10 März 2023

Jakob Wassermann: Caspar Hauser

 Jakob Wassermann: Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens, 1908 

[Kaspar Hauser]

"In den ersten Sommertagen des Jahres 1828 liefen in Nürnberg sonderbare Gerüchte über einen Menschen, der im Vestnerturm auf der Burg in Gewahrsam gehalten wurde und der sowohl der Behörde wie den ihn beobachtenden Privatpersonen täglich mehr zu staunen gab.

Es war ein Jüngling von ungefähr siebzehn Jahren. Niemand wußte, woher er kam. Er selbst vermochte keine Auskunft darüber zu erteilen, denn er war der Sprache nicht mächtiger als ein zweijähriges Kind; nur wenige Worte konnte er deutlich aussprechen, und diese wiederholte er immer wieder mit lallender Zunge, bald klagend, bald freudig, als wenn kein Sinn dahintersteckte und sie nur unverstandene Zeichen seiner Angst oder seiner Lust wären. Auch sein Gang glich dem eines Kindes, das gerade die ersten Schritte erlernt hat: nicht mit der Ferse berührte er zuerst den Boden, sondern trat schwerfällig und vorsichtig mit dem ganzen Fuße auf.

Die Nürnberger sind ein neugieriges Volk. Jeden Tag wanderten Hunderte den Burgberg hinauf und erklommen die zweiundneunzig Stufen des finstern alten Turmes, um den Fremdling zu sehen. In die halb verdunkelte Kammer zu treten, wo der Gefangene weilte, war untersagt, und so erblickten ihre dichtgedrängten Scharen von der Schwelle aus das wunderliche Menschenwesen, das in der entferntesten Ecke des Raumes kauerte und meist mit einem kleinen weißen Holzpferdchen spielte, das es zufällig bei den Kindern des Wärters gesehen und das man ihm, gerührt von dem unbeholfenen Stammeln seines Verlangens, geschenkt hatte. Seine Augen schienen das Licht nicht erfassen zu können; er hatte offenbar Furcht vor der Bewegung seines eignen Körpers, und wenn er seine Hände zum Tasten erhob, war es, als ob ihm die Luft dabei einen rätselhaften Widerstand entgegensetzte.

»Welch ein armseliges Ding«, sagten die Leute; viele waren der Ansicht, daß man eine neue Spezies entdeckt habe, eine Art Höhlenmensch etwa, und unter den berichteten Seltsamkeiten war nicht die geringste die, daß der Knabe jede andre Nahrung als Wasser und Brot mit Abscheu zurückwies.

Nach und nach wurden die einzelnen Umstände, unter denen der Fremdling aufgetaucht war, allgemein bekannt. Am Pfingstmontag gegen die fünfte Nachmittagsstunde war er plötzlich auf dem Unschlittplatz, unweit vom Neuen Tor, gestanden, hatte eine Weile verstört um sich geschaut und war dann dem zufällig des Weges kommenden Schuster Weikmann geradezu in die Arme getaumelt. Seine bebenden Finger wiesen einen Brief mit der Adresse des Rittmeisters Wessenig vor, und da nun einige andere Personen hinzukamen, schleppte man ihn mit ziemlicher Mühe bis zum Haus des Rittmeisters. Dort fiel er erschöpft auf die Stufen, und durch die zerrissenen Stiefel sickerte Blut.

Der Rittmeister kam erst um die Dämmerungsstunde heim, und seine Frau erzählte ihm, daß ein verhungerter und halb vertierter Bursche auf der Streu im Stall schlafe; zugleich übergab sie ihm den Brief, den der Rittmeister, nachdem er das Siegel erbrochen, mit größter Verwunderung einige Male durchlas; es war ein Schriftstück, ebenso humoristisch in einigen Punkten wie in anderen von grausamer Deutlichkeit. Der Rittmeister begab sich in den Stall und ließ den Fremdling aufwecken, was mit vieler Anstrengung zustande gebracht wurde. Die militärisch gemessenen Fragen des Offiziers wurden von dem Knaben nicht oder nur mit sinnlosen Lauten beantwortet, und Herr von Wessenig entschied sich kurzerhand, den Zuläufer auf die Polizeiwachtstube bringen zu lassen.

Auch dieses Unternehmen war mit Schwierigkeiten verknüpft, denn der Fremdling konnte kaum mehr gehen; Blutspuren bezeichneten seinen Weg; wie ein störrisches Kalb müßte er durch die Straßen gezogen werden, und die von den Feiertagsausflügen heimkehrenden Bürger hatten ihren Spaß an der Sache. »Was gibt's denn?« fragten die, welche den ungewohnten Tumult nur aus der Ferne beobachteten. »Ei, sie führen einen betrunkenen Bauern«, lautete der Bescheid.

Auf der Wachtstube bemühte sich der Aktuar umsonst, mit dem Häftling ein Verhör anzustellen; er lallte immer wieder dieselben halb blödsinnigen Worte vor sich hin, und Schimpfen und Drohen nutzten nichts. Als einer der Soldaten Licht anzündete, geschah etwas Sonderbares. Der Knabe machte mit dem Oberkörper tanzbärenhaft hüpfende Bewegungen und griff mit den Händen in die Kerzenflamme; aber als er dann die Brandwunde verspürte, fing er so zu weinen an, daß es allen durch Mark und Bein ging. [...]

(Jakob Wassermann: Caspar Hauser. Erster Teil. Der fremde Jüngling)

"[...] Natürlich hatte es wochenlang gedauert, bis Professor Daumer einen so vollständigen Einblick in die Vergangenheit des Jünglings gewonnen hatte. Dies alles ans Licht zu bringen, kündbar, greifbar, hatte Ähnlichkeit gehabt mit der Arbeit eines Brunnengräbers. Was anfangs ein Fiebertraum geschienen, besaß nun die Züge des Lebens.

Daumer verfehlte nicht, der Behörde den Sachverhalt in einer gewissenhaften Niederschrift vorzulegen. Die Folge davon war, daß sich der Magistrat entschloß, die Bahn förmlicher Verhöre zu verlassen und in eine vertrautere Beziehung zu dem Unglücklichen zu treten. Die auffälligen Besonderheiten seines Wesens sollten noch einmal überprüft werden, hieß es in einer der gerichtlichen Noten, deshalb wurden Ärzte, Gelehrte, Polizeibeamte, scharfsinnige Juristen, kurz unzählige Personen, die an seinem Schicksal freien Anteil nahmen, zu ihm auf den Turm geschickt. Es war ein endloses Schnüffeln und Debattieren, Zweifeln und Staunen, doch die verschiedenen Erklärungen liefen alle auf eins hinaus, und die bloße Kraft des Augenscheins mußte den Daumerschen Bericht bestätigen.

