In ihrem Roman Jenny kann Fanny Lewald durch die Nähe zu ihren eigenen Erfahrungen an den Schicksalen der Hauptpersonen deren Gefühlen einen sehr glaubwürdigen Ausdruck verleihen.
Wikipedia: "Fanny Lewald selbst bezeichnete rückblickend das Verfassen ihrer ersten beiden Romane, Clementine und Jenny als relativ leicht: hier „war das Arbeiten in sofern ganz subjektiv, als ich (…) mich selbst in gewisser Weise meiner Natur zum Modell hatte - und auch für die anderen Figuren hatte ich Modelle, die jedoch zum Teil nur insofern benutzte, als ich das Typische an ihnen festhielt“.[14]
Besonders von einem heutigen Standpunkt aus, wo ein weniger enges Verständnis des christlichen Dogmas der Dreieinigkeit herrscht, berühren die Gewissensbisse, die sich die Hauptperson darüber macht, dass sie drei Personen nicht als eine aufzufassen versteht. Das gilt umso mehr, als sie Glauben als "für wahr halten" und nicht als Vertrauen in Gott auffasst.
Denn wenn man Gewissensbisse als im Grunde unbegründet sieht, wirkt es umso stärker, wenn eine Person sehr darunter leidet und sich darum von der Person getrennt fühlt, die ihr die wichtigste in ihrem Leben erscheint.
Auch wenn Kellers Kritik trifft, dass der realistischen Schilderung des Alltagslebens des Lebens zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, so scheint die Konzentration auf die gedankliche und gefühlsmäßige Auseinandersetzung mit der unvollständigen Emanzipation der Juden doch angemessen.
[...] S.160
»Ich habe«, sagte sie, »mein Leben lang an Gott gedacht; ich habe seit meiner frühesten Kindheit, wenn mir etwas besonders Gutes oder Böses begegnete, geglaubt, das komme mir aus seiner Hand; und da mir meine Eltern als seine sichtbaren Stellvertreter auf Erden erschienen, mich vollkommen ruhig und glücklich gefühlt, ohne nach einer besonderen religiösen Erkenntnis zu streben.« »Und Sie fühlen diese innere Zufriedenheit auch jetzt noch?« fragte der Geistliche.
»Ich habe«, sagte sie, »mein Leben lang an Gott gedacht; ich habe seit meiner frühesten Kindheit, wenn mir etwas besonders Gutes oder Böses begegnete, geglaubt, das komme mir aus seiner Hand; und da mir meine Eltern als seine sichtbaren Stellvertreter auf Erden erschienen, mich vollkommen ruhig und glücklich gefühlt, ohne nach einer besonderen religiösen Erkenntnis zu streben.« »Und Sie fühlen diese innere Zufriedenheit auch jetzt noch?« fragte der Geistliche.
[...] S. 163
Er erriet, dass kein inneres Bedürfnis, sondern nur Liebe zu Reinhard der Beweggrund sei, welcher sie dem Christentum entgegenführe, und er tadelte sie deshalb nicht. Ein langes Leben hatte ihn zu der Überzeugung gebracht, die er in früher Jugend mit orthodoxer Strenge bekämpft, dass man Christ sein könne ohne den Glauben an die christlichen Dogmen, und er war, einmal zu dieser Erkenntnis gelangt, ernstlich mit sich zu Rate gegangen, ob diese Ansicht ihn nicht zwinge, sein Amt niederzulegen. Mit dem gewissenhaftesten Eifer hatte er die Lehre Jesu und sich selbst geprüft und sich dadurch in der Überzeugung befestigt, dass Liebe und Duldung bei fortschreitender geistiger Entwicklung die Grundzüge des Christentums und besonders des Protestantismus ausmachten. In diesem Sinne hatte er sein Amt behalten und verwaltet. Er hatte von ganzem Herzen danach getrachtet, unter seiner Gemeinde die Lehre Jesu in ihrer moralischen Reinheit zu verbreiten, und auch die Form heilig geehrt, in der diese Lehre uns übergeben worden ist, ohne jedoch diejenigen fanatisch zu verdammen, die sich ausschließlich an den Geist hielten. Diese bekannte Gesinnung hatte den Vater bewogen, ihn zu Jennys Lehrer zu wählen, womit Reinhard nur auf Zureden seiner Mutter sich einverstanden erklärt.
