Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius
Erster Teil
Die Kostbarkeit des Lebens
Erstes Kapitel
1
"Schon ehe der Mann mit der Kapitänsmütze aufgetaucht war, hatte sich eine vorahnende Beunruhigung an dem Knaben Etzel gezeigt. Vielleicht war der Brief mit dem Schweizer Poststempel die Ursache. Von der Schule nach Hause kommend, hatte er den Brief auf dem Spiegeltisch im Flur liegen sehen. Er nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn aufmerksam mit seinen kurzsichtigen Augen. Die Schriftzüge berührten ihn wie etwas Vergessenes, das man nicht an seinen Ort bringen kann. Wie geheimnisvoll das war, ein verschlossener Brief! Herrn Oberstaatsanwalt Wolf Freiherrn von Andergast, lautete die Adresse, geschrieben in einer runden raschen Schrift, die gleichsam auf Rädern lief. »Was mag das für ein Brief sein, Rie?« wandte er sich an die Hausdame, die aus der Küche trat. Er nannte Frau Rie seit seinen Kinderjahren kurzweg Rie. Sie war schon über neun Jahre im Haus und ihm so vertraut, wie eine Frau es sein kann, die den Platz der Mutter einzunehmen berufen ist und ihn in allen äußeren Dingen auch ausfüllt. Es sei bei dieser Gelegenheit gleich erwähnt, daß Herr von Andergast seit neuneinhalb Jahren geschieden war; die drakonischen Scheidungsbedingungen verpflichteten die Frau, sich von ihrem Kinde fernzuhalten, sie durfte ihn weder sehen noch ihm schreiben; selbstverständlich war es auch ihm verboten, ihr zu schreiben, und niemand durfte in seiner Gegenwart von ihr sprechen. So wußte der nun Sechzehnjährige nichts von seiner Mutter, der im Hause herrschende Geist hatte sogar den Antrieb erstickt, nach ihr zu fragen, man hatte ihm nur vor langer Zeit einmal beiläufig gesagt, als handle es sich um eine gleichgültige, fremde Person, sie lebe in Genf und könne aus Gründen, die er als erwachsener Mensch erfahren werde, nicht zu ihm kommen. Damit hatte er sich zufrieden gegeben, weil er sich zufrieden geben mußte. Ob er sich nicht heimlich mit der Sache beschäftigte, war bei der Verschlossenheit, die er in allem zeigte, was sein inneres Leben betraf, nicht zu ergründen. Er hatte zu schweigen gelernt, da er die Unübersteiglichkeit der Schranken kannte, die in einem Fall wie diesem der Wißbegier gesetzt waren. Je mehr auf ihn eindrang, das seine Anteilnahme heischte, je beherrschter glaubte er sich geben zu sollen. So wie die Frage an Frau Rie etwas hinterhältig geklungen hatte, war es bei allem, was er erfahren wollte: er stand im Hinterhalt, und seine kurzsichtigen Augen beobachteten Vorgänge und Personen mit gespannter Aufmerksamkeit.
Die Rie hatte den Brief noch nicht gesehen. Sie nahm ihn dem Knaben aus der Hand, beschaute ihn prüfend, zwang sich zu einer unbefangenen Miene und sagte: »Das geht deinen Vater an, kümmer dich nicht. Dein Butterbrot steht drin auf dem Tisch. Man kümmert sich nicht um Briefe, die einem nicht gehören.«
»Gott, wie langweilig du bist, Rie«, erwiderte der Knabe, »du denkst doch nicht, daß ich nicht weiß, von wem der Brief ist? Kommen öfter solche? Schreibt sie öfters?«
Die Rie stutzte und betrachtete verwundert das zu ihr erhobene energische Gesicht des Knaben. »Meines Wissens nicht«, murmelte sie verlegen, »meines Wissens ist es das erste Mal.« Und wieder schaute sie in das schmale, blasse, intelligente Gesicht und senkte scheu den Blick, so daß er nur noch die zarte, kleine Gestalt von den Schultern abwärts umfaßte. [...]"
(Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius, Erster Teil Die Kostbarkeit des Lebens1. Kapitel)
Viertes Kapitel
1
(Denselben Abend und am folgenden Sonntag den Nachmittag und Abend verbrachte Etzel mit der Lektüre der verjährten Zeitungsartikel. Er sagte sich: ich prüfe, und blieb kühl wie ein mäßig neugieriger Zuschauer. Da es sich um Zeitungsschreiberei handelte, war er doppelt auf der Hut. Es hatte alles den Geschmack von Roman. Er liebte im allgemeinen Romane nicht. Gelehriger Schüler Melchior Ghisels, unterschied er scharf zwischen Gedicht und Vision und der von einem Zweckwillen vergewaltigten Wirklichkeit. In dieser Beziehung war er nüchtern bis zur Gefühllosigkeit. Daher war ihm das novellistisch aufgeschmückte Tagesereignis ein Greuel. Gespensterhaft, achtzehn Jahre später angesehen, eine geschminkte Leiche, die tanzt. Viele einzelne Züge blieben davon unberührt, sie entsprachen der Wahrheit der Natur, der keine Zurichtung etwas anhaben kann.
In den nächsten Tagen – es lag noch eine ganze Ferienwoche vor ihm – entfaltete er eine heimliche Geschäftigkeit, die in dem Bestreben wurzelte, sich neue Nachrichten und Anhaltspunkte zu verschaffen, Stützen für die Erzählungen des alten Maurizius, deren subjektive Beschaffenheit unverkennbar war, Bestätigung jener Zeitungsberichte, insofern er sie, nach der einen oder der andern Seite, im Verdacht der Übertreibung und Verzerrung hatte. Aber wo solche Stützen, solche Bestätigungen suchen? Und wenn er sie fand, was berechtigte ihn, sie für verläßlicher zu halten, als was er bisher erfahren hatte? Er traute dem Gedächtnis der Menschen nicht. Er wußte aus Instinkt, daß jede Wahrheit vergessen wird, um einer angenehmen Illusion Platz zu machen. Das war es ja, was ihm die tiefe Abneigung gegen die Geschichte einflößte. Er mußte immer lächeln, wenn alte Leute aus ihrer Vergangenheit etwas zum besten gaben. Es war so ergötzlich, so leicht zu sehen, wie sie »dichteten« und wieviel mehr Vergnügen ihnen das halb Gelogene bereitete als das ganz Wahre, von dem sie vermutlich gar nichts mehr wissen wollten. Der einzige Mensch, der ihm bei seinen Nachforschungen hätte behilflich sein, ihn über die Anfangszweifel hätte erheben können, war sein Vater. Aber der bloße Gedanke war absurd, ihn, ihn darum zu bitten. Niemals würde Trismegistos die Berechtigung auch nur einer Frage anerkennen, die veilchenblauen Augen würden verwundert gefrieren unter dem Eindruck ungehöriger Dreistigkeit. So blieb nichts übrig, als in der Stille zu sammeln und das Gesammelte zu sieben und zu vergleichen. Die Rie hatte einen Bekannten, der ein- oder zweimal wöchentlich zu ihr kam, einen Kanzleirat Distelmayer, der lange Jahre bei Gericht gewesen und seit dem Krieg pensioniert war, ein Mann, dem es schlecht ging, weil er wie alle auf Ruhegehälter gesetzten Beamten kaum das tägliche Brot hatte. Die Rie hob immer das Mittagessen für ihn auf, wenn er sich angesagt hatte; dann begann jedesmal das nämliche Spiel: er lehnte die Einladung mit den entschiedensten Ausdrücken ab, behauptete, soeben erst eine ausgiebige Mahlzeit zu sich genommen zu haben, gab dann, scheinbar ermüdet durch das Zureden, nach und verzehrte schließlich, was ihm aufgetragen wurde, Suppe, Fleisch, Gemüse, Torte, mit Stumpf und Stiel und jammervoll ersichtlicher Genugtuung. Bisweilen trat Herr von Andergast in den Flur, wenn jener gerade kam oder ging. Da verbeugte sich der Kanzleirat mit einer Devotion, die dem zuschauenden Etzel widrig war, indes Herr von Andergast sich leutselig bezeigte, dem Kanzleirat mit zwei Fingern auf die Schulter klopfte und fragte, wie man unter Kollegen fragt: »Nun, wie geht's, wie steht's, mein guter Distelmayer?