Wenige Tage später, gegen Anfang Juli, veröffentlichte der Bürgermeister einen Aufruf, der im ganzen Land Verwunderung und Beunruhigung erregte. Zunächst wurde darin das Erscheinen Caspar Hausers geschildert, und nachdem die eigne Erzählung des Jünglings mit tunlichster Ausführlichkeit wiedergegeben war, beschrieb der Verfasser diesen selbst. Er sprach von der alle Umgebung bezaubernden Sanftmut und Güte des Knaben, in der er anfangs immer nur mit Tränen und nun, im Gefühl der Erlösung, mit Innigkeit seines Unterdrückers gedenke; von seiner rührenden Ergebenheit an diejenigen, die häufig mit ihm umgingen, von seiner unbedingten Willfährigkeit zum Guten, die mit der Ahnung dessen verbunden sei, was böse ist, ferner von seiner außerordentlichen Lernbegierde.

»Alle diese Umstände«, fuhr der beredsame Erlaß fort, »geben in demselben Maß, in dem sie die Erinnerungen des Jünglings bekräftigen, die Überzeugung, daß er mit herrlichen Anlagen des Geistes und des Herzens ausgestattet ist, und berechtigen zu dem Verdacht, daß sich an seine Kerkergefangenschaft ein schweres Verbrechen knüpft, wodurch er seiner Eltern, seiner Freiheit, seines Vermögens, vielleicht sogar der Vorzüge hoher Geburt, in jedem Fall aber der schönsten Freuden der Kindheit und höchsten Güter des Lebens verlustig geworden ist.«

Eine kühne und folgenschwere Vermutung, die eher dem mitleidigen Gemüt und dem romantischen Geist als der behördlichen Vorsicht eines hohen Bürgermeisteramtes zur Ehre gereichte!

»Zudem beweisen mancherlei Anzeichen«, hieß es weiter, »daß das Verbrechen zu einer Zeit verübt worden, wo der Jüngling der Sprache schon einmal mächtig gewesen und der Grund zu einer edeln Erziehung gelegt war, die gleich einem Stern in finsterer Nacht aus seinem Wesen hervorleuchtet. Es ergeht daher an die Justiz-, Polizei-, Zivil- und Militärbehörden und an jedermann, der ein menschliches Herz im Busen trägt, die dringende Aufforderung, alle, auch die unbedeutendsten Spuren und Verdachtsgründe bekanntzugeben. Und nicht etwa deswegen, um Caspar Hauser zu entfernen, denn die Gemeinde, die ihn in ihren Schoß aufgenommen, liebt ihn, betrachtet ihn als ein von der Vorsehung ihr zugeführtes Pfand der Liebe, das sie ohne gültigen Beweis der Ansprüche andrer nicht abtreten wird, sondern nur, um die Übeltat zu entdecken und den Bösewicht samt seinen Gehilfen der gerechten Sühne auszuliefern.«

Wahrscheinlich wurden von den Urhebern große Hoffnungen an das Manifest geknüpft, aber die Sache nahm einen ganz unerwarteten Verlauf und bereitete den Nürnberger Herren mancherlei Verlegenheiten. Zunächst lief eine Menge unsinniger und verleumderischer Bezichtigungen ein, durch welche eine Reihe von adligen Familien und von intimen Vorgängen in aristokratischen Kreisen dem Gerede ausgesetzt wurden: Kindesmord, Kindesraub, Kindesunterschiebung waren nach Ansicht des gemeinen Volks Verbrechen, welche die vornehmen Leute täglich und zum Vergnügen begehen. [...]"

(Jakob Wassermann: Caspar Hauser. Eine hohe amtliche Person wird Zeuge eines Schattenspiels


Zweiter Teil.
Gespräch zwischen einem, der maskiert bleibt, und einem, der sich enthüllt


Es regnete in Strömen, als die Kalesche des Lords am späten Abend über den Ansbacher Schloßplatz donnerte. Dazu scheuten die Pferde plötzlich vor einem über den Weg trottenden Hund, und der elsässische Kutscher fluchte in seinem greulichen Dialekt so laut, daß sich hinter den dunkeln Fensterquadraten ein paar weiße Zipfelmützen zeigten. Die Zimmer im Gasthof zum Stern waren vorausgemietet, der Wirt tänzelte mit einem Parapluie vors Tor und begrüßte den Fremdling mit unzähligen tiefen Komplimenten und Kratzfüßen.

Stanhope schritt an ihm vorüber zur Treppe, da trat ihm ein Herr in der Uniform eines Gendarmerieoffiziers entgegen, sehr eilfertig, mit regentriefendem Mantel, und stellte sich ihm als Polizeileutnant Hickel vor, der die Ehre gehabt habe, Seiner Lordschaft vor einigen Wochen beim Rittmeister Wessenig in Nürnberg flüchtig, »leider allzu flüchtig«, begegnet zu sein. Er nehme sich die Freiheit, dem Herrn Grafen seine Dienste in der unbekannten Stadt anzubieten, und bitte um Vergebung für die einem Überfall ähnliche Störung, aber es sei zu vermuten, daß Seine Lordschaft wenig Zeit und vielerlei Geschäfte habe, darum wolle er nicht versäumen, in erster Stunde nachzufragen.

Stanhope schaute den Mann verwundert und ziemlich von oben herab an. Er sah ein frisches, volles Gesicht mit eigentümlich kecken und dabei zärtlich ergebenen Augen. Unwillkürlich zurücktretend, hatte Stanhope das Gefühl, daß hier einer seine ganze Person als Werkzeug antrug, gleichviel zu welchen Zwecken; nichts Neues war ihm der begehrlich streberische Glanz solcher Blicke, schon glaubte er seinen Mann in- und auswendig zu kennen. Aber woher wußte der Dienstbeflissene davon? Wer hatte ihn auf die Fährte gebracht? Eine feine Nase war ihm jedenfalls zuzutrauen. Der Lord dankte ihm kurz und erbat sich für eine bestimmte Stunde seinen Besuch, worauf der Polizeileutnant militärisch grüßte und ebenso eilig, wie er gekommen war, wieder in den Regen hinausrannte.