[...] S. 167
Nach einer einfachen Einleitung sagte er zu ihr, die ersten christlichen Philosophen, welche über die Dreifaltigkeit gedacht, hätten von ihr gesagt: Gott war! Aber außer ihm nichts. Gott dachte sein Bild; und da das Denken und Entstehen bei Gott eins ist, so war dies Bild Gottes vorhanden, ohne selbständiges Wesen zu sein, denn es besteht nur in Gott. Dieses Wesen, für das die deutsche Sprache kein Wort hat, heiße in dem Urtext der Bibel Logos und sei in dem Menschen Jesus Mensch geworden, als die geistigen Geschöpfe der Erde, die Menschen, einer göttlichen Offenbarung gewürdigt werden sollten. Darum nenne sich Christus den Erstgeborenen. Das Band nun zwischen diesem Gedanken Gottes und Gott sei der Heilige Geist. Man könne also Gott allein, ohne Jesus und den Heiligen Geist denken, nicht aber die letzteren ohne Gott – denn nur in ihm sind sie.
[...] S.167
Als Jenny diese Erklärung vernommen hatte, rief sie freudig: »Oh! Sie geben mir das Leben wieder, indem Sie mir sagen, ich dürfe Gott denken ohne Christus und den Heiligen Geist! Das ist der Gott, den man mich von Kindheit an gelehrt hat, der uns alle beschützt. So vermag ich ihn zu glauben.« »Nein, meine Tochter!« wendete der Greis ihr ein, erstaunt über die willkürliche Auslegung, welche Jenny seinen Worten gegeben. »Nein, Sie täuschen sich selbst! Ich habe Ihnen gesagt, dass wir Gott allein zu denken vermögen, aber es konnte unmöglich meine Absicht sein, Ihnen den Glauben an die Dreifaltigkeit Gottes preiszugeben, den unsere Religion lehrt.«
[...] S. 169
Vergebens rang sie danach, zu einer klaren Vorstellung zu kommen, es gelang ihr nicht, und immer wieder tönte ihr das furchtbare »Glaube« ins Ohr, auf das man sie verwies und das sie nicht in sich erzwingen konnte.
[...] S.170
Durch einen Eid will ich mich in wenigen Wochen lossagen vom Glauben meiner Väter, den ich begreife und heilig halte, und zu einer Religion übertreten, gegen welche meine Überzeugung sich noch immer sträubt. Das kann Gott nicht wollen, das wäre Sünde.‹ Aber was konnte sie denn tun, sich zu befreien aus dieser Not? Sich Reinhard entdecken oder irgendjemandem, hieße Reinhard verlieren; denn nur als Christin konnte sie die Seine werden, konnte er ihr angehören. Sie erschien sich unglücklicher als jene Arbeiter, die in Dürftigkeit, aber gewiss ruhigen Geistes neben ihr herschritten. Was hatte sie verbrochen, um so schwer geprüft zu werden? Die sorglose Freudigkeit, mit der sie an Gott geglaubt und das Rechte getan, hatte ihr Reinhard geraubt und sie auf Lehren hingewiesen, die ihr bis jetzt nicht die geringste Beruhigung boten und sie den qualvollsten inneren Kämpfen preisgaben.
[...] S.172
Wie ernst strebte sie, den Gedanken der Dreieinigkeit zu fassen um seinetwillen! Denn sie selbst, sie konnte wie bisher sehr glücklich sein auch ohne diese Erkenntnis – aber ohne Reinhard nicht.
