18 April 2020

Theodor Storm: Renate

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Aus heutiger Sicht erscheint mir die Tragik etwas zu sehr konstruiert, das es für mich unglaubhaft wirkt, dass jemand, der so verliebt ist, dass er statt zum sterbenden Vater zu gehen, zu der Geliebten geht, kurz darauf dem Vater, nachdem der schon gestorben ist, das Versprechen gibt, diese nie zu heiraten.
Da scheint mir Storms Ablehnung jeder Religion zu stark in die Charakterzeichnung hineinzuspielen. Dennoch empfinde ich die Verwirrung der Gefühle als solche als gut gestaltet.
Damit man sich ein eigenes Bild machen kann, folgt hier ein Textausschnitt und im Anschluss daran ein Link zur vollständigen Erzählung.

Textausschnitt:
"[...] Da ich dann vor den Altar trat, brannten auf selbigem schon die Kerzen in den großen Leuchtern, und aus den Gestühlten drängten sie sich heran, Mann und Weib, Alt und Jung; doch indeß ich den Leib des Herrn austheilete und den Kelch an aller Lippen reichte, rief es unaufhörlich in meinem Herzen: ›Herr, bringe auch sie, auch sie zu deinem Tische!‹ Aber über dem Gesang der Gemeinde schwebte noch immerfort der silberne Ton ihrer Stimme. Da plötzlich, als schon die Letzten sich dem Altar naheten, verstummte er, und ich vernahm einen leichten Schritt die Stufen des Emporstuhles herabkommen. – Aber noch waren andre, so auch des Heils begehrten; ein Greis und eine Greisin, von ihren Enkeln unterstützet, kamen herangewankt und schauten mit blöden Augen zu mir auf; und da ich ihnen den Kelch bot, vermochten ihre zitternden Lippen den Rand desselben kaum zu fassen.
Sie wurden hinweggeführet; und dann stund sie, Renate, vor mir; blaß und mit gesenkten Augen, in schwarz Gewand gekleidet, ein schwarzes Käpplein auf den braunen Haaren. Nach fast zwei Jahren sahe ich sie hier zum ersten Male wieder; ich zögerte, denn mein Herz wallete mir über; und indem ich dann die Hostie aus der Patene nahm und zwischen ihre Lippen legte, betete ich: »Herr, mache meine Seele heilig!« Dann erst sprach ich: »Nimm hin! Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wurde!«
Ich wandte mich zum Altare und nahm den Kelch. Da ich aber selbigen an ihre Lippen brachte, sahe ich, wie ihr schönes Antlitz sich verzog und wie sie schauderte ob dem Trunke, der darinnen war. Da sprach ich die Einsetzungsworte: »Das ist mein Blut, das für euch vergossen wurde!« Und sie neigete ihr Antlitz in den fast geleerten Kelch; ob ihre Lippen ihn berühret, vermochte ich nicht zu sehen. Da ich aber aus weß Ursach, vermag ich nicht zu sagen – auf die Seite blickte, gewahrete ich die Hostie in dem Schmutz des Fußbodens; ihre Lippen hatten sie verschmähet, und die Spitze ihres Schuhes trat das Brot, so als den Leib des Herren sie empfangen hatte.
Mein Gebein erzitterte, und fast wäre der Kelch aus meiner Hand gestürzet. »Renate!« rief ich leise; in Todesangst brach dieser Ruf aus meinem Munde: »Renate!«
Wohl sahe ich, daß ein Zittern über die schöne Gestalt des Mädchens hinlief; dann aber, ohne aufzusehen, ihr weißes Sacktuch in die Hände pressend, wandte sie sich ab, und bei dem Schlußgesange der Gemeinde sahe ich sie langsam den langen Steig hinabschreiten.
– – Wie ich mein Meßgewand abgeleget und in meiner Eltern Haus zurückgekommen, vermöchte ich kaum zu sagen; wußte nur, als ich daheim an meinem Pulte stand, daß auch wohl ein junger Prediger, der ich war, nicht mit also ungestümen Schritten über den Kirchsteig hätte dahinstürmen sollen. An meines Vaters Krankenbette vermochte ich itzo nicht zu treten; ich stützte den Kopf in beide Hände, und mit geschlossenen Augen spähete ich nach dem Weg der Pflicht, den ich zu gehen hatte.
