10 Februar 2020

Fanny Lewald: Jenny

Fanny Lewald: Jenny (Wikipedia)

Dieser Roman unterscheidet sich ganz wesentlich von dem zuvor vorgestellten: "Diogena".
"Jenny" ist ein Roman, in dem in Einfühlung in möglichst lebenswahre Gestalten das Problem der Judenemanzipation am Anfang des 19. Jahrhunderts behandelt wird. Dazu dienen ausführliche Gespräche und die Handlung, die beide aufzeigen, dass die Juden damals zwar in der Gesellschaft zugelassen waren, aber noch nicht akzeptiert.
Daraus spricht das Lebensgefühl von Fanny Lewald, die als begabte junge emanzipierte jüdische Frau so gar nicht ins konventionelle Frauenbild passte. Immer wieder lässt sie ihre Personen davon sprechen, dass als wertvollste weibliche Eigenschaft Fügsamkeit gilt. Geistige Interessen und gar selbständige Ansichten entwickeln ihre positiven Frauengestalten zwar in hohem Maße, doch leiden sie darunter - wie offenbar Fanny selbst -, dass das nicht geschätzt wird. Jennys Bruder Eduard hat in abgeschwächter Form das gleiche Problem. Lewald sieht also Judenemanzipation und Frauenemanzipation  als verwandte Probleme. 

"[...] S.46:
Das ist das Geheimnis der Liebe, dass sie zwei Herzen verbindet zu einem und diese absondert unter Tausenden; dass das Gefühl der erwiderten Liebe nicht der Worte, kaum des Blickes bedarf, um sich deutlich zu machen. Es ist, als ob die Liebe wie ein flüchtiger Äther dem einen Herzen entströme, um das andere zu erfüllen und zu beleben. Aber nur das geliebte, geöffnete Herz empfindet das Lebenswehen, das für es ausgeströmt wird. Die übrigen berührt der Strom von jenseits nicht, und sie atmen ruhig die kalte Erdenluft, ohne zu ahnen, wie schnell und leicht und freudig zwei Herzen in ihrer Nähe klopfen.
Das ist das Geheimnis der Liebe, dass sie zwei Herzen verbindet zu einem und diese absondert unter Tausenden; dass das Gefühl der erwiderten Liebe nicht der Worte, kaum des Blickes bedarf, um sich deutlich zu machen. Es ist, als ob die Liebe wie ein flüchtiger Äther dem einen Herzen entströme, um das andere zu erfüllen und zu beleben. Aber nur das geliebte, geöffnete Herz empfindet das Lebenswehen, das für es ausgeströmt wird. Die übrigen berührt der Strom von jenseits nicht, und sie atmen ruhig die kalte Erdenluft, ohne zu ahnen, wie schnell und leicht und freudig zwei Herzen in ihrer Nähe klopfen.
[...] S.56:
Ich strebe täglich, diese heitern Vorbilder einer fröhlichen Vorzeit zu erreichen, aber kommt man dazu? Kaum hat man sich verliebt und schwelgt in Wonne, so erzählen sie von Aktien zu einer Eisenbahn oder von Entwürfen zu Kleinkinderschulen, in denen lauter Prüde und Pedanten erzogen werden sollen. Denkt man daran, sein Herz frei zu machen, um es bald wieder gefangen zu geben, so soll man einer Korporation zur Befreiung der Negersklaven oder zur Erleichterung der Hunde beitreten; und kein Mensch denkt dabei, dass mich zum Beispiel dies viel mehr ennuiert als es irgendeinen Neger langweilt, Zuckerrohr zu tragen oder einen Hund, seinen Karren zu ziehen.«
[...] S.60:
Er liebte ihre reiche, schöne Natur, ihr lebhaftes Gefühl und wurde es doch nur zu häufig mit Betrübnis gewahr, dass Jenny infolge ihrer Erziehung und der Verhältnisse, in denen sie aufgewachsen war, eine Richtung genommen hatte, die seiner ganzen Seele widerstrebte, die auch Eduard missbilligte, die aber zu ändern ihren beidseitigen Bemühungen bis jetzt nicht gelungen war. Reinhard glaubte an ihr Herz, er liebte sie, wie ein kräftiges Gemüt zu lieben vermag – und doch fühlte er eine Scheidewand zwischen sich und der Geliebten; doch konnte er die bange Ahnung nicht unterdrücken, es stehe ein Etwas trennend zwischen ihm und ihr. Jetzt, bei Jennys letzten Worten, erwachte das Gefühl aufs Neue und heute umso schmerzlicher in ihm. Trüb und verstimmt nahm er, als sich die Gesellschaft trennte, von der Geliebten Abschied, trüb und verstimmt schritt er an seiner Mutter Seite heim, während Jenny in ihrem Zimmer Tränen der bittersten Reue vergoss. Sie wusste, was sie ihm angetan hatte, aber so hatte sie heute doch nicht von ihm zu scheiden geglaubt. – Er hatte keinen Blick für sie gehabt, und jetzt wusste er es doch, dass sie ihn liebte.