[...] S.185
Es bewährte sich auch an ihm, dass niemand uns so tödlich verletzen, so unablässig zu peinigen vermag als wir selbst, weil niemand so genau die wunde Stelle unserer Seele kennt und sie in jedem Augenblick so tief und sicher zu treffen weiß als eben wir. Darum sollte man sich vor keinem Feinde so sehr hüten als vor seinen eigenen Schwächen und Phantasien, mögen sie auch noch so nahe mit der Tugend verwandt sein! Jedem Feinde tritt man mit Härte, mit aller Macht des Geistes entgegen, und eine Art von Schadenfreude nebst der Lust am Siege sind uns vortreffliche Hilfstruppen gegen den Feind außer uns. Wer hat aber Selbstbeherrschung genug, mit offenen ehrlichen Waffen gegen sich selbst zu kämpfen? Wen freut es, über ein verhätscheltes Kind des eigenen Wesens zu siegen, das wir doch immer lieben, eben wie ein Vater sein Kind, wenngleich er nicht blind für dessen Fehler ist?
[...] S. 194
»Jene Stunde, die ich mit aller Wonne der Liebe erwartet hatte, ist herangekommen und zur Trennungsstunde für uns geworden – das höchste Glück, das Bewusstsein, Ihre Liebe zu besitzen, wird zum Schmerz, denn auch auf Sie fällt die Pein des Scheidens. – Zürnen Sie mir um deshalb nicht. Mehr als mein eigener Schmerz peinigt mich der Gedanke, dass Sie mit mir leiden, dass meine Liebe Sie nicht zu schützen, nicht zu beglücken vermag. Ich könnte eine Welt hassen, in der Herzen, die zusammengehören, getrennt werden, weil das eine so, das andere anders zu seinem Schöpfer betet, der beide füreinander erschuf, der sie, wie uns, zusammenführte. Jahrtausende hat der Fluch über meinem Volke geschwebt, nun hat er auch mich getroffen. Ich wähnte, es sei an der Zeit, frei zu werden von jenen Fesseln, die blinder Pfaffenglaube der ganzen Menschheit auferlegt. Ich hatte Dich gesehen, ich liebte Dich und ich hoffte, Du solltest die Aurora werden, welche ein neues Morgenrot der Aufklärung für unser ganzes Land verkündete. Denn nicht allein den Juden trifft der Wahnwitz dieses Hasses, er schlägt in gerechtem Undank selbst die Mutter, die ihn erzeugt. Auch Du, die Christin, leidest unter ihm. Aber wer hieß Dich, einen Juden zu lieben? Warum wolltest Du lieben, was die Deinen hassen? Die Deinen, welche sich zu einer Religion der Liebe bekennen! – Oh! Christus wusste, wie der Hass zerfleischt, entmenscht, darum predigte er Liebe, und die Unwürdigen begriffen nur den Hass, vor dem er sie gewarnt.
[...] S. 196
Der Staat, der es erlaubt, dass Menschen ohne alle innere Zusammengehörigkeit einander den Eid der Treue vor dem Altare schwören, der es duldet, dass die Jungfrau mit gebrochenem Herzen in die Arme eines Mannes geführt wird, welcher vielleicht noch gestern an der Brust einer Buhlerin des Bundes lachte, den er heute beschwört, der Gesetze gibt, diese fluchenswerten Ehen zu schützen derselbe Staat will es nicht dulden, dass zwei Herzen, die in reinstem Einklang schlagen, sich verbinden, weil sie auf verschiedene Weise Gott für das Glück danken würden, das er ihnen durch ihre Liebe gewährt. – Das sind die Gesetze, vor denen man Achtung verlangt! Nur eine Zuflucht bietet sich uns dar, wenn Du es vermöchtest, Dich von allen Vorurteilen zu befreien, wenn Du Dich entschließen könntest, mir unter dem Schutze der Meinen in ein Land zu folgen, das unsere Ehe zulässt, und dort die Meine zu werden; wenn ich Dich im Triumphe zurückführen dürfte und den Verblendeten zeigen dürfte, wie die Liebe frei ist vor dem Urteil eines weiseren Staates; wenn Du durch ein Wort uns den versagten Himmel zu öffnen bereit wärest – ein Leben voll der wärmsten, ergebensten Liebe sollte es Dir lohnen; Dir, aus deren Hand mir die Liebe und Freiheit zugleich gegeben würden.