Stanhope bewohnte den ganzen ersten Stock und ließ sogleich in allen Zimmern Kerzen aufstellen, da ihm unbeleuchtete Räume verhaßt waren; während der Kammerdiener den Tee bereitete, nahm er ein in Saffian gebundenes Andachtsbüchlein aus der Reisetasche und begann darin zu lesen. Oder wenigstens hatte es den Anschein, als lese er, in Wirklichkeit dachte er hundert zerstreute Gedanken, die Ruhe des kleinen Landstädtchens war ihm unheimlicher als Kirchhofsstille. Nach dem Imbiß ließ er den Wirt rufen, befragte ihn über dies und jenes, über die Verhältnisse im Ort, über den ansässigen Adel und die Beamtenschaft. Der Wirt zeigte sich den neuen Läuften gründlich überlegen. Er hatte noch die selige Markgrafenzeit erlebt, und mit dem Tag, wo Höfling und Hofdame aus ihren ziervollen Rokokopalästchen die Flucht vor dem heransausenden Kriegssturm ergriffen hatten, war es aus mit dem Glanz der Welt; ein stinkendes Rattennest war sie geworden, ein Aktentrödelmarkt mit dem hochtrabenden Namen Appellationssenat, eine Tintenhöhle, ein Paragraphenloch.

Damals, ach, damals! Wie verstand man zu schäkern, wie heiter war das Treiben, man spielte, man parlierte, man tanzte – und der dicke Mann fing vor den Augen des Lords an, einige gravitätische Menuettposen und Pas de deux zu illustrieren, wozu er eine verschollene Melodie trällerte und mit zwei Fingern jeder Hand schelmisch die Rockschöße hob.

Der Lord blieb vollkommen ernsthaft. Er fragte auch beiläufig, ob Herr von Feuerbach in der Stadt sei, doch bei diesen Worten zog der Dicke ein säuerliches Gesicht. »Die Exzellenz?« grollte er. »Ja, die ist da. Wohler wäre uns, sie wär nicht da. Wie ein brummiger Kater lauert sie uns auf und faucht uns an, wenn wir ein bißchen pfeifen. Er kümmert sich um alles, ob die Straßen gekehrt sind, ob die Milch verwässert ist; überall ist er hinterher, aber Galanterie hat er keine im Leib. Nur eines versteht er gründlich, er ist ein scharfer Esser, und halten zu Gnaden, Herr Graf, wenn Sie mit ihm zu tun haben, müssen Sie alles loben, was auf seinen Tisch kommt.« [...]"    (Wassermann: Caspar Hauser 2. Teil, Kapitel 11)


Joseph und seine Brüder

Als Abschiedsgabe erhielt Caspar vom Lord zwei Paar Schuhe, eine Schachtel mit Brüsseler Spitzen und sechs Meter feinen Stoff zu einem Anzug. Nachdem er schon den ganzen Vormittag mit ihm verbracht, kam Stanhope nach Tisch ins Quandtsche Haus, um Caspar Lebewohl zu sagen. Um halb vier fuhr der Wagen vor. Caspar geleitete den Grafen auf die Gasse. Er war bleich bis in die Augen; dreimal umarmte er den Scheidenden und biß die Zähne zusammen, um nicht aufschreien zu müssen, war es doch ein Stück seines innigsten Seins, das sich grausam von ihm trennte – für immer, das fühlte er wohl, ob er den so teuer gewordenen Mann wiedersah oder nicht. Mit ihm nahm er Abschied von der Unschuld seligsten Vertrauens und von der Süßigkeit schöner Wünsche und Täuschungen.

Auch der Lord war zu Tränen gerührt. Es entsprach seiner reizbaren Natur, sich bei solchen Anlässen einer wohltätigen Gemütserschütterung zu überlassen. Sein letztes Wort klang wie ein Schutz vor Selbstvorwürfen, als wolle er geschwind noch ins Schicksalsrad greifen und die Speichen zurückdrehen; die Kutsche war schon im Fahren, da rief er Quandt und dem Polizeileutnant Hickel, die beide am Tor standen, mit feierlich hochgezogenen Brauen zu: »Bewahrt mir meinen Sohn!«

Quandt drückte die Hände beteuernd gegen seine Brust. Das Gefährt rollte gegen die Crailsheimer Straße.

Fünf Minuten später erschienen Herr von Imhoff und der Hofrat Hofmann; sie mußten zu ihrem Leidwesen erfahren, daß sie die Zeit verpaßt hatten. Um Caspar seiner Traurigkeit zu entreißen, forderten sie ihn zu einem Spaziergang in den Hofgarten auf, ein Vorschlag, dem der Lehrer eifrig zustimmte. Hickel bat, sich anschließen zu dürfen.

Kaum waren die vier Personen um die nächste Ecke gebogen, als Quandt rasch ins Haus zurückeilte und seiner Frau einen Wink gab, die ihm, ohne zu fragen, weil das Unternehmen verabredet war, in den oberen Flur folgte, wo sie sich bei der Treppe als Schildwache aufstellte. Quandt seinerseits machte sich nun daran, das Tagebuch zu suchen. Er hatte sich zu dem Ende ein zweites Paar Schlüssel anfertigen lassen und konnte damit die Kommode und den Schrank öffnen. In der Kommodeschublade fand er nichts, das blaue Heft war nicht mehr darin. Aber auch den Schrank durchstöberte er vergeblich, die Kleider, die Tischlade, die Bücher, das Kanapee; vergeblich kroch er in jeden Winkel, es war nichts zu finden. [...]"

(Wassermann: Caspar Hauser, Kapitel 16)


"[...] Jetzt erschien der Hofrat Hofmann. Ein Polizeisoldat hatte ihm unten den lilafarbenen Beutel übergeben, der an der Unglücksstätte gefunden worden war.

»Kennen Sie diesen Beutel?« fragte der Hofrat.

Mit fieberglänzenden Augen blickte Caspar auf den Beutel, den der Hofrat öffnete. Es lag ein Zettel darin, der, so schien es zunächst, mit Hieroglyphen bedeckt war.

Die Lehrerin, die dabei stand, schüttelte den Kopf. Sie zog ihren Mann beiseite und sagte zu ihm: »Es ist doch eigen; genauso legt der Hauser immer seine Briefe zusammen, wie das Papier im Beutel zusammengefaltet war.«

Quandt nickte und trat an die Seite des Hofrats, der den Zettel erst prüfend betrachtete und dann einen Handspiegel verlangte.

»Es ist wohl Spiegelschrift«, sagte Quandt lächelnd.

»Ja«, erwiderte der Hofrat; »eine sonderbare Kinderei.«

Er stellte Schrift und Spiegel einander gegenüber und las vor: »Caspar Hauser wird Euch genau erzählen können, wie ich aussehe und wer ich bin. Dem Hauser die Mühe zu sparen, denn er könnte schweigen müssen, will ich aber selber sagen, woher ich komme. Ich komme von der bayrischen Grenze am Fluß. Ich will Euch sogar meinen Namen verraten: M. L. O.«

»Das klingt ja geradezu höhnisch«, sagte der Hofrat nach einem verwunderten Schweigen.

Quandt nickte erbittert vor sich hin.