[...] S. 62:
Von den Eltern nicht mehr als notdürftig beachtet, geneckt und geplagt von den eigensinnigen Launen des Bruders, gewöhnte sich Clara schon in erster Kindheit an eine Fügsamkeit und Anspruchslosigkeit, die später der edelste Schmuck der schönen Jungfrau wurden. Nicht ohne Stolz sah der Vater auf die Bewunderung, die das erste Auftreten Claras in der Gesellschaft erregte. Die wilden Leidenschaften der Jugend hatten sich bei ihm gelegt, sein Sohn, der Mutter Liebling, war ihm fremd geblieben; er vermisste eine freundliche Heimat, die Anhänglichkeit einer Familie, und so konnte es nicht fehlen, dass der Tochter demütige Ergebenheit, ihr kindliches Anschmiegen ihn fesselten. Er liebte sie, wie er zu lieben imstande war. Sie war sein Stolz, die Krone seines Besitzes, und alle seine Wünsche gingen darauf hinaus, diese Tochter so glänzend als möglich versorgt zu sehen.
[...] S.64:
Für Clara begann mit des Vetters Anwesenheit ein neues Leben. Mutter und Bruder überboten sich in tausend Freundlichkeiten gegen sie, man bemühte sich, sie in dem vorteilhaftesten Lichte erscheinen zu lassen und war jetzt plötzlich bereit, ihren Ansichten und Wünschen zu schmeicheln, weil man sie zu ähnlicher Fügsamkeit zu überreden wünschte. Von Natur weich und hingebend, fühlte Clara sich zum ersten Mal in ihrem Leben wahrhaftig glücklich durch das Wohlwollen, von dem sie sich umgeben sah; und da auch auf sie das Glück seinen verschönenden, belebenden Einfluss zu machen nicht verfehlte, war es nur natürlich, dass William seine Cousine sehr liebenswürdig fand.
[...] S.70:
Sie nannte William in ihrem Herzen einen guten, aufgeklärten Menschen – aber Eduard war mehr als das. Sie musste an sein klares, kluges Gesicht denken, an seine freie Stimme, und sein jüdisches Gesicht kam ihr fast schön vor.   ›Ob Christus wohl auch ähnliche Züge gehabt haben mag‹, fragte sie sich, und immer und immer wieder an ihn denkend, sank sie endlich in einen festen Schlaf, in dessen Träumen William und Eduard und der Heiland, wie die alten Bilder ihn uns zeigen, ineinander flossen und aus dem sie erst am frühen Morgen neu gestärkt erwachte.
[...] S.78:
Was band ihn an Moses und seine Gesetze? Es sträubte sich bei diesen ebenso viel gegen seine Vernunft als bei den Lehren Jesu. Warum nicht einen Aberglauben gegen den andern vertauschen und mit der Geliebten vereint zu dem allmächtigen Wesen beten und rein vor seinen Augen wandeln? – Aber war es denn allein der Glaube, den er zu verleugnen hatte? War es nicht auch das Volk, in dem er geboren war, von dem er sich losreißen musste? Das uralte Volk, das in tausendjährigen Kämpfen seine Selbständigkeit zu wahren und damit seine innere Mächtigkeit zu bekunden gewusst hat?
