08 November 2016

Wieland: Die Abderiten (Fortsetzung)

Demokrit:
«Was ich sagen wollte, um Ihnen die Sache, wovon wir sprachen, deutlich zu machen, war dies: Ein Land, wo ewiger Friede herrscht, und wo alle Menschen in gleichem Grade frei und glücklich sind; wo das Gute nicht mit dem Bösen vermischt ist, Schmerz nicht an Wollust und Tugend nicht an Untugend grenzt, wo lauter Schönheit, lauter Ordnung, lauter Harmonie ist; – mit Einem Wort, ein Land, wie Ihre Moralisten den ganzen Erdboden haben wollen, ist entweder ein Land, wo die Leute keinen Magen und keinen Unterleib haben, oder es muß schlechterdings das Land sein, das uns Teleklides schildert, aus dessen Amphiktyonen ich (wie die schöne Salabanda sehr wohl bemerkt hat) meine Beschreibung genommen habe. Vollkommene Gleichheit, vollkommene Zufriedenheit mit dem Gegenwärtigen, immer währende Eintracht – kurz, die Saturnischen Zeiten, wo man keine Könige, keine Priester, keine Soldaten, keine Ratsherren, keine Moralisten, keine Schneider, keine Köche, keine Ärzte und keine Scharfrichter braucht, sind nur in dem Lande möglich, wo einem die Rebhühner gebraten in den Mund fliegen, oder (welches ungefähr eben so viel sagen will) wo man keine Bedürfnisse hat. Dies ist, wie mich deucht, so klar, daß es demjenigen, dem es dunkel ist, durch alles Licht im Feuerhimmel nicht klärer gemacht werden könnte. Gleichwohl ärgern sich Ihre Moralisten darüber, daß die Welt so ist wie sie ist: und wenn der ehrliche Philosoph, der die Ursachen weiß warum sie nicht anders sein kann, den Ärger dieser Herren lächerlich findet; so begegnen sie ihm als ob er ein Feind der Götter und der Menschen wäre; welches zwar an sich selbst noch lächerlicher ist, aber zuweilen da, wo die milzsüchtigen Herren den Meister spielen, einen ziemlich tragischen Ausgang nimmt.» «Aber was wollen Sie denn, daß die Moralisten tun sollen?» «Die Natur erst ein wenig kennen lernen, ehe sie sich einfallen lassen es besser zu wissen als sie; verträglich und duldsam gegen die Torheiten und Unarten der Menschen sein, welche die ihrigen dulden müssen; durch Beispiele bessern, statt durch frostiges Gewäsche zu ermüden oder durch Schmähreden zu erbittern; keine Wirkungen fordern wovon die Ursachen noch nicht da sind, und nicht verlangen daß wir die Spitze eines Berges erreicht haben sollen, ehe wir hinauf gestiegen sind.» «So unsinnig wird doch niemand sein?» – sagte der Abderiten einer. «So unsinnig sind neun Zehnteile der Gesetzgeber, Projektmacher, Schulmeister und Weltverbesserer auf dem ganzen Erdenrund alle Tage!» – sagte Demokrit. [...]