Als Caspar die vorgelesenen Worte vernommen hatte, fiel sein Kopf schwer in das Kissen, und eine grenzenlose Verzweiflung malte sich in seinen Zügen. Es schloß sich sein Mund mit einem Ausdruck, als wolle er von nun an nie mehr reden. Und daß er hätte reden können, womit dieser M. L. O. offenbar nicht gerechnet hatte, empfand er bis in das Fieber hinein als eine Art schmerzlichen Triumphes.

Quandt, den Zettel, den ihm der Hofrat gegeben, zwischen den Händen, wanderte aufgeregt hin und her. »Das sind schöne Streiche«, rief er aus, »schöne Streiche! Sie halten das Mitleid Ihres Jahrhunderts zum besten, Hauser. Sie verdienen eine Tracht Prügel, das verdienen Sie.«

Der Hofrat runzelte die Stirn. »Gemach, Herr Lehrer; lassen Sie das doch!« sagte er mit ungewöhnlich ernstem Ton. Bevor er sich verabschiedete, versprach er, am nächsten Morgen den Kreisphysikus zu schicken, woraus ersichtlich war, daß auch er an keine unmittelbare Gefahr dachte.

Indes kam der Kreisphysikus, von Frau von Imhoff dazu bewogen, noch am selben Abend. Es war der Medizinalrat Doktor Albert. Er untersuchte Caspar mit großer Sorgfalt; als er fertig war, machte er ein bedenkliches Gesicht. Quandt, seltsam gereizt dadurch, sagte fast herausfordernd: »Es fließt ja gar kein Blut aus der Wunde.«

»Das Blut sickert nach innen«, entgegnete der Medizinalrat mit einem den Lehrer nur streifenden Blick. Er legte einen Umschlag von Senfteig auf das Herz und empfahl die möglichste Ruhe.

Quandt griff sich an die Stirn. »Wie«, sagte er zu seiner Frau, »sollte sich der Bursche in seinem Leichtsinn doch ernstlichen Schaden zugefügt haben?«

Die Lehrerin schwieg.

»Ich bezweifle es, ich muß es bezweifeln«, fuhr Quandt fort. »Sieh doch selbst, der sonst so wehleidige Mensch klagt ja mit keiner Silbe über Schmerzen.«

»Er antwortet auch nichts, wenn man ihn fragt«, fügte die Frau hinzu.

Um neun Uhr fing Caspar an zu delirieren. Quandt war entschlossen, an das Delirium nicht zu glauben. Als Caspar aus dem Bett springen wollte, schrie er ihn an: »Machen Sie nicht solche widerlichen Umstände, Hauser! Gehen Sie schleunig in Ihr Bett zurück.«

Der Pfarrer Fuhrmann trat gerade in das Zimmer und hörte dies. »Aber Quandt! Quandt!« sagte er entsetzt. »Ein wenig Milde, Quandt, im Namen unsrer Religion.«

»Oh«, versetzte Quandt kopfschüttelnd, »Milde ist hier schlecht angebracht. In Nürnberg, wo er doch auch so eine verworfene Komödie aufgeführt hat, gebärdete er sich genauso, und ich habe mir sagen lassen müssen, daß er dabei von zwei Männern gehalten worden ist. Was mich betrifft, ich lasse mir so ein Schauspiel nicht bieten.«

Frau von Imhoff hatte eine Pflegerin vom Krankenhaus geschickt, die über Nacht an Caspars Lager wachte. Er schlummerte zwei bis drei Stunden.

Schon früh am Morgen erschien eine Gerichtskommission. Caspar war bei klarem Bewußtsein. Vom Untersuchungsrichter aufgefordert, erzählte er, ein fremder Herr habe ihn zum artesischen Brunnen in den Hofgarten bestellt.

»Zu welchem Zweck bestellt?«

»Das weiß ich nicht.«

»Er hat darüber gar nichts gesagt?«

»Doch; er hat gesagt, man könnte die Tonarten des Brunnens besichtigen.«

»Und daraufhin sind Sie ihm schon gefolgt? Wie sah er aus?«

Caspar gab eine kurze, abgerissen gelallte Beschreibung, auch der Art, wie ihn der Fremde gestochen. Sonst war nichts aus ihm herauszubringen.

 

Es wurde nach Zeugen gefahndet. Es stellten sich Zeugen. Zu spät für die Verfolgung des Täters. Schon die erste Anzeige war, durch die Mitschuld Quandts, unverantwortlich verzögert worden. Als man die am Ort des Verbrechens befindlichen Blutspuren untersuchen wollte, ergab es sich, daß inzwischen schon zu viele Menschen dagewesen waren und den Schnee zertreten hatten. Aus einem so wichtigen Umstand Nutzen zu ziehen mußte also von vornherein verzichtet werden.

Zeugen fanden sich genug. Die Zirkelwirtin in der Rosengasse bekundete, gegen zwei Uhr sei ein Mann in ihr Haus gekommen, den sie nie zuvor gesehen, und habe gefragt, wann eine Retour nach Nördlingen gehe. Der Mann war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt gewesen, von mittlerer Größe, bräunlicher Hautfarbe und mit Blatternarben im Gesicht.

Er habe einen blauen Mantel mit Pelzkragen, einen runden schwarzen Hut, grüne Pantalons und Stiefel mit gelben Schraubsporen getragen. In der Hand hielt er eine Reitgerte. Er habe nur fünf Minuten geweilt und ganz wenig gesprochen; auffallend sei es gewesen, daß er nicht sagen gewollt, wo er logierte.

So beschrieb auch der Assessor Donner einen Mann, den er um drei Uhr im Hofgarten neben der Lindenallee gesehen, und zwar in Gesellschaft von zwei andern Männern, die der Assessor jedoch nicht betrachtet hatte.

Ein Spiegelarbeiter namens Leich ging ein paar Minuten vor vier Uhr von seiner Wohnung auf dem neuen Weg durch die Poststraße auf die Promenade und von da über den Schloßplatz. Er sah vom Schloß her zwei Männer über die Gasse schreiten und, die Reitbahn zur Linken lassend, zum Hofgarten gehen. Er erkannte in dem einen von ihnen Caspar Hauser. Als die beiden zum Laternenpfahl am Eck der Reitbahn kamen, wandte sich Caspar Hauser um und blickte den Schloßplatz hinauf, so daß ihn der Beobachter noch einmal und genau hatte sehen können. Bei den Schranken blieb der Fremde stehen, um Hauser mit höflicher Gebärde den Vortritt zu lassen. Der Arbeiter dachte für sich: wie doch die Herren bei solchem Sturm und Schnee spazierengehen mögen.