[...]  S.79:
Wie mag ich mein Glück, das Glück des Einzelnen, so hoch schätzen, während mein ganzes Volk nicht glücklich ist!
[...]  S. 80:
Ein Jeder hat es gewiss erfahren, wie in einem Kreise befreundeter Menschen sich allmählich eine Epoche vorbereitet, in der unvorhergesehene Ereignisse eine gänzliche Umgestaltung der Verhältnisse hervorrufen. Es ist, als ob ein jeder sich mit einem Male bewusst geworden sei, was er wolle und müsse; und wo noch vor kurzer Zeit nur Keime vorhanden waren, steht schnell emporgewachsen eine reife Ernte da. Aber dem Erscheinen solcher Zeitpunkte gehen in den Familien, wie in der Natur bei der Ernte, heiße, schwere Tage voraus, in denen die Luft drückend und unheilschwer über uns liegt und sich in gewaltsamen Gewitterstürmen abkühlt. Wir fühlen den herannahenden Orkan, eine Unruhe überfällt uns, wir zagen vor dem entscheidenden Momente und sehnen ihn doch ungeduldig herbei, um in der erfrischten Atmosphäre frisch und frei aufatmen zu können.   Ein solcher Zeitpunkt war für den Kreis von Menschen herangerückt, in dessen Mitte diese Erzählung uns führt. Jeder der Beteiligten fühlte, dass ein entscheidender Schritt geschehen müsse, und keiner hatte den Mut, ihn zu tun.
[...]  S. 81:
Sie wünschte und fühlte in sich die Macht, ihn zu entschädigen für alles, was fremde Unduldsamkeit an ihm verbrochen hatte; sie wollte ihm zeigen, dass sie wenigstens die Vorurteile der Menge nicht teile. Darum hatte sie tausend jener kleinen Aufmerksamkeiten ihm gegenüber, in denen weibliche Liebe so erfinderisch ist, und die, allen andern unbemerkbar, sicher den Weg in das Herz dessen findet, dem sie gelten.
[...]  S. 84:
Hughes fühlte eine wachsende Neigung für sie, der er sich sorglos hingab, da er wusste, dass sie die Wünsche beider Familien für sich habe. Er gehörte zu jenen ruhigen, trefflichen Menschen, die bei wahrem Gefühle doch keiner Leidenschaft fähig sind.
[...]  S. 90
Du wirst hoffentlich ein Mensch werden nach dem Herzen Gottes, aber du wirst niemals Christin sein noch Jüdin. Wie wir Juden jetzt in religiöser Beziehung denken, gibt es keine positive Religion mehr, die für uns möglich ist, und wir teilen mit Tausenden von Christen die Hoffnung, dass eine neue Religion sich aus den Wirren hervorarbeiten werde, deren Lehren nur Nächstenliebe und Wahrheit, deren Mittelpunkt Gott sein muss, ohne dass sie einer mystischen Einhüllung bedürfen wird.«   Joseph hielt inne, auch Jenny schwieg. Endlich fragte sie leise: »Und was soll aus mir werden? Was soll ich denn beginnen, wenn ich nicht glauben kann?«
[...]  S. 93
Kapitel 8.  
