11 Juni 2023

Antoine de Saint-Exupéry: Bekenntnis einer Freundschaft

 Nach dem Waffenstillstand in Frankreich 1940 ging Antoine de Saint-Exupéry nach Portugal und schiffte sich von dort nach den USA ein. Später hat er dann von Algier aus als Beobachtungsflieger sich wieder in den Kampf um die Befreiung des französischen Mutterlandes eingereiht.

Aus Amerika schrieb er 1941 diesen Freundesbrief an Léon Werth, den alten Jugendfreund, dem auch »Der Kleine Prinz« gewidmet wurde.

I

Als ich im Dezember 1940 durch Portugal reiste, um mich nach den Vereinigten Staaten zu begeben, erschien mir Lissabon als ein lichtes und zugleich trauriges Paradies. Man sprach damals viel von einer drohenden Invasion; Portugal klammerte sich krampfhaft an die Illusion seines Glücks. Lissabon, das die bezauberndste Ausstellung der Welt aufgebaut hatte, lächelte das etwas blasse Lächeln jener Mütter, die von ihrem Sohn im Felde keine Nachricht haben und nun versuchen, ihn durch ihr Vertrauen zu schützen: »Mein Sohn lebt noch, da ich lächle …«

»Schaut her«, so sagte Lissabon, »wie glücklich ich bin, wie friedlich, wie gut beleuchtet! …« Der ganze Kontinent stand drohend um Portugal, gleich einem wilden Gebirge voll räuberischer Stämme; Lissabon, das festliche Lissabon, trotzte: »Kann man mich zur Zielscheibe machen, da ich mir so viel Mühe gebe, mich nicht zu verstecken! Da ich so verwundbar bin!«

Die Städte meiner Heimat waren des Nachts aschfarben. Ich war bei ihnen auch nicht einen Schimmer mehr gewöhnt, und diese strahlende Hauptstadt bereitete mir ein leises Übelsein. Wenn die Vorstädte finster werden, ziehen die Diamanten einer allzu grell erleuchteten Auslage die Strolche an; man spürt, wie sie sie umkreisen. So fühlte ich um Lissabon die Nacht Europas lasten, von Bombern durchstrichen, als hätten sie den glitzernden Schatz von weitem gewittert.

Aber Portugal ignorierte die Raublust des Ungeheuers; es weigerte sich, an die bösen Zeichen zu glauben. Portugal plauderte über Kunst mit einer verzweiflungsvollen Grimasse von Vertrauensseligkeit. Wird man wagen, es zu zerschmettern, während es sich der Kunst annimmt? Es hatte alle seine Wunder zur Schau gestellt. Würde man wagen, es inmitten seiner Wunder zu zerschmettern? Es zeigte seine großen Männer. In Ermangelung einer Armee, in Ermangelung von Kanonen hatte es gegen das Arsenal des Eroberers alle seine marmornen Schildwachen aufgeführt: die Dichter, die Forscher, die Conquistadoren. Die ganze Vergangenheit Portugals verbarrikadierte die Straße – in Ermangelung einer Armee und ihrer Kanonen. Würde man wagen, es inmitten des Erbes einer großartigen Vergangenheit zu zerschmettern?

So irrte ich jeden Abend voll Schwermut durch den Triumph dieser Ausstellung äußersten Geschmacks, wo alles an die Vollendung zu streifen schien, bis zu der diskreten Musik, die, mit so viel Takt gewählt, sich sanft in die Gärten ergoß, ohne Lärm, wie das einfache Lied eines Brunnens. Konnte die Welt darauf aus sein, dieses wunderbare Gefühl für das Maß zu zerstören?

Und ich fand Lissabon in seinem Lächeln trauriger als meine erloschenen Städte.

Ich kenne, und vielleicht kennen auch Sie jene etwas sonderbaren Familien, die an ihrem Tisch einem Toten den Platz freihalten. Sie leugnen das Endgültige. Aber nie schien mir dieser Trotz ein Trost zu sein. Tote mußte man dem Tode lassen. Dann wird ihnen, in der Rolle des Totseins, eine andere Form des Daseins zuteil. Jene Familien aber verzögerten ihre Wiederkehr. Sie machten ewig Abwesende aus ihnen, Tischgenossen, die zu spät daran sind für die Ewigkeit. Sie vertauschten die Trauer für ein leeres Warten. Diese Häuser schienen mir in ein hoffnungsloses Unbehagen getaucht, das ganz anders würgt als der Kummer. Um den Flieger Guillaumet, den letzten Freund, den ich verlor und der im Dienste der Flugpost umkam, mein Gott! da hab ich die Trauer auf mich genommen. Guillaumet wird sich nie mehr verändern. Er wird nie mehr da, aber auch nie mehr fort sein. Ich habe sein Gedeck von meinem Tische weggeräumt, diese überflüssige Schlinge, ihn zu fangen, und habe aus ihm einen richtigen toten Freund gemacht.