Aber nur eine kurze Weile; dann schritt ich den wohlbekannten Fußsteig nach dem Hof hinab. Wieder, wie vor Jahren, schrien die Elstern oben in den Bäumen; und da ich links vom Flur in das Zimmer eingetreten war, schien es mir weiter und einsamer, als ich es zuvor gesehen. Dennoch hatte ich Renaten sogleich erblickt; sie saß drüben auf ihrem Platz am Fenster, den Kopf gesenkt, die Hände vor sich hin gefaltet. Da ich dann näher trat, erhub sie sich langsam, als ob sie müde sei; und in dem langen schwarzen Gewande, das sie itzo trug, erschien sie mir größer und fast gleich einer Fremden. Als ich aber stehen blieb und sie mit ihrem Namen anredete, rief auch sie: »Josias!« und streckte beide Arme gegen mich.
War es die Liebe, so Gott zwischen Mann und Weib gesetzet, die aus ihrer Stimme klang, oder war es ein Hülferuf, ich vermochte das nicht zu erkennen; aber ich zog sie nicht an meine Brust, wozu mein Herz mich mit gewaltigen Schlägen drängte, sondern beharrete auf meinem Platz und sprach: »Du irrest, Renate; es ist nicht Josias, es ist der Priester, der hier vor dir stehet.«
Da ließ sie die Arme sinken und sagte dumpfen Tones: »So sprecht! Was habt Ihr mir zu sagen?«
Und wie sie mich itzt aus dem ernsten Antlitz mit ihren großen Augen ansah, da schrie es in mir auf: ›Du kannst sie nimmer lassen; in diesem Weibe ist all dein irdisch Glück!‹ Aber ich rief zu meinem Gott, und er half mir, bei meinem heiligen Amte die weltlichen Gedanken in die Tiefe bannen.
»Renate!« sprach ich; »wer war es, der dich zu der Todsünde versuchte, daß du den Leib des Herrn von deinen Lippen spieest? Nenne seinen Namen, daß wir mit Gottes Engeln ihn besiegen!«
Aber sie wiegete nur das Haupt. »O die armen alten Leute!« rief sie. »Ich weiß, es war eine Sünde! Aber da ich ihr Antlitz sahe, von den greisenhaften Gebresten so ganz entstellt, da schauderte mich, daß ich mit ihnen aus einem Kelche trinken sollte, und die heilige Hostie entfiel meinen Lippen in den Staub. Bete für mich, Josias, daß ich dieser Schuld entlastet werde!«
Ich glaubte ihren Worten nicht. ›So‹, dachte ich, ›will der Versucher dir entrinnen‹, und sprach laut: »Vor einem Schenkenglase mag dir ekeln; aber der Kelch des Herrn ist rein für alle, denen er geboten wird! Ein höllisch Blendwerk hat dein Aug verwirret; und es kommt von dem, mit welchem auch dein Vater sein unselig Spiel getrieben, bis Leib und Seele ihm dabei verloren worden.«
Bei diesen meinen Worten stürzete sie auf ihre Kniee und hub die Arme auf und schrie: »Mein Vater, o mein armer Vater!«
»Ja, schreie nur um ihn, Renate!« sprach ich. »Und möge unseres Gottes Allbarmherzigkeit in seinen tiefen Pfuhl hinunterleuchten!«
Sie sahe zu mir auf und sprach mit fester Stimme: »Die wird ihm leuchten, Josias, so gut wie allen andern, die ein jäher Tod ereilet!«
Ich aber rief: »Das ist des Teufels Hochmuth, der von deinen Lippen redet! Demüthige dich gegen den, bei dem alleine Rettung ist, und schütte dein Herz aus vor mir, der hier stehet an seiner Statt!« Und da sie hierauf schwieg, so sprach ich weiter: »Da du mit unserer alten Margreth nächtens auf dem Moore gingest, wen hast du angerufen, daß er dir von deinem Vater Kunde brächte, und was war es, das aus der leeren Luft herab mit schrecklichem Geheul dir Antwort gab?«
»Ich weiß von keinem Geheul«, entgegnete sie; »aber du, Priester Gottes« – und ein trotzig Feuer brannte in ihren schönen Augen –, »so ich wüßte, daß dort Kunde wär, zur Stund noch ging' ich und schriee meine Noth ins Moor hinaus und fragete nicht viel, von wannen mir die Antwort käme!«
»Renate!« rief ich. »Exi immunde spiritus!« und spreizete beide Hände ihr entgegen. »Bekenne! Bekenne! Mit welch argen Geistern hast auch du dein Spiel getrieben?«
Sie hatte sich vom Boden aufgerichtet; und da ich sie anschaute, war ein kalter Glanz in ihren Augen. Sie strich mit den Händen über ihr Gewand und sagte: »Ich verstehe nicht, was Ihr redet; aber mir ist, als sei das große Gemach hier so düster, wie es nimmer noch gewesen.« Und da in diesem Augenblicke an die Thür gepocht ward, welcher ich den Rücken wandte, und selbige sich aufthat, setzete sie hinzu: »Tretet näher, Margreth! Euer Herr ist hier!«
Ich aber wandte mich um und sahe unsre alte Margreth vor mir stehen; die schaute mich gar ernsthaft an und sprach nach einer Weile: »Kommet heim, Herr Josias; denn Euer lieber Vater will nun sterben, und ihn verlangt nach einem letzten Wort mit Euch.«
Da war mir, als bräche der Boden unter mir zusammen, und ich verließ Renaten und eilete nach meines Vaters Sterbekammer. – Da ich eintrat, saß er laut redend in seinen Kissen, aber seine Stimme däuchte mir fremd, gleich als hätt ich nimmer sie gehöret.