 Der Doktor kam aus dem Hornschen Hause. Man hatte dort von einem Treibhause gesprochen, in dem eine Menge der schönsten Blumen gerade jetzt in voller Blüte ständen, und Hughes hatte dabei die Bemerkung gemacht, er halte das Treibhaus von Eduards Vater für eines der reichsten und schönsten, die er jemals gesehen habe. Er erzählte von all den verschiedenen Kamelien, Azalien und Hyazinthen. Clara schien sich dafür lebhaft zu interessieren, und Eduard wagte endlich den Vorschlag, sie möge seinen Eltern die Freude machen, sich selbst durch den Augenschein davon zu überzeugen. Hughes fand die Idee vortrefflich; er war gleich bereit, seine Cousine zu begleiten, und erhielt dazu nach einigen Einwendungen die Erlaubnis seiner Tante.   Die Kommerzienrätin nämlich, die ihren Plan niemals aus dem Gesichte verlor, fingen Williams häufige Besuche im Meierschen Hause zu beunruhigen an. Es bangte ihr vor der Möglichkeit, Jenny könne der Magnet sein, der ihn dort hinziehe, und sie wünschte lebhaft, die Verlobung Claras mit William, die ihr sehr am Herzen lag, so schnell als möglich geschlossen zu sehen. Darum war ihr jede Veranlassung willkommen, die Clara und Hughes zusammenführte, besonders diese, bei welcher der junge Mann als Beschützer des Mädchens auftrat; und es war ihr lieb, wenn sich die Leute gewöhnten, das Paar als verlobt zu betrachten, weil nur zu häufig das Urteil der Welt uns erst zu Entschlüssen bestimmt, die wir sonst vielleicht gar nicht oder doch viel später fassen würden.   Eine größere Freude hätte die Kommerzienrätin aber weder ihrer Tochter noch Eduard bereiten können. Beide erglühten vor Lust, als ihre Blicke sich begegneten. Die Verabredung wurde für den nächsten Morgen getroffen, und Eduard eilte nach Hause, um seine Eltern davon in Kenntnis zu setzen.
[...]  S. 97
Sie ist geboren für diesen Schmuck! Aber sie kann ihn nicht entbehren; ich vermag ihn ihr nicht zu geben und würde doch erröten, mein Weib in einer Pracht zu sehen, die sie nicht mir allein verdankte, die ich nicht mit ihr teilen könnte, ohne von den Wohltaten eines Dritten zu leben. Und wenn Jenny in einem jener Anfälle rücksichtslosen Witzes jemals ein Wort sagte, das mich daran erinnerte, sie sei die Reiche mir gegenüber – gerade, weil ich sie liebe – bei Gott, ich glaube, ich könnte sie hassen!«   »Das wird Jenny nie«, begütigte die Pfarrerin, »und in der Beziehung würde ich sie ruhig an deiner Seite sehen. Was mir an ihr missfällt, ist das jüdische Element in ihr. Der Witz dieses Volkes ist eigentümlich und fürchterlich, er hat mich oft erschreckt, gepeinigt, wenn es mir in ihrem Vaterhause wohl war, wie es einem bei so braven, gebildeten Menschen wohl werden muss. Der Witz der Juden hat etwas von dem Stilett des Banditen, der aus dem Verborgenen hervorstürzt, den Wehrlosen umso sicherer damit zu treffen. Er ist die letzte Waffe des Sklaven, dem man jede andere Waffe gegen seinen Unterdrücker genommen hat, die feige Rache für erduldete tiefempfundene Schmach.«   »Mutter! Jennys Witz ist nicht so schlimm; er ist kindisch, schnell und treffend. Aber wenn ich, in törichter Eifersucht aufgeregt, hart über Jenny urteilte – vergiss es, liebe Mutter!« bat der Sohn, »denn ich habe Jenny Unrecht, sehr Unrecht getan. Ich selbst glaube nicht, was ich sagte; es war Leidenschaft, Zorn, was aus mir sprach, nicht meine Überzeugung, nicht mein Herz, das Jenny liebt – und, nicht wahr, auch du hast Jenny lieb?« fragte Reinhard, und die Pfarrerin schwankte, was sie beginnen sollte. Sie sah, dass ihr Sohn zu sehr an der Geliebten hing, um selbst aus dem Munde seiner Mutter ein Wort des Tadels gegen sie ertragen zu können.
