Die Grotte der Egeria
Man spricht immer von der fortschreitenden Entwicklung der reinen Idee der Menschheit und Menschlichkeit in unseren Tagen, von gerechter Würdigung des Guten und Edlen! Mich dünkt jedoch, daß wir in vielen Beziehungen nicht sonderlich weitergekommen sind und daß die Alten in ihrem heidnischen Humanismus oft viel milder und viel gerechter waren als wir.
Wir urteilen noch viel zu sehr nach vorgeschriebenen Regeln, ohne an die Ausnahmsfälle zu denken. Wir messen abstrakte Begriffe, wie Tugend, Pflicht und Ehre, noch immer nach einem festen Maße, als ob es Dinge oder Lebensmittel wären, deren relativen Wert das wohlgeeichte Gewicht und Maß der Polizeibehörde bestimmen. Daß jeder Standpunkt im Leben, daß jedes Verhältnis besondere Pflichten, eine besondere Ehre und eine ganz persönliche Tugend bedingen, das könnte man längst zum Vorteil der Menschlichkeit begriffen haben, wenn nicht ein großer Teil der Menschen viel mehr Lust am Verdammen als am Verehren hätte.
Am ungerechtesten aber gehen in dieser Beziehung die Frauen untereinander zu Werke. Es ist, als ob keine sich hoch genug auf dem Piedestal ihrer eigenen Heiligkeit und Tugend glaubte, ohne sich auf den Nacken einiger gedemütigten Weiber zu stellen. Die Frauen sind dahin gekommen, sich aus ihrem Glück eine Tugend zu machen. Sie schmücken sich mit der Gunst des Zufalls, die ihnen ein ruhiges Gemüt, sorgliche Erziehung, brave Eltern und einen geliebten Gatten erteilte, wie mit einem wohlverdienten Heiligenschein, vor dem jene Unglücklichen, welche mit heißer, liebedurstiger Seele, mit glühendem Temperament traurigen Verhältnissen erlagen, beschämt die Augen schließen müssen. Sieht man diesen herzlosen, weiblichen Hochmut, diese gleisnerische Prüderie in unserer Zeit zum Gesetz der Sitte erhoben, so empört sich das Gefühl dagegen, und man schämt sich, wenn man wirklich ein weiches, erbarmungsvolles Frauenherz in der Brust hat, vor jenen Unglückseligen, die kalte Selbstsucht ohne Prüfung verdammt.
Das Heidentum, das überall so reich an poetischen Allegorien ist, hat uns auch für diese Verhältnisse ein anmutiges Beispiel hinterlassen. Die Alten verachteten eine Lais, eine Buhlerin; aber sie erhoben Egeria, die Geliebte des Numa Pompilius, die sich keusch den Blicken des Volkes entzog und in verborgener Stille den König zu allem Großen und Erhabenen begeisterte, zu dem göttlichen Range einer unsichtbaren Nymphe. Es gibt Gestalten der Mythe, Züge in der Geschichte, die so lieblich, so schön sind, daß das Herz daran zu glauben begehrt, wenn auch alle gelehrten Forscher gegen ihre Wahrheit streiten. Die innere, notwendige Wahrheit hat auch ein heiliges Recht; und oft meine ich, man leiste uns eigentlich einen recht schlechten Dienst, wenn man uns den Glauben an Gestalten zerstört, welche für uns die Träger erhebender Ideen geworden sind. Mich betrübte es, als ein Archäologe mir in Rom weitläufig beweisen wollte, die Grotte der Egeria könne nicht echt, nicht jene Grotte sein, in der die Nymphe wohnte, weil das netzförmige Mauerwerk aus der Kaiserzeit, nicht aus den Tagen der Könige herrühre. Solche Erläuterungen muß man bald wieder zu vergessen suchen, um sich den Zauber nicht zu zerstören, der in unserer Phantasie gewisse Gestalten und Orte umschwebt und der oft mehr Belebendes und Anregendes besitzt als die trockne, kalte Wahrheit des eigentlichen Wissens.
Die Nymphe Egeria war mir von je ein schönes Bild weiblicher, hingebender Liebe gewesen, die untergeht in dem Geliebten, keinen Ruhm, keinen Ehrgeiz kennt als den, ihn groß und gut zu sehen; und selbst Tadel und Verkennung nicht achtet, weil ihr das Glück des Geliebten der höchste Lohn ist. Es zog mich zu ihrer Grotte, zu dem stillen Asyl der Liebe, wie es den Gläubigen zieht zu einem Gnadenbilde. Liebe ist ja die höchste Gnade für den, der sie empfängt, wie für den, der gewürdigt wird, sie spenden zu können! [...]
Und der Geist einer sorglichen Frauennatur scheint noch jetzt die Grotte zu umschweben, pflanzend und jätend, schaffend und sorgend zu freundlichem Empfang des geliebten, des einzigen Gastes. Woher sonst dies grüne, lauschige Plätzchen in der sonnenverbrannten Campagna? Woher dies trauliche Asyl für süßes Beieinandersein? Die Blumen blühen so frisch an der Quelle, die Bäume flüstern so leise, und die schwanken Blätter der Canna wiegen sich so träumerisch müde im warmen Sonnenschein, als gelte es, ein liebend Paar in seligen Schlummer zu wiegen oder es zu verbergen vor dem Auge der Welt in paradiesischer Einsamkeit. Es ist der Geist Egeriens, der das Wunder wirkt.
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