Aber Portugal zwang sich, an das Glück zu glauben, indem es ihm sein Gedeck ließ, seine Lampions und seine Musik. Man spielte sich in Lissabon ein vermeintliches Glück so intensiv vor, als könne man es Gott selber glaubhaft machen.

Lissabon verdankte seine Atmosphäre der Trauer auch der Anwesenheit gewisser Flüchtlinge. Ich spreche nicht von den Geächteten auf der Suche nach einem Asyl, ich spreche nicht von Emigranten, die nach einem Stück Erde suchen, um es durch ihre Arbeit fruchtbar zu machen. Ich spreche von jenen, die sich aus dem Elend der Ihrigen davonmachten, um ihr Geld zu retten.

Ich hatte in der Stadt kein Quartier gefunden und wohnte in Estoril in der Nähe des Kasinos. Ich kam aus einem unerbittlichen Krieg: meine Staffel hatte durch neun Monate ohne Unterbrechung Deutschland beflogen und im Laufe der deutschen Offensive drei Viertel ihres Bestandes eingebüßt. Zurückgekehrt, hatte ich die unheimliche Atmosphäre der Versklavung und die Drohung des Hungers kennengelernt, hatte die stockfinstere Nacht unserer Städte erlebt. Und siehe! Zwei Schritt von mir füllte sich das Kasino von Estoril jeden Abend mit Gespenstern. Lautlose Cadillacs, die so taten, als führen sie weiß Gott wohin, setzten sie auf dem feinen Sand der Auffahrt ab. Sie hatten sich für das Dinner gekleidet wie ehemals. Sie zeigten ihr Plastron und ihre Perlen. Sie hatten sich gegenseitig zu den Mahlzeiten von Statisten geladen und wußten einander nichts zu sagen … Dann spielten sie Roulette oder Baccarat, je nach ihrem Vermögen. Ich sah sie mir manchmal an. Ich empfand weder Entrüstung noch das Gefühl von Ironie, wohl aber eine unbestimmte Bangigkeit. Etwa jene, die uns im Zoo vor den Nachzüglern einer ausgestorbenen Gattung überkommt. Sie setzten sich um die Tische. Sie drängten sich um einen kalten, würdig steifen Croupier und mühten sich ab, Hoffnung, Verzweiflung, Angst, Gier und Jubel zu empfinden. Wie Lebende. Sie spielten mit Vermögen, die vielleicht in derselben Minute jede Bedeutung verloren hatten. Sie benützten Münzen, die vielleicht nichts mehr galten. Die Wertpapiere in ihren Kassen waren möglicherweise Papiere von Unternehmungen, die bereits beschlagnahmt waren oder die, von feindlichen Bomben bedroht, eben jetzt zertrümmert und zerstört wurden. Sie zogen Wechsel auf den Sirius. Sich ans Vergangene hängend, zwangen sie sich, an die Rechtmäßigkeit ihres Fiebers, an die Deckung ihrer Schecks, an die Ewigkeit ihrer Formen zu glauben, als hätte es auf dieser Welt nicht zu einer bestimmten Stunde zu krachen angefangen. Es war unwirklich. Es wirkte wie ein Puppenballett. Aber es war traurig. Zweifellos empfanden sie nichts dabei. Ich verließ sie. Ich ging an das Ufer des Meeres, um Atem zu holen. Und dieses Meer von Estoril, das Meer eines Seebades, ein gezähmtes Meer, schien mitzutun bei dem Spiel. Es schob sich in den Golf, eine einzige weiche Woge, ganz silberig vom Mond, die Schleppe eines unzeitgemäßen Kleides.