Zum Beispiel, eine ihrer Lieblingsmaterien war die Frage: «Wie, warum, und woraus die Welt entstanden sei.» «Sie ging aus einem Ei hervor», sagte Einer: «der Äther war das Weiße, das Chaos der Dotter, und die Nacht brütete es aus.» [Fußnote: Um denjenigen Lesern, welche weder den Diogenes Laertius, noch des Deslandes oder Bruckers kritische Geschichte der Philosophie, noch die Kompendien des Herrn Formey oder D. Büschings, gelesen haben, irrige Vermutungen zu ersparen, erinnert der Verfasser, daß alle hier vorkommende Hypothesen sich eines sehr ehrwürdigen Altertums, und zum Teil einer Menge Verfechter und Anhänger rühmen können. Die Meinung unsers Demokrit ist die einzige, welche, vermutlich bloß weil sie die vernünftigste ist, keine Sekte gemacht hat. ] «Sie ist aus Feuer und Wasser entstanden», sagte ein Andrer. «Sie ist gar nicht entstanden», sprach der Dritte. «Alles war immer so wie es ist, und wird immer so bleiben wie es war.» Diese Meinung fand in Abdera wegen ihrer Bequemlichkeit vielen Beifall. «Sie erklärt alles», sagten sie, «ohne daß man nötig hat, sich erst lange den Kopf zu zerbrechen.» «Es ist immer so gewesen», war die gewöhnliche Antwort eines Abderiten, wenn man ihn nach der Ursache oder dem Ursprung einer Sache fragte; und wer sich daran nicht ersättigen wollte, wurde für einen stumpfen Kopf angesehen. «Was ihr Welt nennt», sagte der Vierte, «ist eigentlich eine ewige Reihe von Welten, die, wie die Häute einer Zwiebel, über einander liegen, und sich nach und nach ablösen.» «Sehr deutlich gegeben», riefen die Abderiten, «sehr deutlich!» Sie glaubten den Philosophen verstanden zu haben, weil sie sehr gut wußten, was eine Zwiebel war. «Schimäre!» sprach der Fünfte. «Es gibt freilich unzählige Welten; aber sie entstehen aus der ungefähren Bewegung unteilbarer Sonnenstäubchen, und es ist viel Glück, wenn, nach zehntausendmal tausend übel geratenen, endlich eine heraus kommt, die noch so leidlich vernünftig aussieht wie die unsrige.» «Atomen geb ich zu», sprach der Sechste; «aber keine Bewegung von Ungefähr und ohne Richtung. Die Atomen sind nichts, oder sie haben bestimmte Kräfte und Eigenschaften, und, je nachdem sie einander ähnlich oder unähnlich sind, ziehen sie einander an, oder stoßen sich zurück. Daher machte der weise Empedokles (der Mann, der, um die wahre Beschaffenheit des Ätna zu erkundigen, sich weislich in den Schlund desselben hinein gestürzt haben soll) Haß und Liebe zu den ersten Ursachen aller Zusammensetzungen; und Empedokles hat recht.» «Um Vergebung, meine Herren, ihr habt alle unrecht», sprach der Philosoph Sisamis. «In Ewigkeit wird weder aus euerm mystischen Ei, noch aus euerm Bündnis zwischen Feuer und Wasser, noch aus euern Atomen, noch aus euern Homöomerien, eine Welt heraus kommen, wenn ihr keinen Geist zu Hülfe nehmt. Die Welt ist (wie jedes andre Tier) eine Zusammensetzung von Materie und Geist. Der Geist ist es, der dem Stoffe Form gibt; beide sind von Ewigkeit her vereinigt: und, so wie einzelne Körper aufgelöst werden, so bald der Geist, der ihre Teile zusammen hielt, sich zurück zieht; so würde, wenn der allgemeine Weltgeist aufhören könnte das Ganze zu umfassen und zu beleben, Himmel und Erde im nämlichen Augenblick in einen einzigen, ungeheuern, gestaltlosen, finstern und toten Klumpen zusammen fallen.» «Davor wolle Jupiter und Latona sein!» riefen die Abderiten, nicht ohne sich zu entsetzen, wie sie den Mann eine so fürchterliche Drohung ausstoßen hörten. «Es hat keine Gefahr», sagte der Priester Strobylus: «so lange wir die Frösche der Latona in unsern Mauern haben, soll es der Weltgeist des Sisamis wohl bleiben lassen, solchen Unfug in der Welt anzurichten.» «Meine Freunde», sprach der Achte, «der Weltgeist des weisen Sisamis ist mit den Atomen, Homöomerien, Zwiebeln und Eiern meiner Kollegen von gleichem Schlage. Einen Demiurg müssen wir annehmen, wenn wir eine Welt haben wollen: denn ein Gebäude setzt einen Baumeister oder wenigstens einen Zimmermeister voraus;... [...]
