06 April 2022

Reich-Ranicki: Mein Leben

 Meine erste Lektüre fand 1999 statt. Ich war sehr beeindruckt, habe aber nichts festgehalten 

Zur wiederholten Lektüre zunächst nur so viel:

Gekonnt auf die deutsche Leserschaft abgestellt ist sein Lob der deutschen Literatur und seine Kritik an der "mosaischen" Religion mit der von orthodoxen Juden betriebenen wortgetreu übernommenen Sabbatheiligung, sogar bezogen auf seinen Großvater, den Rabbiner, dem er sogar Heuchelei unterstellt. indem er sich so von der jüdischen Religion distanziert, macht er - ohne es ausdrücklich auszusprechen - deutlich, dass es bei der Judenverfolgung um reinen Rassismus ging und dass fehlendes Verständnis für die Religion keine bedeutsame Rolle gespielt haben kann. Für seine persönliche Kritik an der Religion zieht er Goethe heran "Es erben sich  Gesetz und Rechte/ Wie eine ew'ge Krankheit fort", ohne zu erwähnen, dass Goethe den Teufel (Mephisto) diese Worte sprechen lässt. Dann sein Lob seines blonden, blauäugigen Deutschlehrers, der der Klasse vor Augen hielt, dass Jesus ein Jude war und der deswegen strafversetzt wurde.

Reich-Ranicki als Person war mir nie sympathisch; doch meine Bewunderung kann ich ihm nicht versagen, und ich fühle schon auf den ersten Seiten mit ihm, weil er seine Liebe für deutsche Kultur durch die Nazis so grausam "enttäuscht" wurde - wobei enttäuscht ein viel zu schwaches Wort ist.

Zitate:
"In der Charlottenburger Volksschule erging es mir nicht so schlecht: ich wurde weder geprügelt noch schikaniert. Aber ganz einfach war es nun doch nicht. Indes haben mir nicht die Lehrer den Alltag erschwert, sondern die Mitschüler. Sie sahen in mir – und verwunderlich war das nicht – den Ausländer, den Fremden. Ich war etwas anders gekleidet, ich kannte ihre Spiele und Scherze nicht, noch nicht. Also war ich isoliert. Schlichter ausgedrückt: ich gehörte nicht dazu. [...]  Jeder Schüler erhielt ein Exemplar, aus dem er dann etwa eine halbe Seite vorlesen musste. Ich schaffte das einigermaßen, aber das Buch begeisterte mich nicht, mit dem Autor konnte ich nicht viel anfangen – und kann es bis heute nicht. Es handelte sich um Peter Roseggers "Als ich noch der Waldbauernbub war". Böcklin und Rosegger – so gut meinte ist das Leben mit hier nun doch nicht." (Seite 31/32)

Um sich an seinen Mitschülern zu rächen beschloss er, ein guter Schüler zu werden, und wählte dafür Mathematik.
"Lange dauerte meine Liebe zur Mathematik nicht. Als ich 13 oder 14 Jahre alt war, vernachlässigte ich das Fach und die meisten anderen ebenfalls. Ein anderes Fach, ein einziges, hatte es mir inzwischen angetan – ein Fach übrigens, das mir für die Rache an jenen Mitschülern, die mich verspotteten, noch viel besser geeignet schien als die Mathematik. Ja, ich rächte mich, ich wurde nun und blieb bis zum Abitur der beste Deutschschüler der Klasse. Aus Trotz? Das mag zutreffen, aber so ganz richtig ist es natürlich nicht.
Da gab es noch einen anderen Faktor, da hat noch ein anderes Motiv mitgewirkt – und es lässt sich kaum überschätzen: Das Lesen von Geschichten, von Romanen und sehr bald auch von Theaterstücken machte mir immer mehr Spaß. Und ehe ich mich's versah, da war’s um mich geschehen. Ich war glücklich – wohl zum ersten Mal in meinem Leben. Ein extremes, ein unheimliches Gefühl hatte mich befallen und überwältigt. Ja, ich war verliebt. Halb zog sie mich, halb sank ich hin – ich war verliebt in sie, die Literatur. (S. 34/35)