Ich fand meine Flüchtlinge auf dem Dampfer wieder. Dieses Schiff, ja auch dieses Schiff erzeugte eine leichte Beklemmung. Dieses Schiff brachte lauter Gewächse ohne Wurzeln von einem Kontinent zum andern. Ich sagte mir: »Ich will gern ein Wanderer sein, aber ich will kein Emigrant sein. Ich habe zu Hause so viele Dinge gelernt, die anderswo unnütz wären.« Da zogen meine Emigranten kleine Notizbücher aus der Tasche; sie bildeten die letzten Reste ihrer Identität. Sie taten noch so, als seien sie wer. Sie hefteten sich mit allen ihren Kräften an irgendeine Bedeutung. »Sie wissen, ich bin der und der«, sagten sie, »ich bin aus jener Stadt …, der Freund eines gewissen …, kennen Sie einen gewissen …?« Und sie erzählten einem die Geschichte eines Kumpans, die Geschichte irgendeiner Verantwortlichkeit, die Geschichte einer Verfehlung oder eine andere x-beliebige Geschichte, nur um an irgend etwas Anschluß zu finden. Aber nichts von all dem Vergangenen konnte ihnen helfen, da sie ihr Vaterland verlassen hatten. Es war noch ganz warm, ganz frisch, ganz lebendig, wie es anfangs die Erinnerungen der Liebe sind. Da macht man ein Päckchen aus zärtlichen Briefen. Man fügt ein paar Andenken dazu. Man knüpft alles sorgfältig zusammen. Und anfangs entströmt solchen Reliquien ein melancholischer Zauber. Dann geht eine Blonde mit blauen Augen vorbei, und die Reliquie stirbt. Denn auch der Kumpan, die Verantwortlichkeit, die Geburtsstadt, die Erinnerung an Zuhause verblassen, wenn sie zu nichts mehr nütze sind. Sie fühlten es wohl. So wie Lissabon sich das Glück vorspielte, so spielten sie sich den Glauben vor, bald wieder zurückzukehren. Sie ist ja so süß, die Fremde des verlorenen Sohnes! Es ist eine unechte Fremde, da noch immer das Vaterhaus wartet. Ob man nun ins Nebenzimmer gegangen ist oder auf die andere Seite der Erdkugel: der Unterschied ist unwesentlich. Die Anwesenheit des Freundes, der sich dem Anschein nach entfernt hat, kann fühlbarer werden als seine wirkliche Gegenwart. Es ist jene des Gebetes. Nie habe ich mein Zuhause mehr geliebt als in der Sahara. Nie sind Verlobte ihren Bräuten näher gewesen als die bretonischen Matrosen des XVI. Jahrhunderts, als sie das Kap Horn umsegelten und hinwelkten vor der Mauer undurchdringlicher Winde. Schon vom Augenblick der Abreise an begannen sie heimzukehren. Es war ihre Heimkehr, die sie ins Werk setzten, wenn sie mit schweren Händen die Segel hißten. Der kürzeste Weg vom Hafen in der Bretagne bis zum Hause der Geliebten ging über Kap Horn. Aber meine Emigranten erschienen mir wie bretonische Seefahrer, denen man die bretonische Braut fortgenommen hatte. Keine bretonische Braut zündete für sie im Fenster ihre demütige Lampe an. Sie waren nicht verlorene Söhne. Sie waren verlorene Kinder ohne ein Haus der Heimkehr. Dann erst fängt die wahre Reise an, die Reise aus sich selbst heraus.

Wie sich wiederherstellen? Wie sich die schweren Strähnen der Erinnerungen noch einmal flechten? Dieses Gespensterboot war mit ungeborenen Seelen beladen wie der Vorhimmel. Die einzig Wirklichen – so wirklich, daß man sie gerne mit der Hand berührt hätte – waren diejenigen, die zum Schiffe gehörten und die eine wirkliche Tätigkeit adelte, da sie Tabletts trugen, das Kupfer blank putzten, Stiefel wichsten und mit einer gewissen Herablassung die Leblosen bedienten. Nicht die Armut trug den Emigranten die leise Verachtung des Personals ein. Es fehlte ihnen nicht an Geld, sondern an Gewicht. Es waren nicht mehr Menschen aus einem bestimmten Haus, mit bestimmten Freunden, mit einer bestimmten Verantwortung. Sie spielten die Rolle, aber es war nicht mehr wahr. Niemand brauchte sie, niemand war genötigt, sich an sie zu wenden. Welch ein Wunder ist das Telegramm, das dich durcheinanderrüttelt, dich zwingt, mitten in der Nacht aufzustehn, dich zum Bahnhof jagt: »Komm schnell! Ich brauche Dich!« Leicht finden wir Freunde, die uns helfen; schwer verdienen wir uns jene, die unsere Hilfe brauchen. Gewiß, niemand haßte meine Emigranten, niemand beneidete sie, niemand belästigte sie. Aber niemand liebte sie mit der einzigen Liebe, die zählt. Ich sagte mir: Sie werden gleich nach ihrer Ankunft zu Willkommcocktails und zu Trostdinners geladen werden. Aber wer wird an ihrer Türe rütteln und Einlaß begehren: »Öffne! Ich bin's!« Man muß ein Kind lange an der Brust gehabt haben, bis es Forderungen stellt. Man muß sich lange eines Freundes annehmen, ehe er nach der Freundschaft verlangt, die man ihm schuldet. Man muß sich durch Generationen damit zugrunde gerichtet haben, das alte, baufällige Schloß zu retten, um es lieben zu lernen.