[...] S. 197
So nimm denn wenigstens das heilige Versprechen, Du Geliebte, dass ich mit keinem Worte versuchen werde, das Urteil, wie Du's auch fällst, zu ändern. Was Dein liebendes Herz vermag oder nicht vermag, was Dein gerader Sinn Dir zu tun gebietet, das soll auch meine Richtschnur sein. Nur versage mir die Gunst nicht, Dich noch einmal zu sehen. Und somit Lebewohl!«
[...] S. 201
Er bewunderte Clara, aber er konnte ihre Entsagung kaum begreifen. Ja, einen Augenblick lang wagte er zu glauben, Claras Gefühl könne an Stärke dem seinigen nicht gleich sein; sie müsse ihn weniger lieben als er sie. Das ist eine Ungerechtigkeit, deren man sich nur zu oft schuldig macht. Weil das Weib besser liebt, weil es nur an den Schmerz des Geliebten, nicht an sich selbst denkt und sich in dem Glück des andern vollkommen vergessen kann, schilt man es kalt und tröstet sich über den Gram, den man verursacht, mit dem alten Gemeinplatz, das Weib sei leidensfähiger als der Mann. Die Schmach fühlt man gar nicht mehr, den Frauen, dem sogenannten schwachen Geschlecht, eine Stellung im Leben angewiesen zu haben, die sie von Jugend auf an Leiden und Entsagungen gewöhnt; man denkt nicht an jene schweren Stunden, in denen sie genötigt sind, sich zu beherrschen, wenn ihr Herz gepeinigt wird. Wer sieht die Tränen, die oft aus der innersten Seele hervorbrechen möchten, während ein Männerarm die schöne Gestalt umschlingt und mit ihr durch die fröhlichen Reihen des Walzers dahinfliegt? Ihr seht nur die schimmernden Tautropfen auf dem Rosenkranz in ihren Locken, nur die Perlen, die den schönen Nacken zieren, und ahnet nicht, dass hinter dem feuchten Blau des Auges, das euch entzückt, Perlen und Tautropfen hängen, viel kostbarer und reiner als der Tand, den ihr bewundert. Ihr preiset das süße Lächeln des holden Mundes, der nur zu oft traurig lächelt über ein Dasein, das so grelle Gegensätze in sich schließt. Kommt dann einer einmal zu der Erkenntnis des Schmerzes, den solch ein heiteres Frauenantlitz birgt, dann schreit er über die Verstellung, die Unwahrheit des Geschlechts und vergisst, dass jeder, der ein Mädchen traurig sieht, ohne sich zu bedenken, auf eine unglückliche Liebe schließt und mit roher Hand das stille Geheimnis an das Licht ziehen möchte. Ein Frauenherz, in dem einmal der Strahl wahrer Liebe gezündet, erkennt seinen Besieger in dem Manne, fühlt sich ihm untertan, als Sklavin seines Willens, und möchte doch aus angeborenem Schamgefühl nicht dem Auge jedes Ungeweihten die Fessel zeigen, durch die es gebunden wird, die oft blutig drückt und selbst zerbrochen unvertilgbare Narben zurücklässt. Geliebt werden ist das Ziel der Frauen. Ihr Ehrgeiz ist Liebe erwerben; ihr Glück lieben, und die Liebe, nach der sie gestrebt, nicht erlangen können, unglücklich lieben, eine Kränkung, welche nur die edelsten Frauennaturen ohne Schädigung zu tragen vermögen. So beruht die ganze Entwicklung der weiblichen Seele auf dem Verhältnis zum Manne; und man darf das Weib nicht der Falschheit anklagen, wenn es den geheimnisvollen Prozess seines geistigen Werdens schamhaft der Welt verbergen möchte.
[...] S. 229
Und wieder geleitete er Clara zu ihrem Wagen, wie an dem letzten Abende, den sie in der Stadt zusammen verlebt; aber gegen den dumpfen Gram, den beide jetzt empfunden, musste ihnen der Schmerz jener Stunden wie ein Glück erscheinen. Denn in jenem Schmerze lag noch Bewegung und Leben; heute aber fühlten sie die Entsagung wie ein Leichentuch über ihre Zukunft gebreitet und schieden wortlos, hoffnungslos.