[...]  S. 98
»Ich habe Jenny sehr lieb«, sagte sie, »und die kindliche Freundlichkeit, die Hingebung, die sie mir immer zeigt, verdienen meinen wärmsten Dank. Klug, schön und gut, wie sie ist, darf jede Mutter stolz auf eine solche Tochter sein.« – Reinhards Gesicht leuchtete vor Freude, und ein feuriger Händedruck lohnte seiner Mutter diese Anerkennung. »Doch«, fuhr die Pfarrerin fort, »täusche dich nicht, mein Sohn! Jenny hat Fehler, für die sie nicht verantwortlich ist, weil sie gewissermaßen national sind, und weil die Mehrzahl der Jüdinnen sie mehr oder weniger mit ihr teilen. Die Lebhaftigkeit, die Rührigkeit der Juden wird bei der großen Masse zur unerträglichen Manier. Ihr Sprechen, ihre Gebärden sind karikiert. Davon ist der Gebildete bis zu einem gewissen Grade frei, die unruhige Lebhaftigkeit indessen bleibt ein hervorstechender Zug der Juden. Sie mag vortreffliche Geschäftsmänner hervorbringen, der Weiblichkeit aber tritt sie zu nahe. Jenny belebt eine ganze Gesellschaft; sie ist täglich neu; man hat Freude an der Unterhaltung mit ihr, nur Ruhe findet man nicht bei ihr.
[...]  S.  99
»Therese ist kälter; hat nicht so viel Geist«, wandte Reinhard ein, »und was du von den Jüdinnen sagst, trifft auch nicht immer zu. Ist Jennys Mutter nicht die liebenswürdigste, vortrefflichste Frau? Und diese beständige Lebhaftigkeit, die du tadelst, wieviel Freude muss sie dem Manne gewähren! Jennys Geist...«   »Das ist es, was ich fürchte!« sagte die Pfarrerin. »Jennys Geist ist unerbittlich klar; er lässt sich nie von ihrem Herzen täuschen. Das ist es, was mich besorgt macht. Diesen geistreichen Mädchen aus den jüdischen Familien, die gleich Jenny erzogen werden, fehlt es fast immer an gutem weiblichen Umgange: mehr unterrichtet als die Frauen ihrer nächsten Umgebung, überschätzen sie sich zu leicht; das Beisammensein mit Mädchen, die Sorge für die täglichen Bedürfnisse des Hauses hört auf, ihnen Freude zu machen; sie ziehen die Unterhaltung der Männer vor, welche mit Vergnügen solch einen kleinen Überläufer empfangen. Im Kreise der Männer machen ihr Geist und ihre Aufklärung rasche Fortschritte; die neuen Begriffe, der große Maßstab der Männer werden an alles gelegt; das Mädchen schämt sich der engen Verhältnisse, die  [...] 
S. 102:
Die Warnungen seiner Mutter, ihre Missbilligung hatten nur dazu gedient, ihn an Jennys Vorzüge zu erinnern, und widerstrebend versprach er, das Meiersche Haus ein paar Tage zu meiden und Jenny nicht zu sehen.    
Kapitel 9.   
Der nächste Morgen, ein Sonntag, brachte nach trüben Tagen mit Wind und Schneegestöber, wie der [...]  
S. 104:
Clara fühlte sich ganz heimisch in dem Kreise, als der Vater hinzukam und man sich zu dem reich versehenen Frühstück niedersetzte, währenddessen die Unterhaltung in zwei Teile zerfiel. Hughes hatte Briefe aus London erhalten, teilte manches Neue daraus mit, und es ergab sich infolgedessen unter den Herren eine Unterhaltung, die zwischen geschäftlichen und politischen Interessen sich hin und her bewegte und an der auch Eduard Anteil zu nehmen gezwungen war, obgleich er neben Clara saß und mehr auf ihr Gespräch mit den Damen achtete, als er zugestehen wollte. Sie musste erzählen, wie sich der Unfall zugetragen, der sie so lange an ihr Zimmer gefesselt hatte; sie konnte nicht genug ausdrücken, wie dankbar sie dem Doktor für seine große Sorgfalt sei, wie seine Freundlichkeit, sein Trost ihr die Stunden des Schmerzes verkürzt hätten. Die Mutter und Jenny waren hocherfreut über diese Äußerungen. Aber den Vater machte die Wärme nachdenklich, mit welcher Clara von seinem Sohne sprach.   Plötzlich klopfte es an die Türe. Man rief »Herein«, musste aber den Ruf zum zweiten und dritten Male wiederholen, ehe Steinheim mit Mephistos Worten: ›So recht! Du musst es dreimal sagen‹, seine Mutter am Arme, in das Zimmer trat. Man stand auf, die alte Frau Steinheim zu bewillkommnen. Sie wollte aber durchaus nicht leiden, dass man sich ihretwegen derangiere und bat mit schnarrender Stimme und jüdischem Jargon, gar keine Notiz von ihr zu nehmen, da sie nur auf wenig Augenblicke gekommen sei.