»Drei Viertelstunden später«, erzählte der Mann, »als ich von einer Besorgung beim Büttner Pfaffenberger zurückkam, standen auf dem Schloßplatz viele Leute, die jammerten und sagten, der Hauser sei im Hofgarten erstochen worden.«

Und weiter. Ein Gärtnergehilfe, der in der Orangerie beschäftigt ist, hört gegen vier Uhr Stimmen. Er blickt zum Fenster hinaus und sieht einen Mann im Mantel vorüberlaufen. Der Mann läuft einen guten Trab. Die Stimmen sind etwa einen Büchsenschuß weit vom Orangeriehaus entfernt gewesen, nicht so weit, wie das Uzsche Denkmal ist. Es waren zweierlei Stimmen, eine Baß- und eine helle Stimme.

Neben der Weidenmühle wohnt eine Näherin. Ihr Fenster geht auf den Hofgarten; sie sieht bis in die zwei gegen den hölzernen Tempel zu führenden Alleen. Bei beginnender Dämmerung gewahrt sie den Mann im Mantel; er tritt aus dem neuen Gittertor und steigt am Abhang der Rezatwiese hinab. Er stutzt, als er vor dem hoch geschwollenen Wasser steht. Er kehrt um und wendet sich gegen die Stäffelchen an der Mühle, geht über den Steg auf der Eiberstraße und verschwindet. Die Frau hat von seinem Gesicht nur einen schräglaufenden schwarzen Bart wahrnehmen können.

Es meldet sich auch der Schreiber Dillmann zu einer Aussage. Die unverbrüchliche Gewohnheit des alten Kanzlisten ist es, jeden Nachmittag, wie das Wetter auch beschaffen ist, zwei Stunden lang im Hofgarten zu promenieren. Er hat Caspar und den Fremden gesehen. Er versichert aber, nicht vorangegangen sei Caspar dem Fremden, sondern hintennach sei er gegangen. »Er ist ihm gefolgt, wie das Lamm dem Metzger zur Schlachtbank folgt«, sagt er.

Zu spät. Zu spät der Eifer. Zu spät die erlassenen Steckbriefe und Streifzüge der Gendarmerie. Es konnte nicht mehr fruchten, daß man sogar den Rezatstrom aus seinem Bett leitete, um vielleicht das Mordinstrument zu entdecken, das der Unbekannte bei seiner Flucht von sich geworfen haben mochte. Was lag an diesem Dolch?

Was lag an den Zeugen? Was lag an den Verhören? Was lag an den Indizien, womit eine saumselige Justiz ihre Unfähigkeit prahlerisch verbrämte? Es wurde gesagt, daß die Nachforschungen planlos und kopflos betrieben wurden. Es wurde gesagt, eine geheimnisvolle Hand sei im Spiel, deren Machenschaften darin gipfelten, die wahren Spuren allmählich und mit Absicht zu verwischen und die Aufmerksamkeit der Behörde irrezuleiten. Wer es sagte, konnte natürlich nicht erkundet werden, denn die öffentliche Meinung, ein Ding, ebenso feig wie ungreifbar, orakelt nur aus sicheren Hinterhalten. Und sie schwieg gar bald stille hier, wo Verleumdung, Bosheit, Lüge, Dummheit und Heuchelei ein schönes Menschenbild wie zwischen Mühlrädern zermalmten, bis daß nichts mehr übrigblieb als ein ärmliches Märchen, wovon sich das Volk dieser Gegenden an rauhen Winterabenden vor dem Ofen unterhält.

 

Am Sonntagnachmittag traf Quandt den jungen Feuerbach, den Philosophen, auf der Straße.

»Wie geht's dem Hauser?« fragte der den Lehrer.

»Ei, er ist ganz außer Gefahr; dank der Nachfrage, Herr Doktor«, antwortete Quandt geschwätzig; »die Gelbsucht ist eingetreten, aber das soll ja die gewöhnliche Folge einer heftigen Erregung sein. Ich bin überzeugt, daß er in ein paar Tagen das Bett wird verlassen können.«

Sie sprachen noch eine Weile von andern Dingen, hauptsächlich von der neuerdings zwischen Nürnberg und Fürth geplanten Dampfschienenbahn, ein Unternehmen, gegen das Quandt eine ganze Kanonade von Skepsis auffahren ließ, dann verabschiedete er sich von dem stillen jungen Mann mit der Dankbarkeit eines beklatschten Redners und eilte, beständig vor sich hinlächelnd, nach Hause. Er war in einer höchst zuversichtlichen Stimmung, einer Stimmung, in der man bereit ist, seinen ärgsten Feinden Nachsicht angedeihen zu lassen. Warum, das mochten die Götter wissen. War der schöne Tag daran schuld? Man darf nicht vergessen, daß in Quandt auch eine Art von Poet steckte; oder war es die Nähe des Weihnachtsfestes, das jedem guten Christenmenschen gleichsam eine Erneuerung seiner Seele verspricht? Oder war es am Ende der Umstand, daß gegenwärtig so viele vornehme und ausgezeichnete Personen sein bescheidenes Heim aufsuchten und daß er inmitten dieses bescheidenen Heims eine Stellung von ungeahnter Wichtigkeit innehatte? Genug, wie dem auch sein mochte, er war mit sich zufrieden, folglich stammte sein Lächeln aus der lautersten Quelle.

Vor seiner Wohnung traf er auf den Polizeileutnant. »Ah, vom Urlaub zurück?« begrüßte er ihn mit gedankenloser Freundlichkeit. Gleich darauf sagte er sich: mit dem habe ich ja noch ein Hühnchen zu rupfen.

Hickel drückte die Augen zusammen und sah aus, als ob er lachen wollte.

Sie gingen miteinander hinauf.

Caspar saß mit nacktem Oberleib im Bette, gegen aufgetürmte Kissen gelehnt, starr wie eine Figur aus Lehm, das Gesicht grau wie Bimsstein, die Haut des Körpers strahlend weiß wie eine Magnesiumflamme. Der Medizinalrat hatte soeben den Verband abgenommen und wusch die Wunde. Außerdem war noch ein Kommissionsaktuar zugegen. Dieser hatte am Tisch Platz genommen; ein Protokollformular lag bei ihm, auf dem die lakonischen Worte standen: »Der Damnifikat verbleibt bei seinen bisherigen Depositionen.« Über einen eingefangenen Straßenräuber hätte man sich nicht besser und niedlicher ausdrücken können.

Kaum hatte Caspar den eintretenden Hickel gewahrt, als er den wie einen gebrochenen Blumenkelch seitwärts gesenkten Kopf aufrichtete und mit weit geöffneten Augen, in denen ein ganz unsäglicher Schrecken lag, dem Ankömmling ins Gesicht starrte.

