Mir scheint aber, dass er in dem Demokrit dieser Darstellung eines antiken Schilda nicht nur allgemein den geistig unabhängigen Menschen im Gegensatz zu den Spießbürgern seiner Zeit zeigen will, sondern dass er sehr wohl auch dem historischen Demokrit gerecht werden will. Darauf deuten die zahlreichen Anmerkungen Wielands hin, in denen er den wahren Demokrit vor der ihn verzerrenden Überlieferung zu schützen sucht.
Freilich will er nicht bei den aus der Überlieferung sicher erschließbaren Fakten stehen bleiben, sondern er nimmt sich die dichterische Freiheit heraus, ein in sich stimmiges Bild des Philosophen, wie er ihn verstand, zu zeichnen, ohne sich nur an das Belegbare zu binden.
Wielands Nachwort als Vorwort
Die Geschichte der Abderiten kann also mit gutem Grunde als eine der wahresten und zuverlässigsten, und eben darum als ein getreuer Spiegel betrachtet werden, worin die Neuern ihr Antlitz beschauen, und, wenn sie nur ehrlich gegen sich selber sein wollen, genau entdecken können, in wiefern sie ihren Vorfahren ähnlich sind. Es wäre sehr überflüssig, von dem Nutzen, den das Werk in dieser Rücksicht so lange als es noch Abderiten geben wird – und dies wird vermutlich sehr lange sein – stiften kann und muß, viele Worte zu machen. Wir bemerken also nur, daß es beiläufig auch noch den Nutzen haben könnte, die Nachkömmlinge der alten Teutschen unter uns behutsamer zu machen, sich vor allem zu hüten was den Verdacht erwecken könnte, als ob sie entweder aus abderitischen Blute stammten, oder aus übertriebner Bewundrung der abderitischen Art und Kunst und daher entspringender Nachahmungssucht, sich selbst Ähnlichkeiten mit diesem Volke geben wollten, wobei sie aus vielerlei Ursachen wenig zu gewinnen hätten.
Und dies, werte Leser, wäre also der versprochne Schlüssel zu diesem merkwürdigen Originalwerke, mit beigefügter Versicherung, daß nicht das kleinste geheime Schubfach darin ist, welches Sie sich mit diesem Schlüssel nicht sollten aufschließen können; und wofern Ihnen jemand ins Ohr raunen wollte, als ob noch mehr darin verborgen sei, so können Sie sicherlich glauben, daß er entweder nicht weiß was er sagt, oder nichts Gutes im Schilde führt. (Wieland: Der Schlüssel zur Abderitengeschichte)
Textausschnitte (vollständiger Text)
Das Altertum der Stadt Abdera in Thracien verliert sich in der fabelhaften Heldenzeit. Auch kann es uns sehr gleichgültig sein, ob sie ihren Namen von Abdera, einer Schwester des berüchtigten Diomedes, Königs der Bistonischen Thracier, – welcher ein so großer Liebhaber von Pferden war, und deren so viele hielt, daß er und sein Land endlich von seinen Pferden aufgefressen wurde [Fußnote: Paläphatus in seinem Buche von Unglaublichen Dingen erklärt auf diese Weise die Fabel, daß dieser Fürst seine Pferde mit Menschenfleisch gefüttert habe, und ihnen endlich selbst von Herkules zur Speise vorgeworfen worden sei. ], – oder von Abderus, einem Stallmeister dieses Königs, oder von einem andern Abderus, der ein Liebling des Herkules gewesen sein soll, empfangen habe. [...]
Es mangelte den Abderiten nie an Einfällen: aber selten paßten ihre Einfälle auf die Gelegenheit wo sie angebracht wurden, oder kamen erst wenn die Gelegenheit vorbei war. Sie sprachen viel, aber immer ohne sich einen Augenblick zu bedenken, was sie sagen wollten, oder wie sie es sagen wollten. Die natürliche Folge hiervon war, daß sie selten den Mund auftaten, ohne etwas albernes zu sagen. Zum Unglück erstreckte sich diese schlimme Gewohnheit auch auf ihre Handlungen; denn gemeiniglich schlossen sie den Käfig erst, wenn der Vogel entflogen war. Dies zog ihnen den Vorwurf der Unbesonnenheit zu; aber die Erfahrung bewies, daß es ihnen nicht besser ging wenn sie sich besannen. [...]
Denn wer zu seiner Zeit weise werden wollte, mußte mit eignen Augen sehen. Es gab noch keine Buchdruckereien, keine Journale, Bibliotheken, Magazine, Enzyklopädien, Realwörterbücher, Almanache, und wie alle die Werkzeuge heißen, mit deren Hülfe man itzt, ohne zu wissen wie, ein Philosoph, ein Naturkundiger, ein Kunstrichter, ein Autor, ein Alleswisser wird. [...]