Über seinen Lehrer Dr. Reinhold Knick, der ihm die Ideale der deutsche Klassik und des deutsche Idealismus nahebrachte und auch die Fächer Mathe, Physik, Chemie u. Bio "ebenso wie Deutsch" (S.49) unterrichtete, anlässlich seines Rezitierens des ersten Aktes des "Biberpelz":
"Ich begriff, daß Literatur unterhaltsam sein darf - und sein sollte. Ich habe es nie vergessen." (S.50)
Als R.R. meinte, in Shakespeares Sturm stoße ihn die "vulgäre, teils plebejische und teils animalische Welt um den mißgestalteten Sklaven Caliban [...] " ab und Knick habe "in seiner Inszenierung" [...] ein Gleichgewicht hergestellt, das dem 'Sturm' nicht nütze, sondern schade", tat Knick das nicht ab, sondern sagte: "Das sind zwei Seiten derselben Sache und beide sind wichtig. Paß auf - heute zumal -, daß du nicht nur die eine Seite wahrnimmst und die andere übersiehst." (S.51)
R.R. schreibt weiter, den 'Sturm' habe er häufig gesehen. "Aber es blieb dabei: Ich empfand Respekt, ohne mich für das Stück erwärmen zu können. Man muß sich damit abfinden: Es gibt weltberühmte Werke, vor denen man sich verneigt, ohne sie zu lieben." (S.52)
Knick wurde später strafversetzt, weil er, als ein Jude beleidigt wurde, daran erinnerte, dass Jesus ein Jude war. 

"Was die überwiegende Mehrheit der Juden jahrelang davon abhielt, auszuwandern, lässt sich kurz sagen: es war nichts anderes als der Glaube an Deutschland. Erst durch die "Kristallnacht", die "Reichspogromnacht" im November 1938, geriet dieser Glaube ins Wanken – und auch dann keineswegs bei allen noch in Deutschland lebenden Juden." (S. 62)

"Ja,  das trifft die Sache: Millionen haben weggesehen." (S.81)

Liebesgeschichten (S.82 ff.)
Liebe zur deutschen Literatur, zum Theater und zu Schiller.. "Nie habe ich mehr gelesen als in der Gymnasialzeit." (S.93)

"Sollte ich mit zwei Namen andeuten, was ich als Deutschtum in unserem Jahrhundert verstehe, dann antworte ich, ohne zu zögern: Deutschland – das sind in meinen Augen Adolf Hitler und Thomas Mann. Nach wie vor symbolisieren diese beiden Namen die beiden Seiten, die beiden Möglichkeiten des Deutschtums. Und es hätte verheerende Folgen, wollte Deutschland auch nur eine dieser beiden Möglichkeiten vergessen oder verdrängen." 
(S. 104/105)

Theater (S.106 ff.)
"Geben Sie Gedankenfreiheit" erhielt 1937 ständig lauten Beifall, dennoch wurde die Inszenierung lange nicht abgesetzt. Sie wurde 32 x gespielt. Die Nazis fühlten sich schon sicher, denn zu den Worten sei schon zu Schillers Lebzeiten geklatscht worden. (S.113)
"Werner Krauss habe ich bewundert, Käthe Dorsch beinahe verehrt und Käthe Gold geliebt. Gustaf Gründgens indes hat mich nahezu hypnotisiert." (S.123)
"In Gründgens sah ich den typischen Repräsentanten der Kultur der zwanziger Jahre, eben der 'Asphaltkultur,' der er im Dritten Reich treu blieb. [...] Er war der Antityp der Zeit. Nicht Blut und Boden verkörperte er, wohl aber das Morbide und das Anrüchige, das Zwielichtige. Nicht die Helden spielte er und auch nicht die Gläubigen, sondern die Gebrochenen und die Degenerierten, die Schillernden. Er war ein Narziß und ein Neurastheniker, der Rollen bevorzugte, die es ihm ermöglichten, das Narzißtische und das Neurasthenische zu verdeutlichen und zu akzentuieren." (S. 124)
Der Höhepunkt von Gs Laufbahn sei sicher sein Mephisto in Faust I und II gewesen.
Aber für mich, der als ich als Jude im Dritten Reich lebte und dem die Angst in den Gliedern saß, war es ein Hamlet von 1936 noch wichtiger. Es wurde schon oft gesagt, dass jede Generation im Hamlet sich selber gesucht und gefunden hat, die eigenen Fragen und Schwierigkeiten, die eigenen Niederlagen. Auch ich habe Züge und Umrisse meiner Existenz im nationalsozialistischen Deutschland im Hamlet wieder erkannt – dank Gründgens. (S.125)

Ein Leiden das uns beglückt (Sexualität und Liebe) S.131 ff.
R entnahm das Technische zur Sexualität dem Brockhaus, das Seelische fand er bei Hermann Hesse in Nazi? und Goldmund.[...]

Die Tür führte ins Nebenzimmer S.145 ff.
Kontakt mit einer Schauspielerin, Verse aus "Der Tor und der Tod" von Hofmannsthal
"Es war doch schön… Denkst du nie mehr daran?
Freilich, du hast mir wehgetan, so weh.
Allein was hörte nicht in Schmerzen auf?" (S. 146)

Zweiter Teil von 1938-1944 S.163 ff.
In Polen Begegnungen mit Frauen

Der Tote und seine Tochter Seite 189 ff.
Teofila Langnas hatte soeben den Selbstmord ihres Vaters erlebt.
"So unvergleichbar unsere Situation – wir waren beide ihr beide nicht gewachsen, wir waren beide überfordert. Sie wusste seit zehn Minuten, dass sie keinen Vater mehr hatte. Sie weinte, sie konnte nichts sagen. Und ich, was sollte ich einem Mädchen sagen, das sich vor zehn Minuten vergeblich bemüht hatte, ihren Vater vom Gürtel loszuschneiden? Wir, beide 19 Jahre alt, waren gleichermaßen ratlos. Ich war mir der Dramatik des Augenblicks bewusst, aber mir fiel nichts anderes ein, als den Kopf der Verzweifelten zu streicheln und ihre Tränen zu küssen. Sie nahm es, glaube ich, kaum wahr. [...] 
Dann aber tat ich etwas Ungehöriges, etwas, was für mich selber überraschte, was ich in dieser Situation noch vor zehn Sekunden für ganz unmöglich gehalten hätte: Ich fasste sie plötzlich an, ich griff zitternd nach ihrer Brust. Sie zuckte zusammen, aber sie sträubte sich nicht. Sie erstarrte, ihr Blick erschien dankbar. Ich wollte sie küssen, ich unterließ es. [...] (S.197/98)
Bei der Beerdigung
"Ein Freund ihres Vaters fragte etwas verwundert, wer denn eigentlich der junge Mann sei, der sich offensichtlich der Tochter des Toten annahm. Vielleicht hielt er es für unpassend oder etwas ungehörig. Aber wir beide, sie und ich, wir machten uns keine Gedanken darüber. Wir empfanden es schon als selbstverständlich, dass wir an diesem düsteren, diesem regnerischen Tag im Januar 1940 zusammen waren. Und wir blieben zusammen." (S.198)

Die Vertreter der deutschen Gemeinde mit der jüdischen Gemeinde, wurden von den Deutschen in " 'Ältestenrat der Juden' und bald, was wohl verächtlicher klingen sollte, 'Judenrat' " umbenannt. Für die Volkszählung wurden viele Büroangestellte gebraucht. 
R. meldete sich dafür. 
"Der Briefwechsel mit den deutschen Instanzen wuchs schnell. Immer mehr Schriftstücke mussten täglich übersetzt werden: bisweilen aus dem Deutschen ins Polnische, meist aber aus dem Polnischen ins Deutsche. Ein besonderes Referat wurde nötig. Man nannte es 'Übersetzungs- und Korrespondenzbüro' und beschäftigte dort vier Personen: einen jungen Juristen, eine ziemlich bekannte polnische Roman Autorin, Gustawa Jarecka, eine professionelle Übersetzerin und mich. Ich, der jüngste, der zehn bis fünfzehn Jahre jünger war als die anderen, wurde zum Chef des Büros ernannt. Weil man mir organisatorische Fähigkeiten zutraute? Vor allem wohl deshalb, weil ich, was nun kein Kunststück war, besser Deutsch konnte als jene, die plötzlich meine Unterergebenen waren. 
Ich wurde also, zum ersten Mal in meinem Leben, gebraucht. Ganz unverhofft hatte ich eine feste Anstellung mit einem Monatsgehalt – wenn auch einem bescheidenen. Ich war zufrieden – nicht zuletzt deshalb, weil ich zum Unterhalt der Familie ein wenig beitragen konnte. 
(S. 203/204)

Unter den unterernährten Juden bricht Typhus aus. Zunächst kümmern sich die Deutschen darum nicht.
"War ihnen die Verbreitung der Epidemie etwa gleichgültig? Nein, keineswegs, sie war ihnen vielmehr willkommen.
Im Frühjahr 1940 erhielt der von den Juden bewohnte Bezirk eine neue Bezeichnung: 'Seuchensperrgebiet'. Der Judenrat hatte ihn mit einer drei Meter hohen Mauer zu umgeben, die oben noch mit einem ein Meter hohen Stacheldrahtzaun versehen werden sollte. An den Eingängen zu diesen Terrain, dessen Grenze die Juden nicht überschreiten durften, wurden Tafeln mit einer deutschen und einer polnischen Inschrift aufgestellt: 'Seuchensperrgebiet… Nur Durchfahrt gestattet.' [...]
Am 16. November 1940 wurden die 22 Eingänge [...] geschlossen und von da an Tag und Nacht von jeweils sechs Posten bewacht: zwei deutschen Gendarmen, zwei polnischen Polizisten und zwei Angehörigen der jüdischen Miliz, die 'Jüdischer Ordnungsdienst' hieß. Diese Miliz war nicht uniformiert, doch leicht erkennbar: die Milizionäre trugen neben dem für alle verbindlichen Armband auch noch ein zweites in gelber Farbe, ferner eine Uniformmütze und auf der Brust ein Metallschild mit einer Nummer. Bewaffnet waren sie mit einem Schlagstock.
So war aus dem 'Seuchensperrgebiet', aus dem offiziell 'der jüdische Wohnbezirk' genannten Stadtteil ein riesiges Konzentrationslager geworden: das Warschauer Getto." (S. 203-207)

Die Worte des Narren S.208 ff
"Sein Erkennungszeichen waren zwei jüdische Worte, die er laut ausrief und, wie ein Zeitungsverkäufer, rasch wiederholte. 'Ale glaach', zu deutsch: 'Alle gleich'. Ob es sich um einen Befund handelte, eine Voraussage oder eine Warnung, ob der Mann wahnsinnig war oder einen Wahnsinnigen spielte – das wusste niemand. Dieser unheimliche Mann, der Rubinstein hieß, aber 'Ale glaach' genannt wurde war der Narr des Warschauer Gettos."
Das Warschauer Getto war - nach New York - die größte jüdische Siedlung  auf der ganzen Welt. Die Bewohner waren natürlich nicht gleich, es gab Unterschiede zwischen Reichen, die noch einigen Besitz hatten, Schmugglern (junge Männer, die außerhalb des Gettos arbeiteten und für Geld und Schmuck aus dem Getto überteuerte Nahrung ins Getto schmuggelten) und Profis, die in Zusammenarbeit mit der polnischen Polizei und den deutschen Richtern Wächtern ganze Lastwagen voll Lebensmittel in das Ghetto lieferten).
Die deutschen Wächter machten sich unvorhersehbar nach Belieben eine Freude daraus, Juden sadistisch zu quälen.
Es gab eine von Pferden gezogene Straßenbahn sie war so voll, dass R. und seine Freunde sie aus Angst vor Läusen, "den wichtigsten Überträger des Fleckfiebers" mieden. Aber selbst die Straßen waren weitgehend überfüllt. "Am Straßenrand lagen, vor allem in den Morgenstunden, die mit alten Zeitungen nur dürftig bedeckten Leichen jener, die an Entkräftung oder Hunger oder Typhus gestorben waren und für deren Beerdigung niemand die Kosten tragen wollte." S.212) 
Der Historiker Emanuel Ringelblum sammelte Dokumente über das Leben im Getto, darunter Kopien von Schreiben die R. anzufertigen hatte. 
"Das gesamte Archiv wurde in zehn Metallbehältern und zwei Milchkanistern vergraben, an drei verschiedenen Stellen. Von diesen drei Teilen hat man nach dem Krieg nur zwei gefunden, der dritte gilt als verschollen." (S. 216)


Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist S. 217 ff.
"[...] Es stellte sich rasch heraus, dass man im Getto ohne Schwierigkeiten ein großes Streichorchester gründen konnte: an guten Geigen und Bratschisten, Cellisten und Kontrabassisten war kein Mangel. Schwieriger war es mit den Bläsern. Mithilfe von Inseraten in der einzigen (übrigens sehr schlechten) Zeitung im Getto und auf Anschlagtafeln wurden geeignete Kandidaten gesucht. Es meldeten sich Trompeter, Posaunisten, Klarinettisten und Schlagzeuger aus den Jazzbands und den Tanzkapellen – rasch zeigte sich dass sie, auch wenn sie nie in einem Symphonieorchester gearbeitet hatten, gleichwohl Schubert oder Tschaikowsky tadellos vom Blatt spielen konnten.
Doch es fehlten drei Blasinstrumente. Und so waren bald etwas sonderbare Anzeigen zu lesen: Hornisten, Oboisten und Fagottisten dringend gesucht. Da sich niemand meldete, musste man sich, wenn man Sinfonien aufführen wollte, anders behelfen: die Oboenstimmen wurden von Klarinetten gespielt und die Fagottstimmen von Basssaxophonen – und das klang gar nicht so schlecht. Am schwierigsten hatte man es mit den Hörnern. Man entschied sich für eine allerdings höchst fragwürdige Lösung: sie wurden mit Tenorsaxophonen ersetzt." (S.220)
"Mir will es scheinen, dass in unserem ganzen Leben Musik niemals eine derartige Rolle gespielt hat wie in jener düsteren Zeit. Hat uns Mozart so entzückt und begeistert, obwohl wir hungrig waren und uns unentwegt die Angst in den Gliedern saß – oder vielleicht gerade deshalb? Jedenfalls darf man es mir glauben: Im Warschauer Getto ist Mozart noch schöner gewesen. In diesem Abschnitt meines Lebens hatte also die deutsche Musik die deutsche Literatur verdrängt. Bald sollte sich das Blatt wieder wenden. Da gab es für uns keine Musik – aber doch, höchst unerwartet, Literatur, vor allem deutsche." (Seite 230)
In dieser Zeit hat R in der einzigen (polnischen) Gettozeitung Konzertrezensionen geschrieben unter dem Namen Wiktor Hart.


Ranickis Rede im Bundestag am 27.1.2012

Ranicki berichtete, "wie SS-Sturmbannführer Hermann Höfle den Judenrat mit der sogenannten „Umsiedlung der Juden aus Warschau“, auch bekannt unter „Große Aktion“, beauftragte.[1] Reich-Ranicki war auf Auftrag Höfles gezwungen, die Sitzung zu protokollieren.[1] Nachdem die Konferenz geschlossen war und die SS-Führer mit ihren Begleitern das Haus verlassen hatten, musste sich Reich-Ranicki um die polnische Übersetzung des Protokolls kümmern.[1] Er selbst meinte, er habe damals, am 22. Juli 1942, das Todesurteil, das die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte, seiner Mitarbeiterin Gustawa Jarecka diktiert.[1]

Auf Anraten Jareckas heiratete Reich-Ranicki kurz darauf seine Freundin Tosia.[1] Der Obmann des Judenrates Adam Czerniaków nahm sich am nächsten Tag, 23. Juli 1942, das Leben.[1] In dem Abschiedsbrief an seine Frau erklärte Czerniaków, nachdem man von ihm verlangt habe, mit eigenen Händen die Kinder seines Volkes umzubringen, wäre ihm nichts anderes übrig geblieben als zu sterben.[1] Reich-Ranicki erzählte, dass diese Tat damals als Zeichen dafür gesehen wurde, dass die Lage der Juden Warschaus hoffnungslos sei.[1] Weiters hielt Reich-Ranicki Czerniaków für einen intellektuellen Mann mit Grundsätzen, der auch in unmenschlicher Zeit an seinen Idealen festhielt.[1] Am Ende der Rede stellte Reich-Ranicki fest, dass die sogenannte „Umsiedlung“ der Juden eine bloße Aussiedlung aus Warschau war: 'Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.' " (WikipediaMarcel Reich-Ranickis Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus)

Anmerkung 1: Broschüre des Bundestags zum Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus  (pdf)

Sie enthält auf den Seiten 14-20 den vollständigen Wort der Rede Reich-Ranickis.

Daraus: "Als ich bei der Aufzählung der Personengruppen angelangt war, die von der „Umsiedlung“ ausgenommen sein sollten, und dann der Satz folgte, dass sich diese Regelung auch auf die Ehefrauen beziehe, unterbrach Gustawa das Tippen des polnischen Textes und sagte, ohne von der Maschine aufzusehen, schnell und leise: „Du solltest Tosia noch heute heiraten.“ Sofort nach diesem Diktat schickte ich einen Boten zu Tosia: Ich bat sie, gleich zu mir zu kommen und ihr Geburtszeugnis mitzubringen. Sie kam auch sofort und war ziemlich aufgeregt; denn die Panik in den Straßen wirkte ansteckend. Ich ging mit ihr schnell ins Erdgeschoss, wo in der Historischen Abteilung des „Judenrates“ ein Theologe arbeitete, mit dem ich die Sache schon besprochen hatte. Als ich Tosia sagte, wir würden jetzt heiraten, war sie nur mäßig überrascht und nickte zustimmend. Der Theologe, der berechtigt war, die Pflichten eines Rabbiners auszuüben, machte keine Schwierigkeiten. Zwei Beamte, die im benachbarten Zimmer tätig waren, fungierten als Zeugen. Die Zeremonie dauerte nur kurz, und bald hatten wir eine Bescheinigung in den Händen, der zufolge wir bereits am 7. März getraut worden waren. Ob ich in der Eile und Aufregung Tosia geküsst habe, ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß sehr wohl, welches Gefühl uns überkam: Angst. Angst vor dem, was sich in den nächsten Tagen ereignen werde. Und ich kann mich noch an das Shakespeare-Wort erinnern, das mir damals einfiel: „Ward je in dieser Laun’ ein Weib gefreit?“ " (S.20)

Und über Czerniaków:

"Von Czerniakóws Selbstmord erfuhr das Getto am nächsten Tag – schon am frühen Morgen. Alle waren erschüttert, auch seine Kritiker, seine Gegner und Feinde. Man verstand seine Tat, wie sie von ihm gemeint war: als Zeichen, als Signal, dass die Lage der Juden Warschaus hoffnungslos sei. Still und schlicht war er abgetreten. Nicht imstande, gegen die Deutschen zu kämpfen, weigerte er sich, ihr Werkzeug zu sein. Er war ein Mann mit Grundsätzen, ein Intellektueller, der an hohe Ideale glaubte. Diesen Grundsätzen und Idealen wollte er auch noch in unmenschlicher Zeit und unter kaum vorstellbaren Umständen treu bleiben. Die in den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die „Umsiedlung“ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod."

"Der Deportation im Januar 1943 entkam das Ehepaar, indem es auf dem Weg zum Versammlungsplatz floh. Es lebte fortan versteckt. In dieser Zeit unterstützte Reich-Ranicki zusammen mit seiner Frau die Jüdische Kampforganisation (polnisch: Żydowska Organizacja Bojowa, kurz: ŻOB) bei der Beschaffung einer größeren Geldsumme aus der Kasse des „Judenrates“. Als Anerkennung bekamen sie einen kleinen Teil des Geldes; dieser sollte ihnen die Flucht aus dem Ghetto durch Bestechung der Grenzposten ermöglichen,[7] was am 3. Februar 1943 gelang. Sie fanden nach kurzen Zwischenverstecken für sechzehn Monate einen Unterschlupf bei der Familie des arbeitslosen Schriftsetzers Bolek Gawin" (Wikipedia)

Jüdischer Widerstand gegen den Holocaust

Aufstand im Warschauer Ghetto (Wikipedia)

Warschauer Aufstand als WendepunktWlodzimierz Borodziej im Gespräch mit Michael Köhler 27.7.14

Widerstand im Wilnaer und im Warschauer Ghetto


Dritter Teil von 1944 bis 1958 s. 295 ff.

"[...] Auf dem Lastwagen, der allerlei Waren transportierte, saßen schon mehrere Leidensgenossen. Man betrachtete uns nicht gerade mit Sympathie. Aber ein ordentlich gekleideter Pole sprach mich freundlich an. Nach einigen Minuten fragte er mich, den unrasierten und schmutzigen Landstreicher: 'Sie sind wohl Jurist?' So heruntergekommen ich war, etwas war offenbar geblieben und hatte ihn zu seiner Vermutung veranlasst: die Sprache – oder vielleicht die logische Argumentation. Mein Alter schätze er auf knapp fünfzig. Ich war damals 24. (Seite 298/99)


"
Walter Jens oder die Freundschaft S.418-426
30 Jahre Freundschaft, in gewisser Weise beide in der Gruppe 47 Außenseiter, weil dort alle anderen im 2. Weltkr. deutsche Soldaten gewesen waren.
Stundenlange Telefongespräche. 
"Als wir schon längst zerstritten waren, hat Jens einmal gesagt: "Wir verdanken uns gegenseitig sehr viel." Abwägen lässt sich derartiges nicht, aber ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, dass ich ihm noch mehr zu verdanken habe als er mir." (Seite 424) "Als im Herbst 1990 unsere Beziehung ernsthaft gestört und gefährdet war [...]" (S.426)

Canetti, Adorno, Bernhard und andere S.438ff
Canetti und Adorno waren beide sehr eitel und selbstgefällig.
Zwischen der Eitelkeit Adornos und jener Canettis bestand ein nicht geringer Unterschied. Canettis Eitelkeit hing mit seinem Ehrgeiz zusammen, als kategorischer Ankläger und einsamer Weltenrichter zu fungieren. Freilich entzog sich das symbolische Amt, das er anstrebte und vielleicht schon mit priesterlicher, ja, mit majestätischer Würde zu versehen bemüht war, einer genaueren Definition: Denn es war in einem diffusen Grenzbereich beheimatet – zwischen Literatur und Philosophie, Kunst und Religion, zwischen strenger Zeitkritik und höherer Lebenshilfe. Canetti wurde, nicht zu seiner Unzufriedenheit, als eine fast archaische und mythische Gestalt berühmt, als der 'Prophet von Rustschuk'.
Das alles war Adornos Sache nicht. Auch er wollte gefeiert und geehrt werden – doch vor allem als intellektuelle und wissenschaftliche Autorität. Auch ihm war an einer Gefolgschaft gelegen. Aber niemand sollte ihm blind folgen, vielmehr sein kritisches Denken kritisch bewundern. Die Verehrung Canettis ging bisweilen in Verklärung über. Daran war Adorno nicht interessiert. Nicht das Sakrale war sein Element, sondern die Pfauenhaftigkeit, die er überhaupt nicht tarnte. [...] Adornos Eitelkeit ähnelte jener eines Sängers oder eines Schauspielers: Nicht auf stumme Anbetung hatte er es also abgesehen, sondern auf begeisterten Beifall. Sie so enorm seine Gefallsucht auch war, es verbarg sich in ihr etwas Entwaffnendes, etwas, das seine Eitelkeit begreiflicher und auch sympathischer machte als jene Canettis: Hilflosigkeit. In seinem Bedürfnis nach Zustimmung, in seiner ständigen Sehnsucht nach Lob war etwas Rührendes, etwas Kindliches." S.457/58)

FAZ, Fest (S.477 ff)
Begegnung mit Fest, beinahe eine Freundschaft, wenn auch Fest immer noch etwas förmlich blieb. Als er als Herausgeber der FAZ gewonnen wurde (einer von 6) wünschte er sich Ranicki für den Literaturteil
"Mit den mir vorgeschlagenen Bedingungen und Modalitäten war ich gleich einverstanden, nur sollte im Vertrag ausdrücklich gesagt werden, dass mir 'die Bereiche Literatur und literarisches Leben' oblägen und dass ich unmittelbar den Herausgebern unterstellt sei. Daran war mir besonders gelegen: Ich wollte auf keinen Fall einem Feuilletonchef unterstehen. Mit meinem Einzug in die Redaktion der 'Frankfurter Allgemeinen' sollte also die Kultur in zwei Bereiche mit gleichberechtigten Chefs aufgeteilt werden – das allgemeine Feuilleton, geleitet von Günter Rühle, und die Literatur. Mein Wunsch wurde erfüllt
Fest war zufrieden, und ich war es erst recht. Rund fünfzehn Jahre nach meiner Rückkehr hatte ich endlich einen Posten im literarischen Leben Deutschlands und vielleicht den wichtigsten. Aus dem Literaturteil dieser Zeitung würde sich, das hoffte ich, ein Forum und ein Instrument höchsten Ranges machen lassen – vorausgesetzt, dass keine Schwierigkeiten die Zusammenarbeit mit Fest beeinträchtigten. Dass sie entstehen könnten, darauf wies nichts hin – einstweilen jedenfalls nichts." (S.480)

Der dunkle Ehrengast  "Dieser dezente Herr war ein Verbrecher, einer der schrecklichsten Kriegsverbrecher in der Geschichte Deutschlands. Er hatte den Tod unzähliger Menschen verschuldet.Albert Speer (S.481)

Ein Streitgespräch mit vier Feministinnen
"[...] Auch ich war angriffslustig, aber mein Interesse an dem bevorstehenden Streitgespräch war schlagartig geschwunden, als ich plötzlich sah, dass eine meiner Partnerinnen eine  außerordentliche Frau war: anmutig und anziehend, verlockend und verführerisch, lieblich und liebreizend, kurz: wunderschön.
Ich war von ihr so bezaubert, dass ich die anderen kaum wahrnahm. In der Diskussion hat sie mir noch besser gefallen: Sie sprach sehr intelligent und sie hatte die höchst sympathische Neigung, mit allem, was ich sagte, einverstanden zu sein. Das angebliche Streitgespräch verwandelte sich in einen heimlichen erotischen Dialog: Was ich sagte, war nur für sie bestimmt, und was sie sagte, war, wollte mir scheinen, an mich gerichtet." (S. 493/94): Lilli Palmer [Zu beachten ist das Lebensschicksal von Palmer.]
"Ich las die Verse gleich. Ich war entzückt und gerührt. [...] Eine junge Frau, von der noch nichts publiziert war, hatte mir unzweifelhaft druckbare Gedichte zugeschickt, mehr noch, Gedichte, die bewiesen, dass deutsche Lyrik auch heute schön sein darf und schön sein kann." (S.494/95): Ulla Hahn

R.-R. hatte lange ein gutes Verhältnis zu Frisch, weil er seinen Gantenbein gegen die Kritik Hans Mayers in Schutz genommen hatte. Als er später ein Werk, den Blaubart, kritisch beurteilte, kühlte es ab, bis es nach dem Erscheinen einer Sammlung von Kritiken R.R.s zu Werken von Frisch kurz vor dessen Tod sich wieder verbesserte. Dabei ging aus diesen Kritiken noch nicht einmal hervor, wieviel R.-R. glaubt, Frisch zu verdanken:
Frisch schrieb "über die Komplexe und die Konflikte der Intellektuellen, und er wandte sich immer wieder an uns, die Intellektuellen aus der bürgerlichen Bildungsschicht. Wie kein anderer hat Frisch unsere Mentalität durchschaut und erkannt. Unseren Lebenshunger und unsere Liebesfähigkeit, unsere Schwäche und unsere Ohnmacht. Was wir viele Jahre lang spürten, ahnten und dachten, hofften und fürchteten, ohne es ausdrücken zu können – er hat es formuliert und gezeigt. Er hat seine und unsere Welt gedichtet, ohne sie je zu poetisieren, er hat seine und unsere (das Wort lässt sich nicht mehr vermeiden) Identität stets aufs Neue bewusst gemacht – uns und allen anderen.
So konnten und können wir in seinem Werk, im Werk des europäischen Schriftstellers Max Frisch, finden, was wir alle in der Literatur suchen: unsere Leiden. Oder auch: uns selber."  (S. 525/26)

Weitere Texte:

Ulrich Greiner über Reich-Ranicki:
"Dieses Land verdankt ihm viel. Das Verhältnis der Deutschen zu einem Juden, zu einem Überlebenden, der so provozierend in die Öffentlichkeit wirkte und Anerkennung suchte, konnte nicht einfach sein, und es gab im Verlauf von Reich-Ranickis bundesdeutschen Lebensjahren manche Missverständnisse, Fehlleistungen, auch Entgleisungen. Alles in allem aber ist es wohl eine geglückte Geschichte. Man muss in der Tatsache, dass dieser Mann ins Land seiner Jugend zurückgekehrt ist und uns die Bedeutung der zuweilen schnöde vergessenen literarischen Tradition aufs Neue beigebracht hat, eine unverdiente Gunst des Schicksals erblicken. Er war ein außerordentlicher Mann, der uns fehlen wird. Mit anderen Worten: So einen Kerl habe ich zeit meines Lebens nicht gesehen."

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