Ohne zu sprechen, erhob Hickel drohend den Zeigefinger. Diese Gebärde schien den Schrecken Caspars aufs Äußerste zu treiben; er faltete die Hände und murmelte ächzend: »Nicht nahe kommen! Ich hab's ja doch nicht selber getan.«

»Aber Hauser! Was fällt Ihnen denn ein!« rief Hickel mit einer Lustigkeit, die man etwa im Wirtshaus zur Schau trägt, und seine gelben Zähne blinkten zwischen den vollen Lippen; »ich hab Ihnen ja nur gedroht, weil Sie ohne Erlaubnis in den Hofgarten gegangen sind. Wollen Sie das vielleicht auch leugnen?«

»Keine Auseinandersetzungen, wenn ich bitten darf«, mahnte der Medizinalrat unwillig. Er hatte den Verband erneuert, zog nun den Lehrer beiseite und sagte leise und ernst: »Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß Hauser wahrscheinlich die Nacht nicht überleben wird.«

Offenen Mundes stierte Quandt den Arzt an. Seine Knie wurden weich wie Butter. »Wie? Was?« hauchte er, »ist's möglich?« Er schaute alle Anwesenden der Reihe nach langsam an, wobei sein Gesicht dem eines Menschen glich, der sich soeben behaglich zum Essen setzen wollte, und dem plötzlich Schüssel, Teller, Messer und Gabel, ja der ganze Tisch weggezaubert wird.

»Kommen Sie mit mir, Herr Lehrer«, sagte mit heiserer Stimme Hickel, der am Ofen stand und mit sinnloser Geschäftigkeit seine Hände an den Kacheln rieb.

Quandt nickte und schritt mechanisch voraus.

»Ist's möglich!« murmelte er wieder, als er auf der Stiege stand. »Ist's möglich!« Hilfesuchend blickte er den Polizeileutnant an. »Ach«, fuhr er elegisch fort, »wir haben doch unser redlich Teil getan. An treuer Fürsorge haben wir's wahrlich nicht fehlen lassen.«

»Lassen Sie doch die Flausen, Quandt«, antwortete der Polizeileutnant grob. »Sagen Sie mir lieber, was hat denn der Hauser alles geredet in seinem Wahn?«

»Unsinn, lauter Unsinn«, versetzte Quandt bekümmert.

»Achtung, Herr Lehrer, da sehen Sie mal hinunter«, rief Hickel, indem er sich über das Geländer beugte.

»Was denn?« gab Quandt erschrocken zurück, »ich sehe nichts.«

»Sie sehen nichts? Potz Kübel, ich auch nicht. Es scheint, wir sehen beide nichts.« Er lachte wunderlich, richtete sich wieder kerzengerade auf und hüstelte trocken. Dann ging er, indes Quandt ihm nicht wenig betroffen nachguckte.

Wohin soll es auch kommen mit der Welt, wenn Leute wie Hickel unter die Gespensterseher geraten? Auf ihren robusten Schultern ruhen die Fundamente der Ordnung, des Gehorsams und aller staatlich anerkannten Tugenden. Mag es auch in diesem besonderen Fall so beschaffen gewesen sein, daß die Ausgeburt rühmenswerter Untertaneneigenschaften dennoch einer Regung bösen Gewissens anheimfiel, nun, dann muß erklärt werden, daß dieses böse Gewissen mit einem martialischen Aussehen gesegnet war, daß es zu allen Mahlzeiten einen beneidenswerten Appetit entwickelte und daß es das sanfteste Ruhekissen für einen unvergleichlich gesunden Schlaf war, der durch keine Feuerglocke und kein Tedeum hätte gestört werden können.

Im Zimmer Caspars hatte der Kommissionsaktuar neuerdings ein Verhör begonnen. Caspar sollte sagen, ob noch ein Dritter zugegen gewesen sei, während er im Appellgericht mit dem fremden Mann gesprochen.

Caspar antwortete matt, er habe niemand bemerkt, nur vor dem Tor seien Leute gewesen. »Arme Leute passen mir immer dort auf«, sagte er, »zum Beispiel eine gewisse Feigelein, der hab ich manchmal einen Kreuzer gegeben, auch die Tuchmacherswitwe Weigel.«

Der Aktuar wollte weiterfragen, doch Caspar lispelte: »Müde – recht müde.«

»Wie ist Ihnen, Hauser?« erkundigte sich die Wärterin.

»Müde«, wiederholte er; »werd jetzt bald weggehen von dieser Lasterwelt.«

Eine Weile schrie und redete er für sich hin, hernach wurde er wieder ganz stille.

Er sah ein Licht, das langsam erlosch. Er vernahm Töne, die aus dem Innern seines Ohrs zu dringen schienen; es klang, wie wenn man mit einem Hammer auf eine Metallglocke haut. Er erblickt eine weite, einsame, dämmernde Ebene. Eine menschliche Gestalt rennt schnell darüber hin. O Gott, es ist Schildknecht. Was läufst du so, Schildknecht? ruft er ihm zu. Hab Eile, große Eile, antwortet jener. Auf einmal schrumpft Schildknecht zusammen, bis er eine Spinne ist, die an einem glühenden Faden zum Ast eines riesengroßen Baumes emporklimmt. Tränen des Grauens fallen wie Regen aus Caspars Augen.

Er sah ein seltsames Gebäude; es glich einer kolossalen Kuppel; es hatte kein Tor, keine Tür, keine Fenster. Aber Caspar konnte fliegen, flog hinauf und schaute durch eine kreisrunde Öffnung in das Innere, das von himmelblauer Luft erfüllt war. Auf himmelblauen Marmorfliesen stand eine Frau. Vor diese trat ein Mensch, kaum deutlicher zu sehen als ein Schatten, und er teilte ihr mit, daß Caspar gestorben sei. Die Frau hob die Arme und schrie vor Schmerz, daß die Wölbung erzitterte. Da klaffte der Boden auseinander, und es kam ein langer Zug von Menschen, die alle weinten. Und Caspar sah, daß ihre Herzen zitterten und zuckten wie lebendige Fische in der Hand des Fischers. Und einer trat heraus, der gerüstet war und ein Schwert trug, der sprach ungeheure Worte, aus denen sich das ganze Geheimnis enthüllte. Und alle, die zuhörten, preßten die Hände gegen die Ohren, schlossen die Augen und stürzten vor Kummer zu Boden.

Dann war alles verwandelt. Caspar spürte sich voll von wunderbaren Kräften. Er spürte die Metalle in der Erde, von tief unten zogen sie ihn an, und die Steine spürte er, die Adern von Erz hatten. Dazwischen ruhte vielfältiger Samen, und er brach auf, und die Würzlein schossen, und bebend hoben sich die Gräser. Aus dem Boden sprangen Quellen hoch empor wie Fontänen, und auf ihren Spitzen leuchtete die willkommene Sonne. Und inmitten des Weltalls stand ein Baum mit weitem Gipfel und unzähligen Verästelungen; rote Beeren wuchsen aus den Zweigen, und auf der Krone oben bildeten die Beeren die Form eines Herzens. Innen im Stamm floß Blut, und wo die Rinde zerrissen war, sickerten schwärzlichrote Tropfen hindurch.