Gulleru begriff nicht allzu wohl, was Demokrit mit dieser empfindsamen Anrede haben wollte; aber sie sah, daß es eine Ergießung seines Herzens war, und so verstand sie gerade so viel davon, als sie vonnöten hatte. «War diese Gulleru seine Frau?» Nein. «Seine Beischläferin?» Nein. «Seine Sklavin?» Nach ihrem Anzug zu schließen, nein. «Wie war sie denn angezogen?» So gut, daß sie ein Ehrenfräulein der Königin von Saba hätte vorstellen können. Schnüre von großen feinen Perlen zwischen den Locken und um Hals und Arme; ein Gewand voll schön gebrochner Falten, von dünnem feuerfarbnem Atlas mit Streifen von welcher Farbe Sie wollen, unter ihrem Busen von einem reich gestickten Gürtel zusammen gehalten, den eine Agraffe von Smaragden schloß; und – was weiß ich alles – «Der Anzug war reich genug.» Wenigstens können Sie mir glauben, daß, so wie sie war, kein Prinz von Senegal, Angola, Gambia, Kongo und Loango sie ungestraft angesehen hätte. «Aber –» Ich sehe wohl, daß Sie noch nicht am Ende Ihrer Fragen sind. – «Wer war denn diese Gulleru? War es eben die, von welcher vorhin gesprochen wurde? Wie kam Demokrit zu ihr? Auf welchem Fuß lebte sie in seinem Hause?» – Ich gesteh es, dies sind sehr billige Fragen; aber sie zu beantworten, seh ich vor der Hand keine Möglichkeit. Denken Sie nicht, daß ich hier den Verschwiegnen machen wolle, oder daß ein besonderes Geheimnis unter der Sache stecke. Die Ursache, warum ich sie nicht beantworten kann, ist die allereinfachste von der Welt. Tausend Schriftsteller befinden sich tausendmal in dem nämlichen Falle; nur ist unter tausend kaum Einer aufrichtig genug, in solchen Fällen die wahre Ursache zu bekennen. Soll ich Ihnen die meinige sagen? Sie werden gestehen, daß sie über alle Einwendung ist. Denn, kurz und gut, – ich weiß selbst kein Wort von allem dem, was Sie von mir wissen wollen; und da ich nicht die Geschichte der schönen Gulleru schreibe, so begreifen Sie, daß ich in Absicht auf diese Dame zu nichts verbunden bin. Sollte sich (was ich nicht vorher sehen kann) etwa in der Folge Gelegenheit finden, von Demokrit oder von ihr selbst etwas näheres zu erkundigen: so verlassen Sie sich darauf, daß Sie alles von Wort zu Wort erfahren [...]
7. Kapitel Patriotismus der Abderiten. Ihre Vorneigung für Athen, als ihre Mutterstadt. Ein paar Proben von ihrem Atticismus, und von der unangenehmen Aufrichtigkeit des weisen Demokrit.
Demokrit hatte noch keinen Monat unter den Abderiten gelebt, als er ihnen, und zuweilen auch sie ihm schon so unerträglich waren, als Menschen einander sein müssen, die mit ihren Begriffen und Neigungen alle Augenblicke wider einander stoßen. Die Abderiten hegten von sich selbst und von ihrer Stadt und Republik eine ganz außerordentliche Meinung. Ihre Unwissenheit alles dessen, was außerhalb ihres Gebiets in der Welt merkwürdiges sein oder geschehen mochte, war zugleich eine Ursache und eine Frucht dieses lächerlichen Dünkels. Daher kam es denn durch eine sehr natürliche Folge, daß sie sich gar keine Vorstellung machen konnten, wie etwas recht oder anständig oder gut sein könnte, wenn es anders als zu Abdera war, oder wenn man zu Abdera gar nichts davon wußte. [...]
Demokrit hatte noch keinen Monat unter den Abderiten gelebt, als er ihnen, und zuweilen auch sie ihm schon so unerträglich waren, als Menschen einander sein müssen, die mit ihren Begriffen und Neigungen alle Augenblicke wider einander stoßen. Die Abderiten hegten von sich selbst und von ihrer Stadt und Republik eine ganz außerordentliche Meinung. Ihre Unwissenheit alles dessen, was außerhalb ihres Gebiets in der Welt merkwürdiges sein oder geschehen mochte, war zugleich eine Ursache und eine Frucht dieses lächerlichen Dünkels. Daher kam es denn durch eine sehr natürliche Folge, daß sie sich gar keine Vorstellung machen konnten, wie etwas recht oder anständig oder gut sein könnte, wenn es anders als zu Abdera war, oder wenn man zu Abdera gar nichts davon wußte. [...]
wiewohl sie es nicht so weit trieben, sich, wie die Japaner, einzubilden, außer Abdera wohnten lauter Teufel, Gespenster und Ungeheuer, [...]
