297 Verderblich. – Man verdirbt einen Jüngling am sichersten, wenn man ihn anleitet, den Gleichdenkenden höher zu achten als den Andersdenkenden.
552 Die idealische Selbstsucht. – Gibt es einen weihevolleren Zustand als den der Schwangerschaft? Alles, was man tut, in dem stillen Glauben tun, es müsse irgendwie dem Werdenden in uns zugute kommen! Es müsse seinen geheimnisvollen Wert, an den wir mit Entzücken denken, erhöhen! Da geht man vielem aus dem Wege, ohne hart sich zwingen zu müssen! Da unterdrückt man ein heftiges Wort, man gibt versöhnlich die Hand: aus dem Mildesten und Besten soll das Kind hervorwachsen. Es schaudert uns vor unsrer Schärfe und Plötzlichkeit: wie wenn sie dem geliebtesten Unbekannten einen Tropfen Unheil in den Becher seines Lebens gösse! Alles ist verschleiert, ahnungsvoll, man weiß von nichts, wie es zugeht, man wartet ab und sucht bereit zu sein. Dabei waltet ein reines und reinigendes Gefühl tiefer Unverantwortlichkeit in uns, fast wie es ein Zuschauer vor dem geschlossenen Vorhange hat – es wächst, es tritt an den Tag: wir haben nichts in der Hand, zu bestimmen, weder seinen Wert noch seine Stunde. Einzig auf jeden mittelbaren segnenden und wehrenden Einfluß sind wir angewiesen. »Es ist etwas Größeres, das hier wächst, als wir sind« ist unsere geheimste Hoffnung: ihm legen wir alles zurecht, daß es gedeihlich zur Welt komme: nicht nur alles Nützliche, sondern auch die Herzlichkeiten und Kränze unserer Seele. – In dieser Weihe soll man leben! Kann man leben! Und sei das Erwartete ein Gedanke, eine Tat – wir haben zu allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhältnis als das der Schwangerschaft und sollten das anmaßliche Reden von »Wollen« und »Schaffen« in den Wind blasen! Dies ist die rechte idealische Selbstsucht: immer zu sorgen und zu wachen und die Seele still zu halten, daß unsere Fruchtbarkeit schön zu Ende gehe! So, in dieser mittelbaren Art, sorgen und wachen wir für den Nutzen aller; und die Stimmung, in der wir leben, diese stolze und milde Stimmung, ist ein Öl, welches sich weit um uns her auch auf die unruhigen Seelen ausbreitet. – Aber wunderlich sind die Schwangeren! Seien wir also auch wunderlich und verargen wir es den anderen nicht, wenn sie es sein müssen! Und selbst, wo dies ins Schlimme und Gefährliche sich verläuft: bleiben wir in der Ehrfurcht vor dem Werdenden nicht hinter der weltlichen Gerechtigkeit zurück, welche dem Richter und dem Henker nicht erlaubt, eine Schwangere zu berühren!
552 Die idealische Selbstsucht. – Gibt es einen weihevolleren Zustand als den der Schwangerschaft? Alles, was man tut, in dem stillen Glauben tun, es müsse irgendwie dem Werdenden in uns zugute kommen! Es müsse seinen geheimnisvollen Wert, an den wir mit Entzücken denken, erhöhen! Da geht man vielem aus dem Wege, ohne hart sich zwingen zu müssen! Da unterdrückt man ein heftiges Wort, man gibt versöhnlich die Hand: aus dem Mildesten und Besten soll das Kind hervorwachsen. Es schaudert uns vor unsrer Schärfe und Plötzlichkeit: wie wenn sie dem geliebtesten Unbekannten einen Tropfen Unheil in den Becher seines Lebens gösse! Alles ist verschleiert, ahnungsvoll, man weiß von nichts, wie es zugeht, man wartet ab und sucht bereit zu sein. Dabei waltet ein reines und reinigendes Gefühl tiefer Unverantwortlichkeit in uns, fast wie es ein Zuschauer vor dem geschlossenen Vorhange hat – es wächst, es tritt an den Tag: wir haben nichts in der Hand, zu bestimmen, weder seinen Wert noch seine Stunde. Einzig auf jeden mittelbaren segnenden und wehrenden Einfluß sind wir angewiesen. »Es ist etwas Größeres, das hier wächst, als wir sind« ist unsere geheimste Hoffnung: ihm legen wir alles zurecht, daß es gedeihlich zur Welt komme: nicht nur alles Nützliche, sondern auch die Herzlichkeiten und Kränze unserer Seele. – In dieser Weihe soll man leben! Kann man leben! Und sei das Erwartete ein Gedanke, eine Tat – wir haben zu allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhältnis als das der Schwangerschaft und sollten das anmaßliche Reden von »Wollen« und »Schaffen« in den Wind blasen! Dies ist die rechte idealische Selbstsucht: immer zu sorgen und zu wachen und die Seele still zu halten, daß unsere Fruchtbarkeit schön zu Ende gehe! So, in dieser mittelbaren Art, sorgen und wachen wir für den Nutzen aller; und die Stimmung, in der wir leben, diese stolze und milde Stimmung, ist ein Öl, welches sich weit um uns her auch auf die unruhigen Seelen ausbreitet. – Aber wunderlich sind die Schwangeren! Seien wir also auch wunderlich und verargen wir es den anderen nicht, wenn sie es sein müssen! Und selbst, wo dies ins Schlimme und Gefährliche sich verläuft: bleiben wir in der Ehrfurcht vor dem Werdenden nicht hinter der weltlichen Gerechtigkeit zurück, welche dem Richter und dem Henker nicht erlaubt, eine Schwangere zu berühren!
Im Süden
So häng ich denn auf krummem Aste
Und schaukle meine Müdigkeit.
Ein Vogel lud mich her zu Gaste,
Ein Vogelnest ists, drin ich raste.
Wo bin ich doch? Ach, weit! Ach, weit!
Das weiße Meer liegt eingeschlafen,
Und purpurn steht ein Segel drauf.
Fels, Feigenbäume, Turm und Hafen,
Idylle rings, Geblök von Schafen, –
Unschuld des Südens, nimm mich auf!
Nur Schritt für Schritt – das ist kein Leben,
Stets Bein vor Bein macht deutsch und schwer.
Ich hieß den Wind mich aufwärts heben,
Ich lernte mit den Vögeln schweben, –
Nach Süden flog ich übers Meer.
Vernunft! Verdrießliches Geschäfte!
Das bringt uns allzubald ans Ziel!
Im Fliegen lernt ich, was mich äffte, –
Schon fühl ich Mut und Blut und Säfte
Zu neuem Leben, neuem Spiel...
Einsam zu denken nenn ich weise,
Doch einsam singen – wäre dumm!
So hört ein Lied zu eurem Preise
Und setzt euch still um mich im Kreise,
Ihr schlimmen Vögelchen, herum!
So jung, so falsch, so umgetrieben
Scheint ganz ihr mir gemacht zum Lieben
Und jedem schönen Zeitvertreib?
Im Norden – ich gestehs mit Zaudern –
Liebt ich ein Weibchen, alt zum Schaudern:
»Die Wahrheit« hieß dies alte Weib...Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, Lieder des Prinzen Vogelfrei, Im Süden
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