[...] S. 229
Wie der Dichter, namentlich in seiner Jugend, die Geschöpfe seines Geistes kaum von den um ihn her lebenden Menschen zu unterscheiden vermag; wie Kinder sich spielend so fest in die erfundenen Verhältnisse ihrer Puppen hineindenken, dass sie unwillkürlich Erfundenes und Wirkliches vermischen und nicht mehr trennen können, so ging es in gewisser Art Jenny mit ihrer religiösen Erkenntnis. Nachdem sie vergebens versucht, die Symbole des Christentums mit dem Verstande zu erfassen, bemächtigte sich einst plötzlich ihre Einbildungskraft derselben, und sie wurde mit Überraschung gewahr, dass sie vieles sich denken und in seinen Folgen und in seiner Veranlassung ausmalen, ja es bis zu einer deutlichen Vorstellung in sich ausbilden könne, woran ihr der Glaube fehlte. Christus, der eingeborene, gekreuzigte und wiederauferstandene Sohn Gottes, wurde für sie zu einer so festen Gestalt in seinen Wundern, wie es ihr früher irgendein Gott des Olymps gewesen, wie es ihr noch jetzt Goethes göttlicher Mahadö war, der die sich opfernde Geliebte mit sich verklärt aus den Flammen emporhebt. So wie sie, trotz der historischen Kenntnis des mittelaltrigen Johann Faust, diesen gänzlich in der unsterblichen Gestalt des Goetheschen Faust verloren hatte, weil der letztere allein ihr durch die poetische Schönheit des Gedankens als wirklich erschien, so bildete sie aus dem Menschen Jesus, den die Apostel beschrieben, jenen mystischen Christus in sich aus, wie ihn die späteren christlichen Philosophen als Teil der Dreieinigkeit dachten. Sie wähnte, als diese Erscheinung in einer bestimmten Form in ihr lebte, endlich an Christus und seine Wunder zu glauben, in dem Sinne, den Reinhard verlangte, so dass sie mit vollem Vertrauen von sich zu behaupten wagte, jetzt sei ihr nicht bloß die christliche Moral, sondern die Menschwerdung Christi zu einer vollkommenen Wahrheit geworden. Wie bei allen Trugschlüssen stimmte plötzlich alles zu ihren Ideen, nachdem sie willkürlich einen Anfangspunkt für ihr System gefunden hatte, den sie als richtig annahm, obgleich er es in der Tat nicht war. Die sichere Ruhe, mit der sie sich hinterging, täuschte auch Reinhard und den sie unterrichtenden Pastor, obgleich der letztere über eine so unerwartete Veränderung der Ansichten bei seiner Schülerin sehr überrascht zu sein schien.
[...] S. 231
Als sie nun jenes Glaubensbekenntnis niederschreiben wollte, das sich eigentlich streng an die im »Glauben« enthaltenen Dogmen binden musste; als sie ihr Nachdenken fest auf den Punkt richtete, fing das Luftgebäude ihrer künstlichen Überzeugung zu schwanken an, und die Schöpfung einer regen Phantasie zerfloss vor dem festen Blick ihres Verstandes in ein Nichts. Sie bemerkte das mit Schrecken. Sie hatte Ruhe und Heiterkeit gewonnen durch die Täuschung, der sie sich unbewusst hingegeben; was frommte ihr eine Einsicht, die ihr beides schonungslos raubte, die sie in das alte Chaos des Zweifels stürzte und, wenn sie wahr sein sollte, sie von Reinhard trennte, weil ihr Übertritt zum Christentum bei diesen Zweifeln zu einer Lüge wurde? Vergebens wollte sie die Vorstellungen in sich zurückrufen, die ihr vor wenig Stunden geläufig und klar gewesen waren; es gelang ihr nicht. Ebenso wie es dem Erwachsenen nicht gelingt, jene Empfindung in sich hervorzuzaubern, die wir als Kinder alle haben, wenn wir im Wagen dahinfahrend wähnen, Bäume und Häuser an uns vorüberfliegen zu sehen, während wir stillstehen.