«Demokrit beraubte sich des Gesichtes», sagt man, «damit er desto tiefer denken könnte. Was ist hierin so unglaubliches? Haben wir nicht Beispiele freiwilliger Verstümmelungen von ähnlicher Art? Kombabus – Origenes –» Gut! – Kombabus und Origenes warfen einen Teil ihrer selbst von sich, und zwar einen Teil, den wohl die meisten (im Fall der Not) mit allen ihren Augen, und wenn sie deren so viel als Argus hätten, erkaufen würden. Allein sie hatten auch einen großen Beweggrund dazu. Was gibt der Mensch nicht um sein Leben! Und was tut oder leidet man nicht, um der Günstling eines Fürsten zu bleiben, oder gar eine Pagode zu werden! – Demokrit hingegen konnte keinen Beweggrund von dieser Stärke haben. Es möchte noch hingehen, wenn er ein Metaphysiker oder ein Poet gewesen wäre. Dies sind Leute, die zu ihrem Geschäfte des Gesichts entbehren können. Sie arbeiten am meisten mit der Einbildungskraft, und diese gewinnt sogar durch die Blindheit. Aber wenn hat man jemals gehört, daß ein Beobachter der Natur, ein Zergliederer, ein Sternseher, sich die Augen ausgestochen hätte, um desto besser zu beobachten, zu zergliedern und nach den Sternen zu sehen? Die Ungereimtheit ist so handgreiflich, daß Tertullian die angebliche Tat unsers Philosophen aus einer andern Ursache ableitet, die ihm aber zum wenigsten eben so ungereimt hätte vorkommen müssen, wenn er nicht gerade vonnöten gehabt hätte, die Philosophen, die er zu Boden legen wollte, in Strohmänner zu verwandeln. «Er beraubte sich der Augen», sagt Tertullian [Fußnote: Apolog. C. 46. ], «weil er kein Weib ansehen konnte, ohne ihrer zu begehren.» – Ein feiner Grund für einen Griechischen Philosophen aus dem Jahrhunderte des Perikles! Demokrit, der sich gewiß nicht einfallen ließ weiser sein zu wollen als Solon, Anaxagoras, Sokrates, hatte auch vonnöten zu einem solchen Mittel seine Zuflucht zu nehmen! Wahr ists, der Rat des letztern [Fußnote: Memorab. Socrat. Lib. I. Cap. 3. Num. 14. ] (der Demokriten gewiß nichts unbekanntes war, weil er Verstand genug hatte, sich ihn selbst zu geben) verfängt sehr wenig gegen die Gewalt der Liebe; und einem Philosophen, der sein ganzes Leben dem Erforschen der Wahrheit widmen wollte, war allerdings sehr viel daran gelegen, sich vor einer so tyrannischen Leidenschaft zu hüten. Allein von dieser hatte auch Demokrit, wenigstens in Abdera, nichts zu besorgen. Die Abderitinnen waren zwar schön; aber die gütige Natur hatte ihnen die Dummheit zum Gegengift ihrer körperlichen Reizungen gegeben. Eine Abderitin war nur schön bis sie – den Mund auftat, oder bis man sie in ihrem Hauskleide sah. Leidenschaften von drei Tagen waren das Äußerste, was sie einem ehrlichen Manne, der kein Abderit war, einflößen konnte; und eine Liebe von drei Tagen ist einem Demokrit am Philosophieren so wenig hinderlich, daß wir vielmehr allen Naturforschern, Zergliederern, Meßkünstlern und Sternsehern demütig raten wollten, sich dieses Mittels, als eines vortrefflichen Rezepts gegen Milzbeschwerungen, öfters zu bedienen, wenn nicht zu vermuten wäre, daß diese Herren zu weise sind eines Rates vonnöten zu haben. Ob Demokrit selbst die Kraft dieses Mittels zufälliger Weise bei einer oder der andern von den Abderitischen Schönen, die wir bereits kennen gelernt, versucht haben möchte, können wir aus Mangel authentischer Nachrichten weder bejahen noch verneinen. Aber daß er, um gar nicht oder nicht zu stark von so unschädlichen Geschöpfen eingenommen zu werden, und weil er auf allen Fall sicher war daß sie ihm die Augen nicht auskratzen würden, – schwach genug gewesen sei, sich solche selbst auszukratzen: dies mag Tertullian glauben so lang' es ihm beliebt; wir zweifeln sehr, daß es jemand mitglauben wird.

Wieland: Die Abderiten (vollständiger Text)

Keine Kommentare: