15 April 2022

Niall Ferguson: Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft

Niall Ferguson: Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft 


Ferguson liefert - darin sind sich die Rezensionen einig - eine Fülle von Einzelheiten zu allen möglichen Katastrophen, aber kein Instrument, sie vorherzusagen. Das erste hat auch mich enttäuscht. Das zweite versteht sich von selbst. 
Besonders Kapitel 6: 'Die Psychologie der politischen Unfähigkeit'(S.235-278) liefert mir interessante historische Zusammenhänge. So war mir nicht bekannt, dass Churchill die Schuld am Verlust der Schlacht von Singapur 1942 gegeben wurde (S.268) und dass die Schuld an den britischen Verlusten (419654 Tote) bei der Schlacht an der Somme der Strategie von Douglas Haig (mehr Angriff als Verteidigung) angelastet wurde, auch wenn namhafte britische Militärhistoriker ihn verteidigen. 
Dabei interessierte mich besonders der Blick auf den Zusammenbruch von Imperien (S.270ff).

Zitate
John Lipsky: " 'Der Aufbau einer produktiven und verlässlichen Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und China ist das sine qua non für die Stärkung der Institutionen der Global Governance'. Nach Ansicht des früheren stellvertretenden US-Außenminister James Steinberg hat der letzte kalte Krieg 'auf Jahrzehnte hinaus den Schatten eines globalen Holocaust geworfen'." (S.470)
Niall Ferguson: "Als ich 2019 zum ersten Mal auf Konferenzen von einem zweiten Kalten Krieg sprach, widersprach mir zu meiner Verwunderung keiner der chinesischen Teilnehmer. Im September jenes Jahres fragte ich den chinesischen Leiter einer internationalen Institution nach dem Grund. 'Weil ich Ihnen zustimme!', erwiderte er lächelnd.
Als Gastprofessor an der Tsinghua Universität von Peking habe ich die ideologische Wende unter Xi mit eigenen Augen gesehen. Akademiker, die sich kritish mit sensiblen Themen wie der Kulturrevolution beschäftigen, werden Gegenstand von geheimdienstlicher Überwachung oder Schlimmerem. Wer an die Annäherung an China anknüpfen will, sollte den Einfluss von Wang Huning nicht unterschätzen, der seit 2017 dem ständigen Ausschuss des Politbüros angehört und Xis einflussreichster Berater ist. Im August 1988 verbrachte Wang sechs Monate in den Vereinigten Staaten und bereiste mehr als dreißig Städte und zwanzig Universitäten. Sein Bericht America Against America (veröffentlicht 1991) ist eine zum Teil beißende Kritik an der Demokratie, dem Kapitalismus und der Kultur der Vereinigten Staaten; im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht der Rassismus. (S. 471)
"Für Ben Thomsen, Autor des Newsletters Stratechery waren die Ereignisse der Jahre 2019 und 2020 ein Augenöffner. Nachdem er die politische und ideologische Motivation der chinesischen Regierung heruntergespielt hatte, wandelte er sich 2019 zum neuen Kalten Krieger. China habe ein vollkommen anderes Technologieverständnis als der Westen, so Thompson, und es habe die Absicht, seine antifreiheitliche Sichtweise in den Rest der Welt zu exportieren. Als Trump im August 2020 auf ein Verbot der albernen chinesischen App TikTok drängte, stimmte er zu; im Juli hatte er geschrieben: 'Wenn China das freiheitliche Denken nicht nur im eigenen Land angreift, sondern auch bei uns, dann muss es im Interesse des westlichen Liberalismus sein, einen Vektor abzuschneiden, der nur deshalb Wurzeln geschlagen hat, weil er so genial darauf zugeschnitten ist, den Menschen genau das zu geben, was sie wollen.' Um zu verstehen, wie gefährlich es ist, wenn die Hälfte der Jugendlichen in den Vereinigten Staaten ihre persönlichen Daten an eine chinesische App gibt, muss man sich nur ansehen, wie die Kommunistische Partei mithilfe der künstlichen Intelligenz einen Überwachungsstaat aufbaut, neben dem George Orwells Big Brother vorsintflutlich wirkt. (Wie wir sehen werden, hat Xis  Panoptikum mehr gemein mit der Dystopie in Jewgeni Samjatins Roman Wir aus dem Jahr 1920.) [...]
Viele der prominenten KI-Start-ups in China sind 'willige Geschäftspartner'  der Kommunistischen Partei, und das ist schon schlimm genug. Doch wie Andersen deutlich macht. ist diese Technologie zum Export bestimmt, und zu den Käufern gehören Äthiopien, Bolivien, Ekuador, Kenia, Malaysia [...]" (S. 473)
"In einem aufschlussreichen Artikel von April 2020 hatte der Politologe und Juraprofessor Jiang Shigong bereits die Folgen des Niedergangs der Vereinigten Staaten ausbuchstabiert: 'Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte des Konkurrenzkampfes um imperiale Vorherrschaft, der aus den einstmals regionalen immer globalere Reiche gemacht hat und mit einem einzigen großen Weltreich enden wird.' Die Globalisierung ist seiner Ansicht nach das 'Imperium 1.0, ein Modell des Weltreichs, wie es von England und den Vereinigten Staaten geschaffen wurde'. Zitat Ende. Doch das anglo-amerikanische Imperium zerfalle von innen heraus, denn es habe 'drei unlösbare Probleme: die von der liberalen Wirtschaft erzeugte, größer werdende Ungleichheit… Die ineffiziente Regierungsführung des politischen Liberalismus sowie die Dekadenz und der Nihilismus des kulturellen Liberalismus.' [...] Es gehe jedoch nicht darum, ein alternatives eurasisches Imperium zu begründen, sondern um 'den Kampf, die Mitte des Weltimperiums zu werden'. (S.473)
"Eine der vielen Methoden, mit denen die Vereinigten Staaten während des ersten Kalten Krieges die Sowjetunion zu schwächen suchten, war der 'Kalte Kulturkrieg'. Dabei ging es zum Beispiel darum, die Sowjets bei ihrem eigenen Spiel zu schlagen, ob im Schach (Fischer gegen Spasski) [...] Vor allem aber ging es darum, die Menschen in der Sowjetunion mit den unwiderstehlichen Verlockungen der westlichen Pop-Kultur zu verführen. 1986 klagte der französische Philosoph Régis Debray, einstiger Weggefährte von Che Guevara: 'Rockmusik, Videos, Bluejeans, Fast Food, Nachrichtensender und TV-Satelliten haben mehr Macht als die gesamte Rote Armee.' [...] Der Tech-Milliardär Peter Thiel prägte "den bemerkenswerten Aphorismus: 'KI ist kommunistisch, Krypto ist libertär.' Tik Tok bestätigt die erste Hälfte dieses Satzes. Während der Kulturrevolution der späten 1960er Jahre denunzierten chinesische Kinder ihre Eltern wegen vermeintlicher rechter Ansichten. Und als amerikanische Jugendliche 2020 ihre Eltern des Rassismus bezichtigten, taten Sie dies auf TikTok. [...] Das Buch, das den besten Einblick in das chinesische Verständnis der Vereinigten Staaten und der heutigen Welt bietet, ist allerdings kein politischer Text, sondern ein Science-Fiction-Roman. Der dunkle Wald 2008 ist  Liu Cixins Fortsetzung seines Romans Die drei Sonnen. Sein Einfluss im heutigen China ist kaum zu unterschätzen [....]  Darin führt Liu Cixin "drei Axiome der Kosmosoziologie ein. 'Erstens: Überleben ist das erste Gebot jeder Zivilisation. Zweitens: 'Zivilisationen wachsen und dehnen sich ununterbrochen aus, aber die im Kosmos verfügbare Materie bleibt konstant.' Und drittens führen die 'Zweifelsketten' und das Risiko einer technologischen Explosion dazu, dass im Kosmos nur das Gesetz des Dschungels herrschen kann. Wie es der Held, der 'Wandschauer' Luo Ji, ausdrückt: 'Das Universum ist ein dunkler Wald. [...] Der Jäger muss vorsichtig sein, denn überall im Wald lauern andere Jäger wie er. Stößt er auf anderes Leben, [...] bleibt ihm nichts anderes übrig als es auszuschalten. In diesem Wald sind die Hölle die anderen Lebewesen. Es herrscht das ungeschriebene Gesetz, dass jedes Leben, das sich einem offenbart, umgehend eliminieret werden muss.' " (S.474/75)
Ferguson dazu: "Das ist intergalaktischer Darwinismus. Es ist nicht an uns zu entscheiden, ob wir einen kalten Krieg mit China wollen oder nicht. China hat uns diesen kalten Krieg längst erklärt." (S.475/76)

"Wer die Regierungen der Welt dazu aufruft, sich gegen die Gefahren der Menschheit zu verbünden, sollte die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass diese Vebündung selbst die größere Gefahr ist." (Bryan Caplan:The Totalitarian Threat in Nick Bostrom und Milan Ćirković (eds.): Global Catastrophic Risks. Oxford: Oxford University Press, 504–519.) (S.488)

Zukünftige Schrecken
Im Anschluss an Huxleys "Schöne neue Welt", Orwells "1984" und Samyatins Wir stellt Ferguson Dystopien vor, die seiner Meinung der heutigen Welt ähnlicher sind als diese drei berühmten Utopien: John Brunner Morgenwelt (1968), William Gibson Neuromancer (1984), Neal Stephenson Snow Crash (1992) Chan Koonchung Die fetten Jahre (2009) [The Fat Years], Han Song 2066 (2000) Darin "wird das World Trade Center von einem Terroranschlag zerstört, und Manhattan versinkt in den steigenden Fluten des Meeres." Liu Cixin Die drei Sonnen [...]" (S.494-495)

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