[...] S.232
Einen Moment lang mag man noch hoffen, sich gegen die Wahrheit zu verblenden, eine liebgewonnene Täuschung in sich festhalten zu können – die Wahrheit siegt doch immer. Es ist ihr Prüfstein, dass sie siegen muss, und auch Jenny sträubte sich jetzt vergebens gegen die Gewalt der Wahrheit. Die Überzeugung, dass der Geist des Christentums die Hauptsache in demselben sei, war es allein, die ihr einen Ausweg für ihre Besorgnisse zeigte, einen Ausweg, vor dem ihre Redlichkeit sich scheute. Was aber sollte sie tun? Jetzt, nachdem sie unaufhörlich ihren Glauben an die christlichen Dogmen behauptet hatte, plötzlich erklären, sie habe sich getäuscht und sie könne nichts davon glauben? [...] S. 232
Sie schauderte vor der Wahl zwischen der Wahrheit und der Liebe; sie fühlte, dass alle sie bedauern, alle mit ihr leiden würden, falls sie sich wirklich entschließen müsste, den Geliebten ihrer Überzeugung zu opfern. Alle würden es beklagen, selbst Joseph, der sie ungern Christin werden sah, und Erlau, der sie liebte – alle – nur Therese nicht. Therese allein konnte sich darüber freuen, [...]
S. 233
S. 233
Das sollte und durfte aber nicht geschehen; Therese sollte nicht ernten, wo Jenny mit ihrem Herzblute gesät hatte, und wieder und wieder ging sie daran, alles durchzudenken, was ihr je von religiösen Ansichten bekannt geworden war, bis sie entschieden zu der Überzeugung gelangte, die Dogmen als eine Nebensache zu betrachten, und, um Reinhards Meinung zu schonen, endlich ein Glaubensbekenntnis zustande brachte, das in Spitzfindigkeit dem ältesten Jesuiten Ehre gemacht hätte. Mit großem Geschick hatte sie vermieden, jener Lehren von der Kindschaft Christi, der Erlösung durch seinen Tod und der damit gegebenen Genugtuung zu erwähnen, ohne irgend Zweifel [...]
S. 234
S. 234
Was tat es ihrer Liebe oder ihrem häuslichen Glücke, wenn Jenny den Gekreuzigten für den ersten unter den Menschen statt für Gott hielt, solange sie nur seine Lehren befolgte? Indessen führten alle diese Gedanken sie doch nur immer auf den einen Punkt zurück, dass Reinhard es nimmer zugeben würde, sie Christin werden zu lassen, wenn sie ihm die Wahrheit bekenne: dass sie ihn verliere, wenn sie es nicht werde. Das machte sie verzagt, und diese Kämpfe ermüdeten sie so sehr, dass sie aus Schwäche Mut zu einer Trennung von dem Geliebten fühlte, wie Feiglinge zu Selbstmördern werden würden, wenn im Moment der Entscheidung nicht eben ihre Feigheit sie von der Tat zurückhielte.
[...] S.234
Claras ruhige, ergebene Entsagung leuchtete ihr als Beispiel vor; sie wollte nicht kleiner sein als ihre Freundin, denn auch sie war sich bewusst, das Unvermeidliche würdig zu tragen und eher das Glück als die Achtung vor sich selbst entbehren zu können.
[...] S. 236
Obgleich nur ein paar Monate seit der Abreise der Pfarrerin verflossen waren, fand sie das Verhältnis ihres Sohnes zu Jenny wesentlich verändert und fast umgekehrt. Reinhards Eifersucht hatte sich gelegt, da Erlau dieselbe nicht mehr erregte; mit den äußern Verhältnissen seiner Zukunft, mit dem Reichtum seiner Braut hatte er sich ausgesöhnt, je mehr er sich überzeugte, dass die ganze Familie denselben zwar in seinem Werte begriff, aber doch nicht überschätzte oder damit absichtlich prunkte; und da nun auch Jennys religiöse Erkenntnisse sich seinen Ansichten angeschlossen hatten, war er vollkommen glücklich und zu einer inneren Zufriedenheit gelangt, die ihn seit seiner Verlobung geflohen hatte.
