»Ach nein, es ist gar nicht bunt!«
»Ach, es ist zu bunt!«
Es ist zu erwähnen, daß die in allen Beziehungen angenehme Dame in gewisser Beziehung Materialistin und zur Negation und zu Zweifeln geneigt war und vieles im Leben verneinte.
Die einfach angenehme Dame erklärte ihr aber, daß es durchaus nicht zu bunt sei und rief: »Ach ja, ich gratuliere Ihnen: man trägt keine Falbeln mehr!«
»Wieso trägt man keine mehr?«
»Statt ihrer trägt man nur noch kleine Festons.«
»Ach, das kann nicht schön sein!«
»Lauter Festons, überall Festons: die Pelerine aus Festons, an den Ärmeln Festons, Epaulettes aus Festons, unten Festons, überall Festons.«
»Das kann nicht schön sein, Ssofja Iwanowna, wenn überall Festons sind!«
»Es ist entzückend, Anna Grigorjewna, gar nicht zu sagen, wie entzückend das ist: sie werden mit zwei Säumchen genäht und haben oben einen breiten Hohlsaum . . . Aber, jetzt kommt etwas, worüber Sie sich noch mehr wundern werden, Sie werden sagen, daß es . . . Also staunen Sie, denken Sie sich nur: die Taillen werden jetzt noch länger getragen, vorn haben sie einen Vorsprung, und das vordere Fischbein ragt ganz aus dem Rahmen hinaus; der Rock wird rundherum gerafft, wie man es bei den alten Reifröcken hatte, hinten wird er sogar ein wenig wattiert, so daß es ganz ›belle femme‹ wird.«
»Nun, da muß ich gestehen! . . .« sagte die in allen Beziehungen angenehme Dame, den Kopf mit großer Würde schüttelnd.
»Ja, Sie haben ganz richtig bemerkt: da muß ich gestehen!« entgegnete die einfach angenehme Dame.
»Sie können sagen, was Sie wollen, diese Mode mache ich nicht mit.«
»Auch ich nicht . . . Nein, wirklich, wenn man bloß bedenkt, was die Mode sich nicht alles erlaubt . . . das ist schon wirklich zu viel! Ich habe sogar meine Schwester um ein Schnittmuster gebeten, nur zum Scherz; meine Malanja ist schon beim Nähen.«
»Sie haben also ein Schnittmuster?« rief die in allen Beziehungen angenehme Dame nicht ohne eine sichtliche innere Bewegung.
»Gewiß, meine Schwester hat es mir mitgebracht.«
»Liebste, geben Sie es mir, um Gottes willen!«
»Ach, ich habe es schon Praskowja Iwanowna versprochen. Höchstens nach ihr.«
»Wer wird es denn nach Praskowja Iwanowna tragen wollen? Das wäre sehr merkwürdig von Ihnen, wenn Sie eine Fremde Ihrer Freundin vorzögen.«
»Sie ist doch meine Tante zweiten Grades.«
»Ach, was ist sie für eine Tante: doch nur seitens Ihres Mannes . . . Nein, Ssofja Iwanowna, davon will ich gar nichts hören; es sieht so aus, als wollten Sie mich beleidigen . . . Offenbar sind Sie meiner überdrüssig; offenbar wollen Sie die Bekanntschaft mit mir abbrechen.«
Die arme Ssofja Iwanowna wußte gar nicht, was anzufangen. Sie fühlte selbst, daß sie zwischen zwei mächtige Feuer geraten war. Das kommt davon, wenn man prahlen will! Sie wäre bereit, sich zur Strafe dafür ihre dumme Zunge mit Nadeln zu zerstechen.
»Nun, was hört man von unserem Herzensbrecher?« fragte indessen die in allen Beziehungen angenehme Dame.
»Ach, mein Gott! Wie kann ich bloß so dasitzen?! Das ist wirklich schön! Wissen Sie, Anna Grigorjewna, was ich Ihnen für eine Neuigkeit bringe?« Der Atem der angenehmen Dame stockte, die Worte waren im Begriff, wie die Habichte einander nachzujagen, und nur solch ein Unmensch, wie es ihre intime Freundin war, konnte es übers Herz bringen, sie hier zu unterbrechen.
»Sie können ihn noch so loben und preisen«, sagte sie viel lebhafter, als sie sonst zu sprechen pflegte. »Ich werde Ihnen aber ganz offen sagen, ich werde es auch ihm ins Gesicht sagen, daß er ein nichtswürdiger Mensch ist! Ein nichtswürdiger, ein ganz nichtswürdiger Mensch!«
»Hören Sie doch nur, was ich Ihnen erzählen will . . .«
»Man hat die Ansicht verbreitet, daß er ein hübscher Mann sei; er ist aber gar nicht hübsch, und auch seine Nase – auch seine Nase ist höchst unangenehm.«
»Lassen Sie mich Ihnen erzählen . . . Liebste, liebste Anna Grigorjewna, lassen Sie mich erzählen! Das ist doch eine ganze Geschichte, verstehen Sie, eine Geschichte, ce qu'on appelle histoire!« sagte die angenehme Dame mit verzweifeltem Ausdruck und flehender Stimme. Es schadet nicht zu bemerken, daß das Gespräch der beiden Damen sehr viele fremdsprachige Worte und sogar ganze französische Sätze enthielt. Aber so sehr auch der Autor den heilsamen Nutzen anerkennt, den die französische Sprache unserer Heimat bringt, so groß auch seine Ehrfurcht vor der lobenswerten Gewohnheit unserer höheren Klassen ist, diese Sprache zu allen Stunden des Tages, natürlich nur aus tiefster Liebe für ihr Vaterland, zu gebrauchen, trotzdem kann er sich unmöglich entschließen, in dieses russische Poem einen Satz aus irgendeiner fremden Sprache aufzunehmen. Darum fahren wir auf russisch fort.
»Was ist das für eine Geschichte?«
»Ach, liebste Anna Grigorjewna! Wenn Sie sich doch nur die Lage vorstellen könnten, in der ich mich befand! Denken Sie nur: da kommt zu mir heute die Protopopenfrau, die Frau des P. Kirill, und was denken Sie? Unser stiller, sanfter Gast, was der bloß angestellt hat!« [...]
Nikolai Gogol: Die toten Seelen, 9. Kapitel
(Schrägdruck von mir hinzugefügt)
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