»Es ist dein Großvater, von dem er redet«, raunete mir meine Mutter zu.
»Er sieht mich nicht, Mutter!« entgegnete ich leise.
»Nein, Josias, er ist bei denen, die ihm zu Gottes Thron voraus gegangen.«
Und mein Vater sahe mit glänzenden Augen vor sich hin und redete weiter: »Lang, gar lange habe ich für ihn gepredigt – Josias thäte das gar gerne auch für mich –, denn er wurde sehr alt; sein leiblich Augenlicht war erloschen, und der Schall der Welt drang nur verworren noch zu seinem Ohre. Aber da er seine Stunde nahen fühlte, hieß er mich und meine Schwestern ihn in die Kirche führen, und wir geleiteten ihn auf die Kanzel. Da wandte er sein Antlitz rings umher und grüßte unmerklich mit der Hand; und sein silbern Haar hing über seine blinden Augen. Er meinete, es sei Sonntag und die Gemeinde sei versammelt. Er irrte; die Schwestern waren oben an seiner Seiten, und drunten war nur ich allein. Aber der Greis auf der Kanzel erhub seine Stimme, und sie scholl stark in der leeren Kirchen; denn er nahm Abschied und redete erschütternd zu allen, die hier nicht zugegen waren.«
Der Kranke hatte die Arme über das Deckbett hingestrecket, und sein abgezehrtes Antlitz leuchtete wie von innerem Lichte. »Ja, mein Vater«, rief er, »aus der Ewigkeit herüber höre ich deine Stimme, wie du sprachest: ›Und so wie einst herauf, so führe an deiner Hand mich jetzt hinab von dieser Stätte! Aber, mein Gott und Herr, du hellest das Dunkel vor mir; gleich meinen Vätern werden Sohn und Enkelsöhne von deinem Stuhle aus dein Wort verkünden. Laß sie dein sein, o Herr! Nimm ihren schwachen Geist in deiner Gnaden Schutz!‹«
Nach diesen Worten schwieg mein lieber Vater; und als nun meine Mutter ihre Arme um ihn schlang, da sank sein Haupt zurück auf ihre Schulter. – Aber er erhub es wieder; und da sie zu ihm redete: »Mein Christian, spare deine Kräfte und ruhe nun«, da schüttelte er leise mit dem Haupt und sagte nur: »Nachher, nachher, Maria!« Dann sahe er liebevoll, aber mit fast flehentlichen Blicken zu mir auf und sprach langsam und wie mit großer Mühe: »Du kommst vom Hof, Josias; ich weiß es. Der Bauer ist nicht mehr, und möge Gott ihm ein barmherziger Richter sein – aber seine Tochter lebt! Josias, das rechte Leben ist erst das, wozu der Tod mir schon die Pforten aufgethan!«
Die Hand des Sterbenden haschete ins Leere nach der meinen, und da ich sie ihm gegeben, hielt er sie sehr fest in seinen magern Fingern.
Noch einmal begann er: »Wir sind ein alt Geschlecht von Predigern; die ersten von den Unsern saßen zu Dr. Martini und Melanchthons Füßen. Josias!« – er rief meinen Namen, daß es gleich Schwertesschnitt durch meine Seele ging – »vergiß nicht unseres heiligen Berufes! – – Des Hofbauren Haus ist keines, daraus der Diener Gottes sich das Weib zur Ehe holen soll!«
Der Odem des Sterbenden wurde stärker; aber seine Stimme sank zu einem Flüstern, und da wir lautlos horchten, kamen wie fernhin verhallend noch die Worte: »Versprich – – das Irdische ist eitel – –«
Darauf verstummete er ganz; seine Finger löseten sich von meiner Hand, und der Friede des Herrn ging über sein erbleichend Angesicht. Ich aber neigete mich zu dem Ohr des Todten und rief: »Ich gelobe es, mein Vater! Mög die entfliehende Seele noch deines Sohnes Wort vernehmen!« [...]"
(Theodor Storm: Renate, Zeno.org, S.121-127)

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