Wer das Glück haben wollte ihnen zu gefallen, mußte schlechterdings so reden und tun, als ob die Stadt und Republik Abdera, mit allen ihren zugehörigen Stücken, Eigenschaften und Zufälligkeiten, ganz und gar untadelig und das Ideal aller Republiken gewesen wäre. [...]
Von dieser Verachtung gegen alles, was nicht Abderitisch hieß, war die Stadt Athen allein ausgenommen; aber auch diese vermutlich nur deswegen, weil die Abderiten, als ehmalige Tejer, ihr die Ehre erwiesen, sie für ihre Mutterstadt anzusehen. Sie waren stolz darauf, für das Thracische Athen gehalten zu werden; und wiewohl ihnen dieser Name nie anders als spottweise gegeben wurde, so hörten sie doch keine Schmeichelei lieber als diese. Sie bemühten sich, die Athener in allen Stücken zu kopieren, und kopierten sie genau – wie der Affe den Menschen. [...]
«Die Schwarzen an der Goldküste», sagte Demokrit, «tanzen mit Entzücken zum Getöse eines armseligen Schaf-Fells und etlicher Bleche, die sie gegen einander schlagen. Gebt ihnen noch ein paar Kuhschellen und eine Sackpfeife dazu, so glauben sie in Elysium zu sein. Wieviel Witz brauchte eure Amme, um euch, da ihr noch Kinder waret, durch ihre Erzählungen zu rühren? Das albernste Märchen, in einem kläglichen Tone hergeleiert, war dazu gut genug. Folgt aber daraus, daß die Musik der Schwarzen vortrefflich, oder ein Ammenmärchen gleich ein herrliches Werk ist?» [...]
Ihr habt euch einen falschen Begriff von Freiheit in den Kopf gesetzt. Eure Kinder von drei oder vier Jahren haben freilich den nämlichen Begriff davon; aber dies macht ihn nicht richtiger. ‹Wir sind ein freies Volk›, sagt ihr; und nun glaubt ihr, die Vernunft habe euch nichts einzureden. ‹Warum sollten wir nicht denken dürfen, wie es uns beliebt? lieben und hassen wie es uns beliebt? bewundern oder verachten was uns beliebt? Wer hat ein Recht uns zur Rede zu stellen, oder unsern Geschmack und unsre Neigungen vor seinen Richterstuhl zu fordern?› – Nun denn, meine lieben Abderiten, so denkt und faselt, liebt und haßt, bewundert und verachtet, wie, wenn und was euch beliebt! Begeht Torheiten so oft und so viel euch beliebt! Macht euch lächerlich wie es euch beliebt! Wem liegt am Ende was daran? So lang' es nur Kleinigkeiten, Puppen und Steckenpferde betrifft, wär es unbillig, euch im Besitze des Rechtes, eure Puppe und euer Steckenpferd nach Belieben zu putzen und zu reiten, stören zu wollen. Gesetzt auch, eure Puppe wäre häßlich, und das, was ihr euer Steckenpferd nennt, sähe von vorn und von hinten einem Öchslein oder Eselein ähnlich: was tut das? Wenn eure Torheiten euch glücklich und niemand unglücklich machen, was geht es andre Leute an daß es Torheiten sind? [...]
Aber, meine lieben Landsleute, nicht alle eure Torheiten sind so unschuldig wie diese; und wenn ich sehe, daß ihr euch durch eure Grillen und Aufwallungen Schaden tut, so müßt ich euer Freund nicht sein, wenn ich still dazu schweigen könnte. Zum Beispiel, euer Frosch- und Mäusekrieg mit den Lemniern, der unnötigste und unbesonnenste der jemals angefangen wurde, um einer Tänzerin willen! [...]
Die Spartanischen Töchter, weil sie kurze Röcke, und die am Indus, weil sie gar keine Röcke tragen, sind darum weder unehrbarer noch größerer Gefahr ausgesetzt, als diejenigen, die ihre Tugend in sieben Schleier einwickeln. Nicht die Gegenstände, sondern unsre Meinungen von denselben, sind die Ursachen unordentlicher Leidenschaften. [...]
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