Der Senat zu Abdera gibt dem Euripides, ohne daß er darum angesucht, Erlaubnis, eines seiner Stücke in dem Abderitischen Theater aufzuführen. Kunstgriff, wodurch sich die Abderitische Kanzlei in solchen Fällen zu helfen pflegte. Schlaues Betragen des Nomophylax. Merkwürdige Art der Abderiten, einem, der ihnen im Wege stand, allen Vorschub zu tun.
Nachdem Euripides die Wahrzeichen von Abdera sämtlich in Augenschein genommen hatte, führte man ihn nach dem Garten der Salabanda, wo er den Ratsherrn ihren Gemahl (einen Mann, der bloß wegen seiner Gemahlin bemerkt wurde) und eine große Gesellschaft von Abderitischem Beau-Monde fand, alle sehr begierig zu sehen, wie man es machte, um Euripides zu sein. Euripides sah nur Ein Mittel sich mit Ehren aus der Sache zu ziehen; und das war – in so guter Abderitischer Gesellschaft nicht Euripides – sondern so sehr Abderit zu sein als ihm nur immer möglich war. Die wackern Leute wunderten sich, ihn so gleichartig mit ihnen selbst zu finden. «Es ist ein scharmanter Mann», sagten sie; «man dächte, er wäre sein Leben lang in Abdera gewesen.» [...]
Das ist eine wunderliche Art zu agieren, flüsterten sie einander zu; man merkt gar nicht daß man in der Komödie ist; es klingt ja ordentlich als ob die Leute ihre eignen Rollen spielten. Indessen bezeugten sie doch ihr Erstaunen über die Dekorationen, die zu Athen von einem berühmten Meister in der Theaterperspektiv gemalt waren; und da die meisten in ihrem Leben nichts gutes in dieser Art gesehen hatten, so glaubten sie bezaubert zu sein, wie sie das Ufer des Meers, den Felsen wo Andromeda angefesselt war, und den Hain der Nereiden an einer kleinen Bucht auf der einen Seite, und den Palast des Königs Cepheus in der Ferne auf der andern, so natürlich vor sich sahen, daß sie geschworen hätten, es sei alles wirklich und wahrhaftig so wie es sich darstellte. Da nun überdies die Musik vollkommen nach dem Sinne des Dichters, und also das alles war, was die Musik des Nomophylax Gryllus – nicht war; da sie immer gerad aufs Herz wirkte, und ungeachtet der größten Einfalt und Singbarkeit doch immer neu und überraschend war: so brachte alles dies, mit der Lebhaftigkeit und Wahrheit der Deklamation und Pantomime und mit der Schönheit der Stimmen und des Vortrags vereinigt, einen Grad von Täuschung bei den guten Abderiten hervor, wie sie noch in keinem Schauspiel erfahren hatten. Sie vergaßen gänzlich, daß sie in ihrem Nationaltheater saßen, glaubten unvermerkt mitten in der wirklichen Szene der Handlung zu sein, nahmen Anteil an dem Glück und Unglück der handelnden Personen, als ob es ihre nächsten Blutsfreunde gewesen wären, betrübten und ängstigten sich, hofften und fürchteten, liebten und haßten, weinten und lachten, wie es dem Zauberer, unter dessen Gewalt sie waren, gefiel; – kurz, Andromeda wirkte so außerordentlich auf sie, daß Euripides selbst gestand, noch niemals des Schauspiels einer so vollkommnen Empfindsamkeit genossen zu haben. [...]
In der Tat haben Dichter, Tonkünstler, Maler, einem aufgeklärten und verfeinerten Publikum gegen über, schlimmes Spiel; und gerade die eingebildeten Kenner, die unter einem solchen Publikum immer den größten Haufen ausmachen, sind am schwersten zu befriedigen. Anstatt der Einwirkung still zu halten, tut man alles was man kann um sie zu verhindern. Anstatt zu genießen was da ist, räsoniert man darüber was da sein könnte. Anstatt sich zur Illusion zu bequemen[Fußnote: Es versteht sich von selbst, daß der Dichter das Seinige getan haben muß, um die Illusion zu bewirken und zu unterhalten; denn sonst hat er freilich kein Recht, von uns zu verlangen, daß wir, ihm zu Gefallen, tun sollen als ob wir sähen, was er uns nicht zeigt, fühlten, was er uns nicht fühlen macht, usw. ], wo die Vernichtung des Zaubers zu nichts dienen kann als uns eines Vergnügens zu berauben, setzt man ich weiß nicht welche kindische Ehre darein, den Philosophen zur Unzeit zu machen; zwingt sich zu lachen, wo Leute, die sich ihrem natürlichen Gefühl überlassen, Tränen im Auge haben, und, wo diese lachen, die Nase zu rümpfen, um sich das Ansehen zu geben als ob man zu stark oder zu fein oder zu gelehrt sei, um sich von so was aus seinem Gleichgewicht setzen zu lassen. Aber auch die wirklichen Kenner verkümmern sich selbst den Genuß, den sie von tausend Dingen, die in ihrer Art gut sind, haben könnten, durch Vergleichungen derselben mit Dingen anderer Art; Vergleichungen, die meistens ungerecht und immer wider unsern eignen Vorteil sind. Denn das, was unsre Eitelkeit dabei gewinnt, ein Vergnügen zu verachten, ist doch immer nur ein Schatten, nach welchem wir schnappen indem uns das Wirkliche entgeht.
(Wieland: Die Abderiten 3. Buch, 10. u. 11. Kapitel)
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