II

Ich sagte mir also: »Das Wesentliche ist, daß das, wovon man gelebt hat, irgendwo weiterbesteht. Und die Gewohnheiten. Und das Familienfest. Und das Haus der Erinnerungen. Das Wesentliche ist, daß man für die Rückkehr lebt.« Und ich fühlte mich bis in den Kern meines Wesens hinein durch die Hinfälligkeit der fernen Pole bedroht, von denen ich abhing; ich riskierte, eine richtige Wüste kennenzulernen, und begann ein Geheimnis zu verstehen, auf das ich schon lange neugierig gewesen war.

Ich habe drei Jahre lang in der Sahara gelebt. Wie so viele andere habe ich über ihren Zauber nachgedacht. Jeder, der das Leben in der Sahara, wo alles nur Armut und Einsamkeit zu sein scheint, kennengelernt hat, weint diesen Jahren als den schönsten des Lebens nach. Die Worte »Heimweh nach dem Sande, Heimweh nach der Einsamkeit, Heimweh nach dem Raume« sind nur literarische Formeln und erklären nichts. Aber dort an Bord eines Dampfers, der von sich drängenden Passagieren wimmelte, schien es mir zum erstenmal, daß ich die Wüste verstand.

Gewiß, die Sahara ist unabsehbar weit, nur eintöniger Sand – oder genauer, da die Dünen selten sind – ein kieselreicher Strand. Man badet da dauernd im Wesen der Langweile selbst. Indessen bauen ihre unsichtbaren Gottheiten ein Netz von Richtlinien, Neigungen und Zeichen, eine geheimnisvolle und lebendige Muskulatur. Es gibt keine Einförmigkeit mehr. Alles nimmt Richtung an. Keine Stelle gleicht mehr der andern. Es gibt eine Stille des Friedens, wenn die Stämme versöhnt sind, der Abend wieder seine Frische spendet und einem zumute ist, als halte man in einem stillen Hafen mit eingezogenen Segeln Rast. Es gibt eine Stille des Mittags, wenn in der Sonne Gedanken und Bewegungen aussetzen. Es gibt eine falsche Stille, wenn der Nordwind innehält und das Auftauchen von Insekten, die den Oasen des Innern wie Blütenstaub entwehen, den sandführenden Oststurm ankündigt. Es gibt eine Stille der Verschwörung, wenn man von einem entfernten Stamme weiß, daß es in ihm gärt. Es gibt eine geheimnisvolle Stille, wenn sich zwischen den Arabern ihre verschwiegenen Beziehungen anknüpfen. Es ist gespannte Stille, wenn sich die Rückkehr des Boten verzögert.

Eine zugespitzte Stille, wenn man nachts seinen Atem anhält, um zu lauschen. Eine schwermütige Stille, wenn man sich an die erinnert, die man liebt. Alles wird Pol. Jeder Stern bedeutet eine wirkliche Richtung. Es sind alles Sterne der drei Weisen. Sie dienen alle ihrem eigenen Gott. Dieser da bezeichnet die Richtung eines entfernten, schwer erreichbaren Brunnens. Und was dich von diesem Brunnen trennt, ist so gewichtig wie ein Wall. Jener bezeichnet die Richtung eines versiegten Brunnens. Der Stern selbst sieht nach Trockenheit aus. Und was dich von dem versiegten Brunnen trennt, ist kein lockender Hang. Ein anderer Stern dient als Führer zu einer unbekannten Oase, von der dir die Nomaden gesungen haben, die dir aber des Krieges wegen versperrt ist. Und der Sand, der dich von der Oase trennt, ist eine Märchenwiese. Dieser bezeichnet die Richtung einer weißen Stadt im Süden, einer köstlichen, scheint es, köstlich wie eine Frucht, in die man die Zähne schlägt. Und jener die Richtung des Meeres.

Und schließlich wirken von weither die Kräfte fast irrealer Pole wie Magnete in dieser Wüste: ein Haus der Kindheit, das in der Erinnerung lebt. Ein Freund, von dem man nichts weiß, als daß es ihn gibt.

So fühlst du dich gespannt und belebt von dem Feld der Kräfte, die dich anziehen und abstoßen, dich treiben und dir widerstreben. So bist du gut gegründet, gut bestimmt, genau eingesetzt in den Mittelpunkt der Himmelsrichtungen.

Und da die Wüste keinerlei greifbaren Reichtum bietet, da es in ihr nichts zu sehen, nichts zu hören gibt, drängt sich die Erkenntnis auf, daß der Mensch zuvörderst aus unsichtbaren Anreizen lebt, denn das innere Leben, weit entfernt davon einzuschlafen, nimmt an Kräften zu. Der Mensch wird vom Geiste beherrscht. In der Wüste bin ich das wert, was meine Götter wert sind.

(Antoine de Saint-Exupéry, Gutenberg.de)


Sieh auch: 

Exupéry: Der kleine Prinz

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