03 April 2020

Fanny Lewald: Das italienische Lotto

"In Rom werden der Sonntag und die Feiertage sehr heilig gehalten. Man besucht die Kirchen, und alle Läden sind geschlossen, denn es wäre Sünde, Handel und Wandel zu treiben am Feiertage. Nur der Papst, der sich alle Sünden selbst vergeben darf, treibt seine merkantilischen Geschäfte auch an Feiertagen, und wenn alle Magazine geschlossen bleiben, sind die Tabakhandlungen und die Läden, in denen man die Nummern zum Lotto besetzt, geöffnet. [...]
Das Lotto ist ganz die alte Zahlenlotterie, wie sie früher auch in Deutschland das Verderben des Volkes war. Es besteht aus neunzig Nummern. Fünf davon werden gezogen. Der Spieler besetzt drei Zahlen, welche zwischen eins und neunzig liegen. Sind in den fünf gezogenen Nummern die drei vom Spieler besetzten enthalten, so gewinnt er das Große Los, viele tausend Scudi. Zwei Nummern – eine Ambe – gewinnen zwölfhundert Scudi. Eine einzelne Nummer nützt gar nicht, und man sieht, daß die Aussicht zu gewinnen sehr gering ist. Dafür ist der Vorteil der Regierung, den sie aus dieser demoralisierenden Steuer erntet, aber auch um so sichrer, und sie bietet alles auf, ihn recht groß und das Lotto recht verlockend für das Volk zu machen. In jeder Straße sieht man über drei, vier verschiedenen Häusern Aushängeschilde mit den Worten: Prenditorio per il Lotto.  [...]
Wenn der Handwerker, der Tagelöhner zehn, zwölf Stunden rastlos gearbeitet hat, und das tut er in Italien ebenso emsig und für ebenso geringen Lohn als im Norden, wenn er müde und erschöpft nach dem Ave-Maria in seine dunkle Wohnung schleicht mit dem Bewußtsein, der folgende Tag und alle kommenden werden schwere Arbeitstage sein, dann fahren den Corso entlang die prächtigen Equipagen der Reichen, die sich in der Abendkühle vom Müßiggange des Tages erholen. Vor den Cafés halten sie still. Der heimkehrende Arme sieht bei dem blendenden Lichte, das aus den erleuchteten Sälen fällt, wie die Reichen bequem daliegen in den wohlgepolsterten Wagen; wie die betreßten Diener das Eis herausbringen,… [...]
Das Lotto ist seine Hoffnung, und um die Möglichkeit, einst schwelgen zu können mit den Seinen, opfert er das Brot,… [...]
Ein andermal sagte ich morgens scherzend zu der Frau, die den Dienst im Hause verrichtete: »Padrona, mir hat die ganze Nacht von Blumen geträumt, was bedeutet das?« »Man muß die Smorfia nachsehen«, entgegnete sie. »Die Smorfia? Was ist das?« »Sie wissen nicht, was die Smorfia ist? Aber wie hilft man sich denn in Ihrem Lande beim Lotto? Die Smorfia ist ja eben das Traumbuch, nach dem man die Zahlen besetzt.« »Haben Sie eine Smorfia?« »Gewiß! Die hat jeder so gut wie ein Meßbuch – bisogna aver una –, man muß eine haben.« Ich bat sie, mir das Buch zu bringen. Ihr Mann war ein Neapolitaner, dort hatte er die Smorfia gekauft; unter der Zensur und dem Schutze der neapolitanischen Regierung ist dieses Diktionär des Wahnsinns gedruckt. [...]
Das Buch beginnt mit einer Vorrede an die »Liebhaber« (dilettanti) des Lottospiels, in der ihnen die hohe Nützlichkeit und die durch Erfahrung bewährte Zuverlässigkeit der Smorfia bewiesen wird. Dann fängt das Diktionär an, von dessen Vollständigkeit folgender Beweis. » Abba. Abbate secolare 6 – abbate regolare 43 – abbate qualunque 38 – abbate predica 45 – abbate con sposa 44 – abbate travestito 89 – abbate al confessionale 70 – abbate benedice 47 – abbate in funzione 18 – abbate fugge 14 – abbate con stola 87 – abbate morto 31« usw.
Freilich ist ein Abbate ein Wesen, das man in Rom so häufig sieht als in Deutschland Sperlinge, aber man muß auch gestehen, daß der Verfasser der Smorfia sein Kapitel gründlich durchgearbeitet hat. In gleicher Ausführlichkeit geht das Register 180 Seiten fort.
Dann kommen:
Erstens. Die Monatstage angegeben, an denen es gut ist zu spielen. Zweitens. Eine Kabbala der Sibylla mit Beispielen. Drittens. Der goldene Schlüssel oder der wahre Schatz Fortunas. Dies letztere Kapitel hebt also an: »Mittelst dieses kostbaren Buches kann ein jeder für wenig Geld große Reichtümer erlangen. Ich selbst bin davon ein leuchtendes Beispiel.« So, in immer gleichem Wahnsinn, geht das ganze Buch vorwärts. Man glaubt das Hexen-Einmaleins des Goetheschen »Faust« zu hören, und mich überkam ein tiefer Zorn gegen die Regierungen in Italien. Nicht genug, daß sie aus fluchwerter Habsucht ihre Untertanen – die Kinder, deren Väter sie sich nennen – plündern und sie durch das Lotto in ein Verderben stürzen, dem sie sie entreißen sollten; nicht genug, daß sie durch die strengste Zensur jede Aufklärung des Volkes unmöglich machen; nein! sie geben noch Privilegien auf Bücher, die diesen Raub systematisch befördern und die Nacht des Aberglaubens noch dunkler machen. Von jedem Einfuhrartikel der andern italienischen Staaten wird, als ob es fremde Länder wären, eine Steuer erhoben. Die Staaten sind getrennt, solange es den Vorteil des Volkes betrifft. Aber zum Schaden des Volkes reichen alle italienischen Fürsten sich brüderlich die Hände, und obgleich man in Rom weder Florentiner noch Neapolitaner Seidenstoffe unbesteuert erhält, so liest man überall: »Heut wird die Lotterie für Toscana gezogen!« – »Heute bis Mitternacht kann man für Lucca setzen.« – »Heute endet das Lotto für Neapel.« Wie mag nur ein Fürst, der solches Unrecht duldet, sich mit seinem Gewissen abfinden? [...]
Auf Monte Citorio liegt ein großer Palast, welcher der Regierung gehört. Er hat in der Mitte einen Balkon, der an jenem Tage mit rotem Purpur behängt und mit einigen abgenutzten Goldborten ärmlich verziert war. Ein roter Baldachin schützte ihn vor der Glut der Mittagssonne, denn das Lotto scheut, wie gesagt, das Tageslicht nicht. Mit dem zwölften Glockenschlage beginnt die Ziehung. Eine Masse Volks war auf dem Platze versammelt, Handwerker, Carrettieri, Campagnarden, Gemüseverkäufer; aber die Mehrzahl sah zerlumpt und weniger wohlgekleidet und genährt aus, als es sonst diesen Ständen eigen ist. Alte Männer und Frauen des Bürgerstandes in schäbiger, vernachlässigter Kleidung waren in besonders großer Zahl vorhanden. [...]
Etwa eine Viertelstunde vor zwölf Uhr trat das Lotteriedirektorium auf den Balkon. Ein Monsignore im Violettgewande, das weiße Chorhemde übergeworfen, war die Hauptperson dabei. Er stand in der Mitte, rechts und links zwei schwarzgekleidete Männer und ein Knabe in der weißen Dominikanertracht. Endlich schlug es zwölf Uhr. Ein wiehernder Jubel der Straßenjugend begrüßte das Ereignis. Trompetenschall vom Balkone aus kündete den Anfang der Ziehung an. Komisch genug bliesen die Musikanten jene in Rom wohlbekannte Fanfare, mit der die Kunstreiter ihr Erscheinen oder die Gaukler den Anfang eines neuen Stückes einleiten. Der Reihe nach zählte der eine schwarzgekleidete Herr dem Monsignore die neunzig Nummern zu, der sie einzeln laut ausrief, sie dem andern Schwarzen übergebend, damit er sie in den Kasten stecke. Dies dauerte eine ganze Weile. Die Ungeduld und Spannung der Menge wuchsen immer mehr. [...]
Der kleine Dominikaner trat hervor. Der Monsignore machte das Zeichen des Kreuzes über ihm, denn in Rom geschieht alles im Namen des Herrn! Selbst das Lotto steht unter seinem besondern Schutze und ist hier ein christliches Institut. Der Kleine griff in den Kasten, zog die erste Nummer heraus, reichte sie dem Monsignore, und dieser rief mit tönender Stimme – einundzwanzig! Ich wendete den Kopf nach dem Platze zurück, um die Spieler anzusehen. Fast alle hielten Zettel in den Händen, ein beklemmender, angstvoller Ernst lag auf den Gesichtern. Sie sahen gespannter aus als die Spieler, die ich sonst in Bädern an den privilegierten Banken ihr Geld verlieren sah. [...]
Fünfmal wiederholte sich das Bekreuzen des Knaben, die Trompetenfanfare, das Ziehen der Nummern, die der Monsignore ausrief. Die Blicke der Spieler wurden immer düsterer. Nicht in einem Gesichte sah ich Freude oder Hoffnung; nicht in einem! Kein einziger hielt seinen Zettel jubelnd wie ein Glückspfand in die Höhe. Und als die letzte Nummer gezogen, als die Ziehung beendet war, als das Direktorium, das sicher wohlbesoldete Direktorium, schwatzend und lachend beisammen stehenblieb, da schlichen unten Hunderte mit getäuschten Hoffnungen davon, Hunderte von Betrogenen, mit deren letztem Bajocho die Betrüger sich bereichern. [...]"
(Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch, Das Lotto)

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