Mitten in diesem Wogen verzweiflungsvoller Bilder und krankhafter Entzückungen war es Caspar, als ob ihn jemand in einen Raum trüge, wo keine Luft zum Atmen mehr war. Da half kein Sträuben und Sichbäumen, es trug ihn hin, und ein kühler Wind wehte über sein Haar, seine Finger krümmten sich, als suche er sich irgendwo zu halten. Es war eine namenlose Erschöpfung, von welcher der vergebliche Kampf begleitet war.

Auf der Straße fuhr der Nürnberger Postwagen vorbei, und der Postillion blies ins Horn.

Es kamen bis zum Abend viele Leute, um nach seinem Befinden zu fragen. Frau von Imhoff blieb lange an seinem Bett sitzen.

Um acht Uhr schickte die Pflegerin zum Pfarrer Fuhrmann, der mit größter Schnelligkeit eintraf. Er legte Caspar die Hand auf die Stirn. Mit angstvoll großen Augen schaute sich Caspar um; seine Schultern zitterten. Er machte mit dem Zeigefinger auf dem Deckbett Bewegungen, als wolle er schreiben. Das dauerte jedoch nicht lange.

»Sie haben mir einmal gesagt, lieber Hauser, daß Sie auf Gott vertrauen und mit seiner Hilfe jeden Kampf kämpfen wollen«, sagte der Pfarrer.

»Weiß es nicht«, flüsterte Caspar.

»Haben Sie denn heute schon zu Gott gebetet und ihn um seinen Beistand angerufen?«

Caspar nickte.

»Und wie ist Ihnen darauf gewesen? Haben Sie sich nicht gestärkt gefühlt?«

Caspar schwieg.

»Wollen Sie nicht wieder beten?«

»Bin zu schwach; vergehen mir gleich die Gedanken.« Und nach einer Weile sagte er wie für sich, seltsam leiernd: »Das ermüdete Haupt bittet um Ruhe.«

»So will ich ein Gebet sprechen«, fuhr der Pfarrer fort, »beten Sie im stillen mit. Vater, nicht mein –«

»Sondern dein Wille geschehe«, vollendete Caspar hauchend.

»Wer hat so gebetet?«

»Der Heiland.«

»Und wann?«

»Vor – seinem – Sterben.« Bei diesem Wort sträubte sich sein Körper empor, und über sein Gesicht ging ein höchst qualvolles Zucken. Er knirschte mit den Zähnen und schrie dreimal gellend: »Wo bin ich denn?«

»Aber, Hauser, in Ihrem Bett sind Sie«, beruhigte ihn Quandt. »Es kommt ja bei Kranken öfter vor, daß sie sich an einem andern Ort zu befinden wähnen«, wandte er sich erklärend an den Pfarrer Fuhrmann.

»Geben Sie ihm zu trinken«, sagte dieser.

Die Lehrerin brachte ein Glas frisches Wasser.

Als Caspar getrunken hatte, wischte ihm Quandt den kalten Schweiß von der Stirn. Er selber bebte an allen Gliedern. Er beugte sich über den Jüngling und fragte dringend, feierlich beschwörend: »Hauser! Hauser! Haben Sie mir nichts mehr zu sagen? Sehen Sie mich einmal so recht aufrichtig an, Hauser! Haben Sie mir nichts mehr zu beichten?«

Da packte Caspar in höchster Herzensnot die Hand des Lehrers. »Ach Gott, ach Gott, so abkratzen müssen mit Schimpf und Schande!« stieß er jammernd hervor.

Das waren seine letzten Worte. Er kehrte sich ein wenig auf die rechte Seite und drehte das Gesicht zur Wand. Jedes Glied seines Körpers starb einzeln ab.

Zwei Tage später wurde er begraben. Es war nachmittags und der Himmel von wolkenloser Bläue. Die ganze Stadt war in Bewegung. Ein berühmter Zeitgenosse, der Caspar Hauser das Kind von Europa nennt, erzählt, es sei zu der Stunde Mond und Sonne gleicher Zeit am Firmament gestanden, jener im Osten, diese im Westen, und beide Gestirne hätten im selben fahlen Glanz geleuchtet.

 

Etwa anderthalb Wochen später, drei Tage nach Weihnachten, es war Abend, und Quandt und seine Frau wollten sich eben zu Bett begeben, erschallten starke Schläge gegen das Haustor. Sehr erschrocken, zögerte Quandt eine Weile; erst als sich die Schläge wiederholten, nahm er das Licht und ging, um zu öffnen.

Draußen stand Frau von Kannawurf. »Führen Sie mich in Caspars Zimmer«, sagte sie zum Lehrer.

»Jetzt noch? In der Nacht?« wagte dieser einzuwenden.

»Jetzt, in der Nacht«, beharrte die Frau.

Ihr Wesen schüchterte Quandt dergestalt ein, daß er stumm zur Seite trat, sie vorangehen ließ und mit dem Licht folgte.

In Caspars Zimmer erinnerte wenig an den Verstorbenen. Es war alles umgestellt und verräumt. Nur das Holzpferdchen stand noch auf dem Ecktisch neben dem Fenster.

»Lassen Sie mich allein«, gebot Frau von Kannawurf. Quandt stellte den Leuchter hin, entfernte sich schweigend und wartete in Gemeinschaft mit seiner Frau unten an der Stiege. »Es ist sehr gutmütig von mir, daß ich mir so etwas in meinem Hause gefallen lasse«, murrte er.

Mit verschränkten Armen schritt Clara von Kannawurf im Zimmer auf und ab. Ihr Blick fiel auf den Tisch, wo eine Abschrift des Sektionsprotokolls lag; es ging daraus hervor, daß man nach dem Tode Caspars die Seitenwand seines Herzens ganz durchstochen gefunden hatte. Clara nahm das Papier mit beiden Händen und zerknitterte es in ihren Fäusten.

Was fruchtet aller Schmerz und Reue? Man kann nicht die Gewesenen aus Luft zurückgestalten; man kann der Erde nicht ihre Beute abfordern. Tränen beruhigen; aber diese Trauernde hatte keine Tränen mehr; für sie waren keine Sterne mehr, kein Glanz des Himmels; für sie wuchs kein Gras mehr, duftete keine Blume mehr, ihr schmeckte der Tag nicht mehr und die Nacht nicht mehr, für sie hatte sich alles Menschentreiben, ja selbst das Schaffen der Elemente in eine einzige düstere Wolke von nie wieder gutzumachender Schuld zusammengeballt.