[...] S. 244
Wieweit Therese bei dieser Unterredung sich selbst über die Beweggründe ihrer Handlungen getäuscht hatte, wieweit sie absichtlich dabei zu Werke gegangen, möchte schwer zu entscheiden sein. Ob sie wirklich an Jennys Liebe für Reinhard zweifelte, an eine Neigung für Erlau glaubte, ob nur der Wunsch, Reinhard und Jenny vor Reue zu bewahren, allein sie antrieb, der Pfarrerin jenen Bericht zu erstatten, das lassen wir dahingestellt sein. Jedenfalls aber war sie sich der eigensüchtigen Motive, die zweifelsohne in ihrer Seele sich regten, nicht deutlich bewusst, so dass sie die Lobsprüche der Pfarrerin mit ruhigem Gewissen annahm und sich Jenny gegenüber in einer stillen Größe erschien, welche es ihr leichter machte. sich fügsam und nachgebend gegen sie zu betragen.
[...] S. 284
Und leider war Josephs Vermutung nur zu richtig. Je glücklicher sich Jenny in Reinhards Liebe fühlte, umso mehr demütigte sie der Gedanke, unwahr gegen ihn zu sein. Von frühester Kindheit an hatte man ihr die Lüge als etwas so Unedles, so Verächtliches dargestellt, dass sie sich nur mit Entsetzen zu gestehen vermochte, wie tief sie sich in dieselbe verwickelt habe.
<Die Seitenzählung entspricht der Kindle-Ausgabe, nicht der der ZENO-Ausgabe.>
[...] S. 285
Als aber der Zweifel in ihr erwachte; als sie mit aller Anstrengung und dem Aufwande von tausend Scheingründen in sich die Lehren Reinhards und des Pastors zu begründen strebte; da, sagte sie sich jetzt, da habe sie gewusst, dass sie niemals werde glauben können, was sich gegen ihre Vernunft sträube; und dass sie dennoch, trotz dieser inneren Gewissheit, Christin geworden sei, dass sie ihren Vater, Reinhard und sich selbst habe hintergehen wollen, das war ein Verbrechen, um dessentwillen sie sich verächtlich vorkam, eine Sünde, die sie sich nicht vergeben konnte. ›Aber was ist eine Sünde?‹ fragte sie sich dann wieder. ›Wenn ich Reinhard nicht anders glücklich machen konnte als durch eine Unwahrheit; wenn ich selbst ohne sie elend werden musste, kann Gott ein Unrecht strafen, das aus großer Liebe begangen wurde?‹
[...] S. 286
Nicht nur um glücklich zu machen, sondern um es zu werden, war sie Christin geworden; es lag Selbstsucht auch in dieser Handlung, und die Bemerkung, dass es ihr fast zur Gewohnheit geworden, sich nach ihrem Bedürfnis zu täuschen, vermehrte ihre Seelenpein in einem Grade, der ihr jedes ruhige Urteil raubte. Eine Furcht vor der Strafe Gottes bemächtigte sich ihrer Seele, und sie, die nicht an die mystischen Lehren des Christentums zu glauben vermochte, überließ sich fast willenlos dem Aberglauben des Alten Testaments, das Gott einen Rächer nennt, das Böse strafend bis in das fernste Glied. ›Auch Reinhard‹, sagte sie sich, ›ziehe ich mit in mein Verderben; auch ihn wird der Strudel erfassen, wenn ich ihm nicht mehr verbergen kann, dass ich nicht glaube. Was soll er dann beginnen? Er wird mich lieben und mir doch nicht verzeihen können! Auch er wird in den heillosen Kampf zwischen seiner Liebe und seinem Glauben geraten; auch auf sein teures Haupt werde ich das Elend herabbeschwören, das mich nicht ruhen lässt, und das wird die erste Strafe sein, mit der Gott meine Sünden rächt.‹
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