 [...]  S. 113:
»Das ist aber der Fehler aller engen Kreise«, meinte Clara, die mit feinem Gefühl dem Geliebten jede unbequeme Erörterung ersparen wollte. »In unsern kleineren und größeren Zirkeln wiederholt sich, was Sie eben rügten. Das darf man nicht so strenge tadeln, denke ich.«   »Und doch tut das alle Welt bei den Juden!« rief Eduard; »bei ihnen, denen man nicht einmal die Möglichkeit lässt, aus ihrem engen Kreise herauszutreten, so gern sie es möchten. Ein Teil der gebildeten Juden kann sich dreist mit jedem andern Gebildeten messen, er würde, wie in Frankreich, sich längst der Masse der Nation angeschlossen haben, er würde auch in Deutschland längst nationalisiert sein, wenn ihn sein Äußeres, seine dunklere Farbe und das schwarze Haar nicht auf den ersten Blick von den Deutschen unterschieden zeigten. Dies fremde Äußere erinnert unaufhörlich an eine verschiedene Abkunft und gibt, vom Pöbel ausgehend, dem Judenhass immer neue Nahrung, von dem wohl die wenigsten so frei sind, dass sie den Juden nicht den Mangel an gesellschaftlicher Bildung zum ächtenden Vorwurf machten. Und man brauchte sie doch nur zu emanzipieren, um die Unebenheiten von ihrer Außenseite abzuschleifen. Freilich ist es gar bequem zu sagen: Die Juden haben einen hässlichen Dialekt, hässliche Manieren. – Woher das aber kommt, fragt niemand! – Dass es so ist, reicht ja hin, den Juden auszuschließen von der Gesellschaft, und mehr braucht es nicht, mehr will man nicht.«   Eduard war erregter, als er selbst glaubte, Clara betrübt, und selbst Hughes nicht frei von Befangenheit. Doch bezwang er sich und sagte: »Allerdings trifft die Deutschen der Vorwurf, nur in den Juden die Nationalität nicht anzuerkennen, während sie sonst jeder fremden Eigentümlichkeit mehr als nötig nachsehen. Erwarten wir das Beste von der Zukunft, und wenigstens lassen Sie uns die Gegenwart meines Mühmchens mit fröhlicherer Unterhaltung feiern.
 [...]  S. 122:
Da fand sie, wie sie glaubte, Reinhard und Therese in zärtlich heimlichem Gespräche. Ihre beste Freundin, der Mann, der ihr alles war, hatten sie, wie sie glaubte, verraten. Das war zu viel für ein so junges, heißes Herz; sie eilte hinaus, sie war ihrer selbst nicht mächtig.
 [...]  
»Meine Therese?« rief Jenny und lachte bitter auf – »Du bist Reinhards und nicht mein! Fort! – Gehe zu ihm, aber gleich! – Und sage ihm, wie elend ihr mich macht!«   Nun fiel plötzlich die Binde von den Augen der ahnungslosen Therese. Sie fasste Jenny in ihre Arme und fragte: »Liebst du denn Reinhard?«   »Oh, unaussprechlich! So unaussprechlich, als ich elend bin, so wie du ihn liebst, so wie er dich!«   Kaum hatte Jenny unter heißen Tränen diese Worte hervorgebracht, da flog Therese zur Tür hinaus, die Treppe hinunter, suchte Reinhard und zog den Überraschten mit sich fort. In derselben Eile führte sie ihn zu Jenny und trat mit ihm vor sie hin, ohne dass Reinhard den Vorgang begriff.   »Jenny weint um Sie, Reinhard!« rief Therese ebenfalls weinend, »sie ist eifersüchtig auf mich!«, und ehe sie noch vollendet, sank Reinhard vor dem Ruhebette nieder und Jenny lag an seiner Brust.   So vergingen selige Minuten.
