Rechtsstreitigkeiten übergaben die Abderiten in der Regel den Sykophanten. Das hatte den Vorteil, dass sie nicht selbst die Dinge so verdrehen mussten, dass es nach außen so erschien, als wären sie im Recht. Außerdem hatten die Sykophanten ein so gutes Verhältnis zu den Magistratspersonen, dass sie bei ihnen durchsetzen konnten, was sie wollten. Freilich:
"Die einzigen, die sich übel bei dieser Eintracht befanden, waren – die Clienten. Bei allen andern Unternehmungen, so gefährlich und gewagt sie auch immer sein mögen, bleibt doch wenigstens eine Möglichkeit, mit ganzer Haut davon zu kommen. Aber ein abderitischer Client war immer gewiß, um sein Geld zu kommen, er mochte seinen Handel gewinnen oder verlieren. Nun rechteten die Leute zwar darum weder mehr noch weniger; allein ihre Justiz kam dabei in einen Ruf, gegen welchen nur Abderiten gleichgültig sein konnten. Denn es wurde zu einem Sprüchwort in Griechenland, demjenigen, dem man das Ärgste an den Hals wünschen wollte, einen Proceß in Abdera zu wünschen. [Hervorhebung v. Fontanefan]
Um den geneigten Leser mit keiner langweiligen Umständlichkeit aufzuhalten, begnügen wir uns zu sagen, daß Thrasyllus die Sache seinem Sykophanten auftrug. Es war einer von den geschicktesten in ganz Abdera; ein Mann, der die gemeinen Kunstgriffe seiner Mitbrüder verachtete, und sich viel darauf zugut tat, daß er, seitdem er sein edles Handwerk trieb, ein paar hundert schlimme Händel gewonnen hatte, ohne jemals eine einzige direkte Lüge zu sagen. Er steifte sich auf lauter unleugbare Fakta; aber seine Stärke lag in der Zusammensetzung und im Helldunkeln. Demokrit hätte in keine bessern Hände fallen können. Wir bedauern nur, daß wir, weil die Akten des ganzen Prozesses längst von Mäusen gefressen worden, außerstande sind, jungen neu angehenden Sykophanten zum besten, die Rede vollständig mitzuteilen, worin dieser Meister in der Kunst dem großen Rate zu Abdera bewies, daß Demokrit seines Vermögens entsetzt werden müsse. Alles, was von dieser Rede übrig geblieben, ist ein kleines Bruchstück, welches uns merkwürdig genug scheint, um, zur Probe wie diese Herren eine Sache zu wenden pflegten, ein paar Blätter in dieser Geschichte einzunehmen.
«Die größten, die gefährlichsten, die unerträglichsten aller Narren (sagte er) sind die räsonierenden Narren. Ohne weniger Narren zu sein als andre, verbergen sie dem undenkenden Haufen die Zerrüttung ihres Kopfes durch die Fertigkeit ihrer Zunge, und werden für weise gehalten, weil sie zusammenhangender rasen als ihre Mitbrüder im Tollhause. Ein ungelehrter Narr ist verloren, sobald es so weit mit ihm gekommen ist daß er Unsinn spricht. Bei dem gelehrten Narren hingegen sehen wir gerade das Widerspiel. Sein Glück ist gemacht und sein Ruhm befestiget, so bald er Unsinn zu reden oder zu schreiben anfängt. Denn die meisten, wiewohl sie sich ganz eigentlich bewußt sind daß sie nichts davon verstehen, sind entweder zu mißtrauisch gegen ihren eigenen Verstand, um gewahr zu werden daß die Schuld nicht an ihnen liegt; oder zu dumm, um es zu merken; oder zu eitel, um zu gestehen daß sie nichts verstanden haben. Je mehr also der gelehrte Narr Unsinn spricht, desto lauter schreien die dummen Narren über Wunder; desto emsiger verdrehen sie sich die Köpfe, um Sinn in dem hoch tönenden Unsinn zu finden. Jener, gleich einem durch den öffentlichen Beifall angefrischten Luftspringer, tut immer desto verwegnere Sätze, je mehr ihm zugeklatscht wird: diese klatschen immer stärker, um den Gaukler noch größere Wunder tun zu sehen. Und so geschieht es oft, daß der Schwindelgeist eines Einzigen ein ganzes Volk ergreift, und daß, so lange die Mode des Unsinns dauert, dem nämlichen Manne Altäre aufgerichtet werden, den man zu einer andern Zeit, ohne viele Umstände mit ihm zu machen, in einem Hospital versorgt haben würde. Glücklicher Weise für unsere gute Stadt Abdera ist es so weit mit uns noch nicht gekommen. Wir erkennen und bekennen alle aus Einem Munde, daß Demokrit ein Sonderling, ein Phantast, ein Grillenfänger ist. Aber wir begnügen uns über ihn zu lachen; und dies ist es eben worin wir fehlen. Jetzt lachen wir über ihn; aber wie lange wird es währen, so werden wir anfangen etwas außerordentliches in seiner Narrheit zu finden? Vom Erstaunen zum Bewundern ist nur ein Schritt; und haben wir diesen erst getan, – Götter! wer wird uns sagen können wo wir aufhören werden? – Demokrit ist ein Phantast, sprechen wir jetzt und lachen. Aber was für ein Phantast ist Demokrit? Ein eingebildeter starker Geist, ein Spötter unsrer uralten Gebräuche und Einrichtungen; ein Müßiggänger, dessen Beschäftigungen dem Staate nicht mehr Nutzen bringen als wenn er gar nichts täte; ein Mann, der Katzen zergliedert, der die Sprache der Vögel versteht, und den Stein der Weisen sucht; ein Nekromant, ein Schmetterlingsjäger, ein Sterngucker! – Und wir können noch zweifeln, ob er eine dunkle Kammer verdient? Was würde aus Abdera werden, wenn seine Narrheit endlich ansteckend würde? [...]
(Wieland: Abderiten)
Alina Bronsky: Pi mal Daumen (2024) – gelesen
vor 8 Stunden
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