10 August 2021

Droste-Hülshoff: Die Judenbuche

 Annette von Droste-Hülshoff stellt ihrer Novelle ein Gedicht voran. 

Wo ist die Hand so zart, daß ohne Irren 
Sie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren,
So fest, daß ohne Zittern sie den Stein 
Mag schleudern auf ein arm verkümmert Seyn? 
Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen, 
Zu wägen jedes Wort, das unvergessen 
In junge Brust die zähen Wurzeln trieb, 
Des Vorurtheils geheimen Seelendieb? 
Du Glücklicher, geboren und gehegt 
Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt, 
Leg hin die Wagschal’, nimmer dir erlaubt! 
Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt! –

Das hat mich so berührt, dass ich es in einem Klassenaufsatz vollständig zitiert habe, stolz, dass ich es auswendig konnte. Das trug mir die milde Rüge ein, ich solle doch selber über die Novelle schreiben, nicht zitieren. An Plagiat hat da keiner gedacht, weil zu selbstverständlich war, wen ich zitierte. 
Ganz zufrieden war ich trotzdem nicht, weil ich das Gedicht - für mich ungewöhnlich sauber geschrieben und mir eine gewisse Mühe damit gegeben hatte. 
Heute interessiert mich mein Aufsatz gar nicht mehr, wohl aber die Zeilen
"Du Glücklicher, geboren und gehegt [...]
Leg hin die Wagschal’, nimmer dir erlaubt! 
Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt!"
Sie treffen bei so vielem: Bei dem, was Helmut Kohl gar nicht so zu Unrecht "Gnade der späten Geburt" genannt hat. (Hätte ich Juden in meiner Wohnung beherbergt?) Bei dem Mauerfall, wo ich mitverfolgen konnte, wie viele Hürden meine Verwandten in der DDR überwinden mussten, bis sie die Handicaps, die ihnen plötzlich auferlegt waren, so halbwegs aufholen konnten, beim Umgang mit Flüchtlingen, von der Einführung des Artikels 16a ins Grundgesetz (einer extremen Einschränkung oder schon Abschaffung (?) des Asylrechts) 1993 und bei dem rasch zurückgenommenen "Wir schaffen das" von 2015, bei den Protestirrenden von Pegida, die die "blühenden Landschaften" verspätet einforderten und dann bei dem verstärkten Aufkommen der Neonazismus unter dem Schutz der AfD. Schließlich angesichts des Klimawandels, wo die Schülergeneration sehr zu Recht darauf verweist, dass sie die Versäumnisse der vorhergehenden Generationen wird ausbaden müssen. Und zusätzlich bei der Pandemie, wo den Jugendlichen erhebliche Einschrän-kungen zugemutet wurden und werden, nicht zuletzt bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung, Partner- und Berufssuche. 
Die Aufzählung bleibt unvollständig, auch wenn ich erwähne, dass ich weder wegen körperlichen oder geistigen Einschränkungen oder wegen meiner sexuellen Orientierung benachteiligt bin. 
Friedrich Mergel leidet nur unter sehr wenigen der genannten Einschränkungen, und Droste-Hülshoff schildert sehr deutlich, wie er sich in Schuld verstrickt, weil er sich über andere  erhebt, die stärker benachteiligt sind als er. Und doch stellt sie an den Anfang die Warnung, ihn nicht einfach als Mörder zu verurteilen. 

Denn:
"[...] die Nähe eines Flusses, der in die See mündete und bedeckte Fahrzeuge trug, groß genug, um Schiffbauholz bequem und sicher außer Land zu führen, trug sehr dazu bei, die natürliche Kühnheit der Holzfrevler zu ermuthigen, und der Umstand, daß Alles umher von Förstern wimmelte, konnte hier nur aufregend wirken, da bei den häufig vorkommenden Scharmützeln der Vortheil meist auf seiten der Bauern blieb. Dreißig, vierzig Wagen zogen zugleich aus in den schönen Mondnächten, mit ungefähr doppelt so viel Mannschaft jedes Alters, vom halbwüchsigen Knaben bis zum siebzigjährigen Ortsvorsteher, der als erfahrener Leitbock den Zug mit gleich stolzem Bewußtseyn anführte, als er seinen Sitz in der Gerichtsstube einnahm. Die Zurückgebliebenen horchten sorglos dem allmähligen Verhallen des Knarrens und Stoßens der Räder in den Hohlwegen und schliefen sacht weiter. Ein gelegentlicher Schuß, ein schwacher Schrei ließen wohl einmal eine junge Frau oder Braut auffahren; kein anderer achtete darauf. Beim ersten Morgengrau kehrte der Zug eben so schweigend heim, die Gesichter glühend wie Erz, hier und dort einer mit verbundenem Kopf, was weiter nicht in Betracht kam, und nach ein paar Stunden war die Umgegend voll von dem Mißgeschick eines oder mehrerer Forstbeamten, die aus dem Walde getragen wurden, zerschlagen, mit Schnupftabak geblendet und für einige Zeit unfähig, ihrem Berufe nachzukommen. [...]" (Die Judenbuche, Hervorhebung von mir)

Wenn es gegenwärtig um den Schutz der Biodiversität geht, spielen in Afrika die Wilderer eine ähnliche Rolle wie damals die Holzfrevler. Mutig bereit, ihr Leben zu riskieren, um für ihren Clan große Gewinne zu machen (ein Jagdzug kann mehr einbringen als ein Jahr Arbeit). Die Wildschützer schweben ebenfalls unter Lebensgefahr, haben aber geringere Einnahmen. Wer nach Europa zu fliehen versucht, dem droht Verdursten in der Wüste, Folter in den an die Wüste angrenzenden Staaten, Ertrinken im Mittelmeer und schließlich Abschiebung, selbst nach gelungener Integration. 

Wer sein Leben einsetzt, dem soll das Überleben von Elefanten, die immer wieder die Ernte vernichten, um einer abstrakten Biodiversität willen wichtiger sein als das eigene? 
Schiller kritisiert Wallenstein, doch erklärt er sein Verhalten mit seinem Lager. 

Das Thema der Judenbuche bleibt aktuell. Denn was tun wir zur Erhaltung von Biodiversität und zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels ? Riskieren wir unser Leben oder nur unsere Bequemlichkeit?
"Leg hin die Wagschal’, nimmer dir erlaubt!" Sollte etwa nicht mehr Recht gesprochen werden?

Keine Kommentare: