25 März 2023

Else Ury: Nesthäkchen

 Nesthäkchens 1. Schuljahr

1. Kapitel. Hurra – fünfzig Kinder!

An das Fenster schlug der Aprilregen. Klitsch – klatsch – tromtromtrom – klitsch – klatsch – tromtromtrom.

Hüit – hüi – it – heulte der Sturm im Ofen, er rüttelte an den Fensterscheiben, daß sie laut zu klirren begannen.

Nesthäkchen, das den Blondkopf noch tief in den Kissen vergraben hatte, warf sich bei dem wilden Konzert unruhig hin und her. Es rieb sich die Blauaugen und sah sich verschlafen in der Kinderstube um.

Da lag sie – die neue Schulmappe! Mitten auf dem weißen Tisch; ernst mahnend blickte sie zu der kleinen Langschläferin herüber.

Richtig, der erste Schultag war ja heute! Aber Klein-Annemarie war noch ganz schrecklich müde, die mochte noch nicht an Aufstehen und Schule denken. Es war ja ihr Geburtstag gestern gewesen, da war sie später als gewöhnlich ins Bett gekommen. Und dann war es doch auch solch häßlicher, grauer Regenmorgen.

Warm und fest kuschelte sich die Kleine wieder in ihre Kissen ein, während draußen Regen und Wind weiter pladderten und heulten. Klitsch – klatsch – tromtromtrom – hüi – it – ach, wie schön war es im molligen Bettchen!

Da trat Fräulein an Nesthäkchens Lager.

»Annemie – Liebling – es ist Zeit, du mußt aufstehen.« Zärtlich streichelte ihre Hand die wirren Blondlöckchen der Kleinen.

Aber Annemarie, die erst vor kurzem wieder eingeschlafen war, atmete sanft und gleichmäßig weiter. Sie rührte sich nicht.

»Liebling, du gehst ja heute das erstemal in die Schule, wach auf, sonst kommst du zu spät«, so versuchte Fräulein das müde Kind zu ermuntern.

Unverständliches Grunzen war Annemaries Antwort auf Fräuleins Mitteilung, daß sie heute das erstemal in die Schule ginge. Dabei hatte die Kleine doch den wichtigen Tag gar nicht erwarten können.

Fräulein stand ratlos. Alles Streicheln, Liebkosen und Zureden wollte nichts nützen. Nesthäkchen rührte sich nicht.

Da griff Fräulein schließlich zu dem großen Schwamm. Klitsch – klatsch – spritzte sie der kleinen Schlafenden ein paar Tropfen ins Gesicht.

»Fräulein – Fräulein – es regnet – es regnet in mein Bett rein!« Entsetzt fuhr Annemarie jetzt endlich hoch.

Vor ihr stand Fräulein und lachte die mit dem Ärmel des Nachthemdchens im Gesicht herumwischende Kleine aus.

»Na, bist du jetzt endlich munter, Annemie, willst du nun aufstehen und in die Schule gehen?«

»Nee«, gähnte Nesthäkchen mit aller Gemütsruhe und machte Miene, sich auf die andere Seite zu legen.

»Aber Liebling, du hast dich doch so auf heute gefreut?«

»Es ist mir zu schlechtes Wetter, ich will lieber zu Hause bleiben«, erklärte die Kleine, in das Regengrau hinausblinzelnd. [...]"


Else Ury (Wikipedia)

Ihre Nesthäkchenromane bei Projekt-Gutenberg.org

  1. Nesthäkchen und ihre Puppen
  2. Nesthäkchens erstes Schuljahr
  3. Nesthäkchen im Kinderheim
  4. Nesthäkchen und der Weltkrieg
  5. Nesthäkchens Backfischzeit
  6. Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
  7. Nesthäkchen und ihre Küken
  8. Nesthäkchens Jüngste
  9. Nesthäkchen und ihre Enkel
  10. Nesthäkchen im weißen Haar

Jugend voraus Ein Roman aus der Zeit, als sie als konservative Jüdin ihre Hoffnung noch auf Hitler setzte.

"Else Ury besuchte 1938 ihre Neffen eine Woche lang in London, kehrte aber nach Deutschland zurück, um weiterhin ihre gehbehinderte Mutter zu pflegen.[26]
[...] Am 6. Januar 1943 musste sich Else Ury in der Deportationssammelstelle in der Großen Hamburger Straße 26 in Berlin einfinden. [...] Am 12. Januar 1943 wurde Else Ury bei der Deportation von Juden aus Deutschland im 26. so genannten „Osttransport“ des RSHA unter der Nummer 638 nach Auschwitz verbracht. Von den 1000 Berliner Juden, die mit diesem Zug am 13. Januar 1943 in Auschwitz ankamen, wurden nach der Selektion an der „Alten Rampe“ nur 127 Männer als „arbeitsfähige“ Häftlinge registriert und in das Lager eingewiesen; die übrigen 873 Zuginsassen, darunter Else Ury, wurden nicht als Häftlinge registriert und sofort nach Ankunft in der Gaskammer ermordet.[31]

1995 wurde Else Urys alter Koffer im ehemaligen KZ Auschwitz entdeckt; mit weißer Farbe aufgemalt trägt er die Inschrift: „Transport Nr. / Else Sara Ury / Berlin – Solinger Str. 10“; bei Sara handelt es sich um den von den NS-Behörden einheitlich angeordneten Zwangsnamen.[32] Der Koffer wird heute im Museum Auschwitz verwahrt." (Wikipedia)

Über Else Ury:

Marianne Brentzel: Nesthäkchen kommt ins KZ

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