Es mochte eine halbe Stunde verflossen sein, als Clara wieder herabkam. Sie blieb ganz dicht vor dem Lehrer stehen, und während sie ihn mit weit aufgeschlagenen Augen ansah, sagte sie bebend und kalt: »Mörder.«

Dies war für Quandt etwa so, wie wenn man ihm einen Schwefelbrand unter die Nase gehalten hätte. Es läßt sich denken, der wackere Mann war vollkommen ahnungslos; in Schlafrock, gesticktem Hauskäppchen und mit Schlappschuhen an den Füßen wartet er, daß der ungebetene Gast sein Haus wieder verlasse, und da fällt ein Wort, wie es nicht einmal ein böser Traum erzeugen kann.

»Das Weib ist wahnsinnig! Ich werde sie zur Rechenschaft ziehen«, tobte er noch im Bett.

Clara wohnte bei Imhoffs. Sie fand die Freundin noch auf. Frau von Imhoff sagte ihr, daß man morgen auf den Kirchhof gehen wolle, weil das Kreuz auf Caspar Hausers Grab errichtet werde. Frau von Imhoff empfand Claras Schweigsamkeit wie einen Alpdruck und erzählte, erzählte. Vieles von Caspar, vieles von denen, die um ihn waren. Quandt wolle ein Buch schreiben, worin er haarklein nachzuweisen gedenke, daß Caspar ein Betrüger gewesen; daß Hickel den Dienst quittiert habe und aus Ansbach wegziehe, wohin, wisse niemand; daß alle Bemühungen, dem furchtbaren Verbrechen auf den Grund zu kommen, vergeblich gewesen seien.

Clara blieb wie aus Stein. Als sie sich für die Nacht trennten, sagte sie leise und mit unheimlicher Sanftmut: »Auch du bist seine Mörderin.«

Frau von Imhoff prallte zurück. Doch Clara fuhr ebenso leise und sanft fort: »Weißt du es denn nicht? willst du's nicht wissen? Versteckst du dich vor der Wahrheit wie Kain vor Gottes Ruf? Weißt du denn nicht, wer er war? Glaubst du denn, daß die Welt immer und ewig darüber schweigen wird, so wie sie jetzt schweigt? Er wird auferstehen, Bettine, er wird uns zur Rechenschaft fordern und unsre Namen mit Schmach bedecken; er wird das Gewissen der Nachgebornen vergiften, er wird so mächtig im Tode sein, als er ohnmächtig im Leben war. Die Sonne bringt es an den Tag.«

Darauf verließ Clara das Zimmer ruhig wie ein Schatten.

Am andern Morgen ging sie früh vom Hause fort. Sie besuchte ihren Türmer auf der Johanniskirche, saß lange oben auf der Steinbank in der schmalen Galerie und blickte weit über die winterliche Ebene. Sie sah aber nicht Schnee, sie sah nur vergossenes Blut. Sie sah nicht das Land, sie sah nur ein durchstochenes Herz.

Dann schlug sie den Weg nach dem Kirchhof ein. Der Totengräber führte sie zum Grab. Eben kamen zwei Arbeiter und lehnten ein hölzernes Kreuz gegen den Stamm einer Trauerweide.

Nach wenigen Minuten erschien der Pfarrer Fuhrmann. Er erkannte Clara und grüßte sie ernst und höflich. Sie, ohne zu danken, schaute an ihm vorüber, ihr Blick streifte den mit schmutzigem Schnee bedeckten Grabhügel und die Arbeiter, die jetzt das Kreuz zu Häupten des Grabes einrammten. Auf einem großen, herzförmigen Schild, das inmitten des Grabkreuzes befestigt war, standen in weißen Lettern die Worte:

 

hic jacet
Casparus Hauser
aenigma
sui temporis
ignota nativitas
occulta mors.

 

Sie las es, schlug die Hände vors Gesicht und brach in ein gellend wehes Gelächter aus. Jählings wurde sie aber wieder ganz still. Sie drehte sich gegen den Pfarrer um und rief ihm zu: »Mörder!«

In diesem Augenblick kamen vom Hauptpfad her einige Leute, die der Zeremonie der Kreuzaufstellung hatten beiwohnen wollen: Herr und Frau von Imhoff, Herr von Stichaner, Medizinalrat Albert, der Hofrat Hofmann, Quandt und seine Frau. Sie sahen den Pfarrer bleich und aufgeregt, und der Eindruck eines jeden war, daß etwas Schlimmes vor sich gehe. Frau von Imhoff, voller Ahnung, eilte auf ihre Freundin zu und umschlang sie mit den Armen. Aber mit verwilderten Gebärden machte sich Clara los, stürzte der Gruppe der Nahenden entgegen und schrie mit durchdringender Stimme: »Mörder seid ihr! Mörder! Mörder! Mörder!«

Nun rannte sie an ihnen vorbei, auf die Straße hinaus, wo sich alsbald viele Menschen um sie versammelten, und schrie, schrie! Endlich wurde sie von einigen Männern umringt und am Weiterlaufen verhindert.

Quandt hatte wieder einmal recht behalten. Sie war wahnsinnig geworden. Noch am selben Tag wurde sie in eine Anstalt gebracht. Mit der Zeit verging die Raserei, aber ihr Geist blieb umnachtet.

Sehr zu Herzen war der Auftritt am Grabe dem Pfarrer Fuhrmann gegangen. Er wollte sich nicht zufriedengeben, wenn man ihm vorhielt, daß es doch eine Irre gewesen, die so gehandelt. Noch vor seinem kurz darauf erfolgten Ableben sagte er zu Frau von Imhoff, die ihn besuchte: »Mich freut die Welt nicht mehr. Warum klagte sie mich an? Mich, gerade mich? Ich hab ihn ja liebgehabt, den Hauser.«

»Die Unglückliche«, erwiderte Frau von Imhoff leise, »an Liebe allein hatte sie nicht genug.«

»Ich trage keine Schuld«, fuhr der alte Mann fort. »Oder doch nicht mehr, als dem sterblichen Leib überhaupt zukommt. Schuldig sind alle, die wir da wandeln. Aus Schuld keimt Leben, sonst hätte unser Stammvater im Paradies nicht sündigen dürfen. Auch unsern hingeschiedenen Freund kann ich nicht freisprechen. Was hat es ihm gefrommt, das Träumen über seine Herkunft? Wo Verrat von allen Lippen quillt, flieht der Tüchtige in den Kreis fruchtbarer Neigungen. Aber Schwärmer hören nur sich selbst. Unschuldig, meine Beste, unschuldig ist nur Gott. Er gnade meiner Seele und der des edeln Caspar Hauser.« "

(Jakob Wassermann: Caspar Hauser, Kapitel 25)


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