« Obwohl Etzel wenig Hoffnung hegte, von dem etwas geschwätzigen Männlein Dienliches zu erfahren, machte er den Versuch; er spann ihn in seine Treuherzigkeiten ein, deren Wirkung auf die Erwachsenen er erprobt hatte, er ließ sich herab zu ihm, und das war eine andere Herablassung als die des Herrn von Andergast, schon daraufhin angesehen, daß ein sehr junger Mensch von geistigem Stolz sich herablassen muß, wenn er es mit so verbrauchten und gedrückten Personen von der Art des Kanzleirats zu tun hat; er stellte das Gespräch zuerst auf Scherz ein, erlaubte dem Alten, um ihn zutraulich zu machen, kleine Neckereien, kleine, platte Anzüglichkeiten, wie sie bejahrte Leute gegen Knaben gern äußern, gab der Unterhaltung dann ohne Mühe die Richtung ins Ernsthafte, ließ von ungefähr den Namen Maurizius fallen, sah, daß der Kanzleirat aufmerksam wurde, erzählte, daß ihm jemand viel von der Sache erzählt habe, daß er sich dafür interessiere, daß es zwischen ihm und einem Freund darüber zu Diskussionen gekommen sei. Der betreffende Freund sei nämlich ein entfernter Verwandter der Familie Jank, oder nein, wie habe sie nur geheißen, der Name sei ihm entfallen, vielleicht erinnere sich der Herr Kanzleirat, Familie der Frau, der Schwester von Maurizius' Frau . . . Der Name war ihm keineswegs entfallen, er wollte nur dem Kanzleirat auf den Zahn fühlen, und richtig nannte dieser gleich den Namen, es zeigte sich, daß er über Erwarten gut Bescheid wußte, da er sich seinerzeit angelegentlich mit dem Prozeß befaßt hatte. Etzel wollte nur von Anna Jahn hören, und zwar von ihrem Leben nach dem Abschluß des kriminellen Dramas; er hatte dabei etwas ganz Bestimmtes im Auge. In der Tat war Distelmayer imstande, seine Wißbegier zu befriedigen, es war eine Liebhaberei von ihm, sich mit dem Privatleben der Leute zu beschäftigen, die einmal im Zentrum des öffentlichen Interesses gestanden und einen »Fall« gebildet hatten; viele gerichtliche Funktionäre haben diese Neigung, die sich aus dem Hang zur Schnüffelei und dem Reiz zusammensetzt, den ungelöste Rätsel ausüben. Distelmayer hatte den Prozeß Maurizius sogar schriftstellerisch verwertet, halb war er befremdet, halb schmeichelte ihm die lebhafte Anteilnahme des jungen Barons (er sprach ihn stets mit Nachdruck als »Herr Baron« an, was Etzel abgeschmackt erschien, ohne daß er es wagte, den würdigen Mann durch Abwehr zu verstimmen). Nicht weniger geschmeichelt war die Rie, sie saß die ganze Zeit dabei und hatte nicht genug Augen und Ohren für die Aufgewecktheit, Weltkenntnis und Konversationsgabe ihres Etzel; in solchen Momenten reklamierte sie ihn mit besonderem Stolz als den Ihren, ihr Eigentum, Frucht ihrer Umsicht, und sie tauschte mit dem Kanzleirat verstohlene Blicke, um ihn zur Bewunderung aufzufordern. Etzel beobachtete es und fühlte die Lächerlichkeit der Situation; aber was kümmerte ihn das, da doch seine Bemühungen von Erfolg gekrönt wurden. Er sah nur wieder einmal, daß auf geradem Weg von keinem Menschen was zu erreichen war, auch vom harmlosesten nicht, man mußte jeden überlisten und über das, was man von ihm haben wollte, hinters Licht führen, es war immer eine Fallenstellerei.
Also Anna Jahn. So hieß sie längst nicht mehr. [...]"
((Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius, 1. Teil, 4. Kapitel)
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