 [...]  S. 126:
Eduard bekannte, er habe seit längerer Zeit eine Neigung Jennys und Reinhards zueinander vermutet, habe aber absichtlich geschwiegen, weil dergleichen Verhältnisse wie eine Aeols-Harfe wären, die man bei der leisesten Berührung hell erklingen mache; und er habe andrerseits die Überzeugung gehegt, dass die Eltern keinen Grund irgendeiner Art haben könnten, dieser Neigung entgegen zu sein, da ihnen allen Reinhard als einer der tüchtigsten Menschen bekannt sei.
 [...]  S. 127
»Da irrst du!« entgegnete der Vater. »Ich achte Reinhard und erkenne seine Vorzüge an, aber er lebt in einer Ideenwelt. Solche Menschen sind mir bedenklich und taugen nicht für die Ehe. Weil er mit der höchsten Anstrengung und allem Ernste daran arbeitet, die Vollkommenheit, die er im Auge hat, sein Ideal eines Menschen, zu erreichen, darum glaubt er sich berechtigt, auch an andere die gleichen Ansprüche zu machen. So wie er das Leben, die Liebe auffasst, sind sie nicht, und die Ehe, die sittliche Feststellung der Verbindung der beiden Geschlechter, bleibt trotz der höchsten Liebe, die zwei treffliche Menschen verbindet, immerdar hinter dem zurück, was einem jungen Manne oder Weibe als Ideal vorschweben mag! Der Ruhige, der Besonnene findet sich darin und tröstet sich mit dem Guten, das sich ihm in der Ehe offenbart, über das, was nicht zu erreichen ist – das aber, fürchte ich, will und kann Reinhard nicht. Weil er Jenny liebt, erscheint sie ihm geeignet, das Ideal einer Hausfrau, einer Gattin zu werden, wie er sie sich träumt; er wird es deshalb auch verlangen, dass sie sein Ideal verwirklicht und, wie ich ihn beurteile, nur zu geneigt sein, ihr aus den Unvollkommenheiten des Menschen überhaupt einen persönlichen Fehler zu machen. Mit einem Worte, Reinhard hat eine Art Überspannung in seinen Gefühlen, die mich für Jennys Glück besorgt macht.«   Eduard konnte nicht leugnen, dass die Bemerkung seines Vaters Wahrheit enthalte, verteidigte den Freund aber lebhaft und meinte, sein Vater verfalle selber in den Fehler, den er an Reinhard rüge; er verlange, dass Reinhard vollkommen sein solle.
 [...]  S. 149:
So sehr sie früher darauf gehalten hatte, auch in Kleinigkeiten ihren Willen zu haben, so fügsam wurde sie jetzt. Einzelne unbedachte Äußerungen ihrer Mutter ließen sie vermuten, dass ihre Eltern die Verlobung mit Reinhard als ein großes Opfer betrachteten, welches sie dem Glücke ihres Kindes gebracht hatten. Das bewog Jenny, den Ihren nachzugeben, soweit es irgend möglich, und machte andrerseits sie noch zärtlicher gegen Reinhard; denn es tat ihr leid um seinetwillen, dass er den Eltern nicht der erwünschteste Sohn unter allen Männern auf der Welt, wie ihr der geliebteste war. Mit jedem Tage, den sie bei seiner Mutter verlebte,
 [...]  S. 154:
Die Kommerzienrätin erschrak so sehr, als die kaltblütige Frau es überhaupt vermochte. [...]

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